Geht es nun weiter oder geht es nun nicht weiter? Pit Rampelt jedenfalls gibt sich zuversichtlich: „Die Reise mit ihm geht weiter.“ Gemeint ist Thomas Kirchner, der von 2006 bis 2020 die Drehbücher für die „Spreewaldkrimis“ geschrieben hat. Bis zum im Februar 2021 erstmals ausgestrahlten „Totentanz“, in dem Kirchners Hauptfigur Kommissar Krüger endgültig die Pensionierung in Erwähnung zieht. Eigentlich hat er genug von all diesen Toten.

Ein Ende, das sich schon 2017 abzeichnete in „Zwischen Tod und Leben“, in dem das Wohnmobil explodiert, in dem Krüger nun schon seit einigen Jahren haust – nicht wirklich heimisch im Spreewald, in dem er zusammen mit Kommissar Fichte ermittelt. Wozu es vielleicht nie gekommen wäre, wenn ZDF-Redakteur Pit Rampelt nicht die ersten Drehbücher von Thomas Kirchner auf den Tisch bekommen und ihn auf die Idee gebracht hätte, den Spreewald zum Schauplatz einer ungwöhnlichen und bis heute einzigartigen Krimi-Reihe im deutschen TV zu machen.

Gegen alle Widerstände, wie Pit Rampelt im Nachwort erzählt. Denn in der Mainzer ZDF-Hauptredaktion Fernsehspiel war der Vorschlag eine „DDR-Geschichte“ zu viel – und immer wieder gab es Widerstand gegen die komplexe und vielschichtige Handlung.

Die verschachtelte Erzählung sei zu anspruchsvoll und ginge am Publikum vorbei, hieß es sogar noch, als der erste Film fertig war. Und dann wurde er zum Straßenfeger, lockte auf Anhieb über 6 Millionen Zuschauer vor den Fernsehapparat. Was so einiges darüber erzählt, warum das deutsche Fernsehprogramm für gewöhnlich so einfältig und eindimensional ist, die meisten Tatorte stinklangweilig und platt in ihrer Aussage. Für ein Publikum gedacht, das aus Sicht der Entscheider augenscheinlich zu doof ist für anspruchsvolle Filmhandlungen.

Es geht schon lange nicht mehr um die DDR

Aber auch das mit der „DDR-Geschichte“ stößt einem zunehmend auf, wenn man Drehbuch um Drehbuch aus Kirchners Feder liest. Etliche seiner Figuren haben natürlich eine DDR-Vergangenheit. Und da und dort brodelt Unbewältigtes aus dieser grauen Vorzeit auch in die Handlung hinein. Aber hier geht es nicht um die DDR. Gerade im letzten Teil existiert sie quasi nur noch als kleines Museum, in dem die Relikte der Vergangenheit bunt durcheinander gesammelt sind.

Dorthin verschlägt es Krüger in einem Seitenstrang der Ermittlung, die – eigentlich wieder einmal – zeigt, dass es letztlich die ganz normalen Triebkräfte des heutigen Deutschland sind, die die Bewohner der kleinen Orte im Spreewald zu Mördern werden lassen.

Es geht um Gier, Neid, Betrug, Rachsucht. Im Grunde die ganze Klaviatur biblischer Todsünden, die in unserer heutigen Gesellschaft allesamt ein doppeltes Leben führen. Denn auf der einen Seite sind sie nach wie vor die Abgründe menschlichen Handelns, wenn die Vernunft ausgeschaltet ist und die Leidenschaften enthemmt sind. Und auf der anderen sind sie der Schlüssel zu allem, was diese 1990 über den Osten gekommene Gesellschaft als Erfolg begreift, feiert und verkauft.

Ein Osten, der sich selbst immer mehr verliert und in alten Traditionen versucht, so etwas wie Heimat und Verlässlichkeit zu suggerieren, auch wenn die jungen Leute längst entweder auf dem Absprung sind, um in den Westen oder die großen Städte zu gehen. Und die zurückbleiben, wissen mit sich und ihrem Leben nichts mehr anzufangen. Oder stecken in Perspektivlosigkeiten fest, weil mit der großen Transformation auch die Fabriken verschwunden sind und damit die Chancen auf respektable Jobs.

Wenn Identität zur Maske wird

Ganze Regionen versuchen nun, sich als neue, unverwechselbare Tourismus-Attraktion zu verkaufen. Aus dem Verschwinden der alten Identität wird ein Versuch, die Einsamkeit, das fehlende Funknetz, die Wildnis und gerade die Abwesenheit aller Zeichen moderner Wirtschaft als echtes Alleinstellungsmerkmal zu verkaufen. Und damit auch auszuverkaufen. Denn so werden alle Traditionen, Feste und Kostüme zur Maskerade. Eine Maskerade, die – auch in munteren Video-Schnipseln im Internet – nicht verbergen kann, dass dahinter jede Menge Einsamkeit lauert, Verdruss und Verbitterung.

