In ihrem ersten Kinderbuch โHinterhoftageโ war es das Kaninchen Hannibal, das fรผr jede Menge Aufregung sorgte. An der Aufregung um Mr. Orange ist Mr. Orange eher nicht schuld. Denn dass die Boa constrictor, mit der Oma Gabi jahrelang im Zirkus aufgetreten ist, in einem Glaskรคfig in der โWelt der Reptilienโ landete, hat sich Mr. Orange nicht ausgesucht. Und auch Oma Gabi nicht. Und wer muss das nun wieder alles in Ordnung bringen? Richtig: Princess, Omas Enkelin, die es aber dummerweise aufs Dorf verschlagen hat.
Wie das Leben so spielt und die Liebe. Und der Zoff in Familien. Was gerade dann besonders folgenreich ist, wenn diese Familien auch noch Zirkusfamilien sind, wo jeder auf jeden angewiesen ist. Erst recht in Zeiten, wo landesweit Kontaktbeschrรคnkungen verhรคngt sind und so ein kleiner Familienzirkus sofort ohne Publikum dasteht. Aber betteln? Nein. Das wรคre das Letzte, was Sergio tun wรผrde. Auch wenn der kleine Zirkus dann doch mit Pony und Lama in der Fuรgรคngerzone steht. Natรผrlich nur, um den โZirkus in die Stadtโ zu bringen.
Sergio ist der Onkel von Princess. Und irgendwie scheint Princess schuld daran zu sein, dass ihre Mama holterdipolter โ nach einem heftigen Streit mit Sergio โ ihre Sachen gepackt hat und mit Princess einfach aufs Dorf gegangen ist โ zu Der-Andi, dem der alte Bauernhof gehรถrt. Nur gibt es da keine Tiere. Eine verlassene Hundehรผtte erzรคhlt davon, dass auch Der-Andi mal einen Hund hatte. Obwohl Der-Andi komisch ist. Was will Mama von dem? Und warum lรคsst sie ihre ganze schรถne Karriere als Zirkusartistin sausen, um in der Bรคckerei im Dorf Brot und Brezeln zu verkaufen?
Diese seltsamen Erwachsenen
Man merkt, dass es ein bissi bayerisch zugeht in der Geschichte, die Anna Maria Praรler erzรคhlt. Was daran liegt, dass sie selbst aus Bayern kommt. Sie kennt also die Welt da unten, die sich wahrscheinlich nicht so sehr unterscheidet von unserer Welt hier oben. Auch nicht auf den Dรถrfern. Und die Welt der Kinder unterscheidet sich auch nicht so, wie das Erwachsene gern glauben. Auch wenn sie ganz anders ist.
Denn das merkt man schnell, wenn Anna Maria Praรler ihre Princess erzรคhlen lรคsst, dass Kinder viel aufmerksamer alles betrachten, was um sie herum vor sich geht, als die groรen Leute das so denken. Und wie sie sich natรผrlich immerfort Gedanken darรผber machen, ob das alles so richtig ist, was sie tun.
Denn sie sind kleine Weltentdecker, erkunden ihre Umwelt, probieren sich aus. Und testen auch die Erwachsenen aus, die gern so tun, als wรคren sie Herr der Sache. Obwohl sie โ wie Onkel Sergio, Emmis Papa oder Oma Gabi selbst verstrickt sind in ihre eigenen kleinen und groรen Affรคren. Und eben oft gar nichts mehr wirklich im Griff haben. Oft sogar genau dann, wenn sich Mรคdchen wie Princess unheimlich viele Gedanken machen darรผber, ob sie den ganzen Schlamassel vielleicht durch ihr eigenes Tun verursacht haben.
Obwohl sie es doch nur gut gemeint haben.
Worum geht es eigentlich im Leben?
Das kennt jeder. Und wer wirklich noch jung ist, weiร, was das fรผr verzwickte Gefรผhlslagen sind und wie schwer man das wieder hin gedeichselt bekommt. Erst recht, wenn die Groรen gar nicht richtig zuhรถren, weil sie immerfort mit irgendetwas anderem beschรคftigt sind und Kinder nicht ernst nehmen. Dann kommt eins zum anderen. Und am Ende sitzt Princess zusammen mit ihren beiden neuen Freunden Emmi und Son des Nachts in der โWelt der Reptilienโ fest, wo sie doch nur โ nachdem sie tapfer 150 Euro zusammengesammelt hat โ Mr. Orange zurรผckkaufen wollte.
