Als Mama einmal unsichtbar war: Ein liebevolles Buch über ein ganz schweres Stück Zeit

Es braucht keine fantastischen Königreiche, Elfen und Einhörner, um das Leben als Kind aufregend und unbegreiflich zu machen. Kinder wissen das. Und werden doch meist mit Märchenbüchern und Fantasy abgespeist. Als läge das Unfassbare nicht direkt vor ihrer Nase. Und würde das Leben der kleinen Familie nicht von heute auf morgen völlig durcheinander bringen können. Zum Beispiel, wenn Mama krank wird.

Der Klett Kinderbuch Verlag fürchtet sich nicht vor solchen Geschichten. Im Gegenteil: In seinen Kinderbüchern wird das ganz gewöhnliche, aufregende Leben der Kinder lebendig. Ohne mahnenden Zeigefinger, ohne die schreckliche Moral alt gewordener Erwachsener, die verlernt haben, das Leben in seiner ganzen Unberechenbarkeit anzunehmen.

Und es kann jedem passieren. So wie Hennies Mama, die für Hennie natürlich der Mittelpunkt der Welt ist: „Um Mama geht es. Gerade, alle Tage, immer.“ Da können sich die Papas noch so anstrengen: Mama ist der Dreh- und Angelpunkt der Welt, in der kleine Kinder aufwachsen, ihr Fixstern, an dem sich der ganze Tag auffädelt. Und aus Henriettes Sicht natürlich das ganze Leben.

Wenn das Leben aus der Bahn gerät

Manchmal muss auch das erst einmal erzählt werden in einfühlsamen kurzen Texten und liebevoll gezeichneten Bildern, wie es Julia Rosenkranz und Nele Palmtag in diesem Buch tun. Wer diese innige Beziehung nicht versteht, erwartet Wunder von jungen Müttern – und guckt dann dumm, wenn es schlicht nicht funktioniert.

Nur dass es in Hennies Fall nicht die Arbeit ist, die ihre Mama aus dem Gleis wirft, sondern der Krebs, den der Arzt in ihrer Brust entdeckt hat. Ein Drama, das viele Frauen erleiden. Das aber auch für die betroffenen Kinder ein Drama ist. Denn jetzt ist nichts mehr wie zuvor. Auch wenn Hennie weiß, was mit Mama los ist, denn sie hat ihr alles erzählt über den Krebs und was nun kommt, wenn Mama sich in die Chemotherapie begibt und damit immer weiter aus Hennies Leben verschwindet.

Das mit dem unsichtbar ist ja keine Floskel. Kinder wollen das, was für sie ungemein wichtig ist, nicht aus dem Blick verlieren. Doch Hennies Mama wird immer stiller und kraftloser. Die Wörter wollen nicht mehr heraus. Wörterverstopfung. Und dann verschwinden auch noch Mamas Haare und Mama selbst, die geschwächt die Tage im Bett verbringt.

Wenn es um blanke Gefühle geht

Nichts ist mehr, wie es eigentlich sein soll. Und als dann wieder Tante Greta auftaucht, um Hennie vom Kindergarten abzuholen, explodiert die Wut. So wie das ist im Leben so eines kleinen Menschen. Alles ist Emotion. Was eigentlich auch bei den Großen so ist. Nur die zeigen es so selten. Sie wollen lieber alles „vernünftig“ regeln und in Worte fassen. Auch wenn es darum nicht geht.

Natürlich kulminiert die Geschichte. So wie solche Geschichten immer kulminieren im Leben. Denn wir sind – egal ob groß oder klein – nicht dazu gemacht, brav zu funktionieren wie Roboter. Was uns im Leben wirklich umtreibt, sind all die chaotischen Gefühle von Wut bis Freude, von Trauer bis Kuscheln. Und am Ende hilft auch nur das. Auch in dieser Geschichte, in der sich viele Kinder und Mamas wiedererkennen dürften, die das auch schon einmal erlebt haben. Und überlebt haben, was ja das Wichtigste ist: der Moment, in dem Mama langsam wieder Mama wird und aufhört zu verschwinden.

Vor allem weiß sie ja auch eines: Wenn Mama krank wird, werden alle krank, dann stimmt in der kleinen Familienwelt nichts mehr richtig. Und manchmal sind es sehr viele Tage, bis wieder ein Lächeln auftaucht und ein paar Haarstoppeln. Bis dahin braucht man ganz viel Kraft und Zuversicht. Irgendwie lernt das Hennie, die sich auch mit Tante Greta arrangiert. Sie wächst ja selbst wieder ein Stück. Und erlebt etwas, was zum Leben gehört. Auch wenn es anstrengend und beängstigend ist und es viel schöner wäre, wenn Mama gar nicht erst verschwinden würde.

Kleine Berührungen

Aber so leicht verschwindet so ein wichtiger Mensch nicht, schon gar nicht, wenn Hennie immer wieder ans Bett schleicht, um Mamas Hand zu drücken. Manchmal braucht es nur das, damit alle wissen: Mama ist da. Auch wenn sie jetzt unsichtbar ist. Manchmal muss man einander das einfach zeigen. Denn wer sich berührt, zeigt, dass alle noch da sind. Dass keiner verloren geht, solange alle einander wahrnehmen.

Was ja auch für so viele andere Situationen im Leben gilt, mit denen man am besten ganz früh lernt umzugehen. Denn was noch kommt im Leben, weiß keiner. Aber dass wir einander brauchen, das weiß man dann sehr bald, wenn man so etwas nicht nur erlebt, sondern auch zeigen kann, dass auch unsichtbare Mamas ganz und gar nicht unsichtbar sind.

Ein Buch eigentlich auch für alle, die sich oft nicht trauen zu zeigen, wie wichtig sie einander sind.

Julia Rosenkranz, Nele Palmtag „Als Mama einmal unsichtbar war“, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2023, 16 Euro.