Eine andere Verbitterung freilich, als sie Krüger empfindet, dem einer seiner Fälle ein neues Domizil in einem Bauwagen beschert. Ein Fall, in dem er wohl die wichtigsten Regeln eines unparteiischen Ermittlers einfach ignoriert hat und auf seine Weise Gerechtigkeit hergestellt hat. Eine Selbstermächtigung, die ihm sei Kollege Fichte richtig übel nimmt, der dann freilich im nächsten Fall merkt, wie viel ein gesetzestreuer Ermittler alles zerstören kann, wenn er sich strikt an alle Regeln hält.

Zwei Filme nacheinander, die letztlich zeigen, dass Thomas Kirchner immer ganz andere Motive hatte, diese verzwickten und uneindeutigen Fallermittlungen im Spreewald zu beschreiben.

Denn er macht mit seinem Ermittlergespann Krüger/Fichte etwas, was es zwar als Melodram auch in vielen banalen Tatort-Verfilmungen aus dem Westen der Republik gibt. Aber er zeigt mit seinem Krüger zugleich, dass ein guter Ermittler eben nicht nur rücksichtslos seine Fälle aufklärt. Auch nicht aufklären kann, wenn er kein Gespür für die Authentizität der Menschen entwickelt, mit denen er es zu tun bekommt. Da dürfte durchaus Simenons Maigret zur engeren Verwandtschaft gehören.

Auch die „Maigret“-Romane leben ja nicht davon, dass der Kommissar logisch und eiskalt den Täter überführt. Wobei man die meisten Schuldigen in Simenons Romanen auch gar nicht als Täter bezeichnen würde, so verstrickt sind sie in ihr Schicksal, so hilflos in ihrem Versuch, der Entlarvung zu entkommen. Gefangen in einem Leben, in dem es am Ende Verzweiflung oder einfach Unglück sind, die aus ihren Beschuldigte und Schuldige machen.

Einsame Wölfe

Das schimmert auch in etlichen Drehbüchern Kirchners durch. Und sein Kommissar Krüger weiß, dass er sich auch jedes Mal selbst verstrickt, wenn er sich auf die Menschen einlässt, die ihm bei seinen Ermittlungen begegnen. Und das passiert einem Mann, der eigentlich selbst nicht verstrickt sein will, den aber eine jahrelange Nähe, Liebe, Freundschaft mit der Ärztin Marlene verbindet, die sich ganz offensichtlich mehr wünscht von diesem Einzelgänger. Einsamer Wolf, könnte man sagen. Im vorletzten Film kommen ja nicht ganz überraschend etliche Wölfe vor – solche auf vier Beinen und solche auf röhrenden Motorrädern.

Und da ist man bei Kirchners Symbolwelt. Auch das muss die armen Begutachter im Mainz überfordert haben, wie sehr Kirchner mit dem Spreewald, seinen Wetterschauspielen, den alten Sagen und Märchen, Kostümen und eben tatsächlichen Symbolen spielt. So wie in „Zeit der Wölfe“ mit dem Wolfsmotiv. Unübersehbar, dass auch Krüger sich als einsamer Wolf fühlt – beim Rückzug in seinen einsamen Bauwagen genauso wie bei der Jagd nach dem Täter.

Nur dass diesen Wolf die Schuldgefühle plagen und ihm damit der sichere Instinkt des Ermittlers verloren zu gehen droht. Denn darf er noch ermitteln, wenn er Schuld auf sich geladen hat?

Und: Wo beginnt Schuld? Das ist das Hauptmotiv im letzten Teil, in dem ein junger Mann ausgerechnet in der Nacht eines ausgelassenen Umzugs durchs Dorf zu Tode kommt. Eines Dorfs, in dem die jungen Leute schon lange rar geworden sind und manche – wie der Tote – nur zu diesen seltenen Feierereignissen noch zurückkommen. Sie sind hin- und her gerissen zwischen einer als kalt empfundenen Welt im Westen, wo sie nicht Fuß fassen können, und einer als heil verklärten Heimat, die sich aber schon beim näherem Hinschauen als kaputt erweist.

Die Rückkehr in die alte Traditionen ist eigentlich nur noch Show für die Touristen. Tatsächlich bietet die Region kaum irgendwelche Perspektiven. Die Aggressionen liegen dicht unter der Oberfläche.

Die Schuld des Polizisten

Es ist nicht die alte Gesellschaft, die hier ihren grauen Schatten wirft. Es sind die Widersprüche der nach 1990 so gedankenlos übergestülpten schönen neuen Welt, in der jeder um sein Fortkommen kämpfen muss und es mehr Niederlagen als Siege gibt. Im Kleinen tobt sich aus, was im Großen verbockt und ignoriert wurde.