Denn ohne ihre Boa wird Oma Gabi nie wieder froh. Das weiร Princess. Und eigentlich geht es in dieser ganz aus ihrer Perspektive erzรคhlten Geschichte nur darum.
Eine Geschichte, in der es am Ende richtig abenteuerlich wird. Sicher sehr reizvoll fรผr Filmemacher. Praรler ist ja auch Drehbuchautorin und kennt das Metier. Aber eigentlich geht es um ganz andere Dinge, um so schwierige Sachen wie Mitgefรผhl, Verstehen, Einfรผhlen. Und mรถglicherweise auch die Verunsicherungen, die besonders aufgeweckte Kinder erleben, die frรผh gelernt haben, Verantwortung zu รผbernehmen โ und das war bei Princess nicht nur das Ausmisten bei den Tieren, sondern auch ihr erster Auftritt im Zirkus am Trapez. Ein Moment, in dem sie lernen musste, ihre Angst zu รผberwinden und sich selbst zu vertrauen.
Etwas, wovor viel zu viele Elten ihre Kinder zu bewahren versuchen. Und dabei nicht merken, dass sie damit das Allerwichtigste blockieren, das, was Menschen zu eigenem Denken und Handeln bringt, sie zu Piloten ihres eigenen Lebens macht.
Die Sache mit den Tieren
Komisch, aber darum geht es tatsรคchlich in dieser Geschichte. Und eigentlich betrifft das auch Emmi und Son. Emmi besonders, die sich mit Princess beinah vรถllig zerstreitet, als es um die Frage geht, ob Tiere etwas im Zirkus zu suchen haben. Und was eigentlich tiergerechte Haltung ist. Fragen, die bei Princess an ganz tiefe Gefรผhle rรผhren, denn sie mag Tiere, vermisst sie sogar extrem, als sie auf dem alten Bauernhof von Der-Andi merkt, dass es hier gar keine Tiere (mehr) gibt.
Der-Andi hat seine eigene Geschichte, die Princess auch erst nach und nach kennenlernt. Das braucht alles seine Zeit, bis man Vertrauen aufbaut und Menschen zu akzeptieren beginnt. Noch so eine Geschichte in der Geschichte.
Und das alles erzรคhlt Anna Maria Praรler geradezu aufmerksam, sieht die fremde Welt des Dorfes ganz mit den Augen des Zirkusmรคdchens, das sich jetzt hier irgendwie zurechtfinden muss und mit seiner Aktion, Omas Boa wieder zurรผckzuholen, ein paar Dinge in Bewegung bringt โ und zu einer Lรถsung, die anfangs gar nicht zu erwarten war.
Deswegen ist die Unterzeile des Titels so sprechend: โMein Zirkus, das Dorf und ichโ. Denn es geht um jenen so verwirrenden und so schwer greifbaren Moment, in dem aus dem kleinen kindlichen Ich, das noch die ganze Welt einschlieรt, dieses selbstbewusste, manchmal nervende und eigensinnige Ich wird, das Eltern oft als so konfrontativ empfinden. Obwohl es so elementar ist fรผrs Leben, dass Kinder selbst erfahren, dass sie die Dinge gestalten kรถnnen, die um sie herum passieren. Und dass sie darin ernst genommen werden wollen.
Ein richtig lebendiges Buch also, das ein bisschen mehr erzรคhlt als das, was Princess in den Tagen passiert, als sie unverhofft auf dem Dorf landete. In einem Haus, was sie noch nie erlebt hat. Denn ihre Welt war bis jetzt immer der Zirkuswagen. Undenkbar ein Leben ohne die Lamas, die Ponys und Omas Dr. Orange. Und auch diese Geschichte schwingt mit: Was verlieren wir eigentlich, wenn der Zirkus tatsรคchlich verschwindet mit all seinem Zauber?
Ein Zauber, der besonders Son fasziniert, der schon immer davon trรคumte, in die Welt hinauszureisen โฆ
Anna Maria Praรler โRettet Omas Boa! Mein Zirkus, das Dorf und ichโ, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2023, 17 Euro.
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