Eigentlich haben es Krüger und Fichte immer wieder mit Menschen zu tun, die so in ihrem Wahn und ihrer Selbstgerechtigkeiten verloren sind, dass man es eigentlich nicht aushalten würde. Wem soll man da noch trauen, wem glauben?

Und trotzdem merkt man, dass dieser Krüger zu ganz bestimmten Menschen, denen er bei seinen Ermittlungen begegnet, so etwas wie eine persönliche Beziehung entwickelt, die ihn dann zwangsläufig in emotionale und ganz persönliche Widersprüche verstrickt. Es geht Thomas Kirchner hier ganz eindeutig nicht einmal um den Osten. Oder so, wie man es schreiben müsste, wenn die großen Medien der Nation ehrlich wären: den „Osten“.

Es geht ihm um den menschlichen Anstand in dieser Gesellschaft, die eben schon ganz eindeutig nach denselben Gesetzen funktioniert wie der Westen, wo es Krüger auch nicht zum Aushalten fand. Kirchners Spreewald ist keine neue „Osten“-Projektion, sondern eine in Filme gepackte Suche nach Authentizität, die diesen Krüger über Jahre beschäftigt. Personen aus früheren Drehbüchern tauchen in späteren wieder auf. Auch in Rückblenden und Traumsequenzen. Krüger wird älter und wird dennoch das Gefühl nicht los, hier nie heimisch zu werden.

Immer lebt er irgendwie provisorisch, auf dem Sprung. Lässt auch Fichte nicht an sich herankommen. Was sich erst in den letzten beiden Filmen auflöst, in denen Kirchner dann deutlich wie niemals in den Filmen zuvor die Frage nach der Schuld diskutiert. Aber nicht in ausschweifenden Dialogen.

Leben mit Abgründen

Sein Held ist wortkarg. Für ihn müssen die Bilder sprechen, die wenigen Augenblicke, in denen er etwas aus seinem Inneren sichtbar werden lässt. Und damit ist er vielen der kaputten und zerrissenen Figuren ähnlich, gar verwandt, die ihm bei den Ermittlungen begegnen. Er versteht sie, weil er sich selbst nur zu gut kennt – samt den eigenen Abgründen.

Nur: Was wird aus diesen Menschen im Osten, wenn sie nicht lernen, über ihre Abgründe zu reden. Und nicht aufhören, den falschen Träumen anderer Leute nachzulaufen. Sich auf sich selbst besinnen und das, was sie eigentlich menschlich macht?

So ganz nebenbei hat die Reihe der „Spreewaldkrimis“ deutlich gemacht, woran es in diesem seltsam sprachlosen Osten tatsächlich fehlt. Und warum andere ständig darüber reden, die Betroffenen selbst aber keine eigene Sprache finden, sich lieber in die Versatzstücke und Kostüme der Vergangenheit flüchten. Eine Maskerade, die Krüger im letzten Fall beinah in die Irre geführt hätte. „Totentanz“ heißt dieser letzte Film aus der Reihe. Eine Totenmaske kommt auch darin vor. Aber eben nicht nur. Das Maskenmotiv dominiert den ganzen Fall – nichts ist so, wie es anfangs schien.

Schon gar nicht im Internet, wo der junge Mann, der am Ende tot auf dem Feld liegt, all seine Videoclips eingestellt hat und eine anonyme Community herumpöbelt, weil man das kann in diesen a-sozialen Netzwerken, wo sich jede Schäbigkeit hinter einem Pseudonym verstecken kann und selbst Verleumdungen und Aufrufe zur Gewalt ungesühnt bleiben, weil niemand diesen Raum der Rücksichtslosigkeit zu regulieren bereit ist.

Ein Raum, der große und kleine Ganoven schützt. Und es Ermittlern schwer macht, die tatsächlich Schuldigen zu finden.

Und es sind eben oft gar nicht die Täter, die allein schuldig sind. Und als Ermittler kommt Krüger um die Frage nach Schuld und Sühne auch nicht herum. Er kann dem nicht davonlaufen, nicht einmal ernsthaft an einen Berufswechsel denken. Marlene sagt es ihm direkt ins Gesicht: Das ist das, was er am besten kann.

Nur bleibt am Ende offen, ob er aufgibt und tatsächlich in Pension geht. Oder seinem Kollegen Fichte als bärbeißiger Vorgesetzter erhalten bleibt. Denn das ist der Brocken, den Menschen wie dieser Krüger zu tragen haben: Dass sie immer weiter machen müssen. Denn zu bösen Taten fähig sind viele. Aber der Gerechtigkeit ein klein wenig auf die Sprünge zu helfen, dazu braucht es Typen wie Krüger. Und von denen gibt es nicht viele.

Thomas Kirchner „Spreewaldkrimi. Drehbücher. Band III“, Verlag Sol et Chant, Letschin 2023, 28 Euro.

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