Elmar Schenkel ist eigentlich Anglist, war Professor an der Uni Leipzig, ist Nietzsche-Kenner. Aber 2021 machte er mit seinem Buch „Unterwegs nach Xanadu“ ein Thema auf, das bis dahin eher etwas unbeobachtet in der europäischen Selbstwahrnehmung mitschwang. Denn die Europäer waren schon immer gut darin, ihre Traumreiche irgendwo in exotischen Fernen zu verorten. Und Asien war dabei immer besonders beliebt. Denn Asien ist ja riesengroß. Da passen viele Träume rein.
Was dann immer auch Folgen hatte für die europäische Wahrnehmung der Länder und Völker, denen man in Asien tatsächlich begegnete. Begegnungen voller Missverständnisse. Auch in der Aneignung asiatischer Religionen. Und gerade die Menschen, die sich besonders einbrachten als Asienerkunder und Brückenbauer, waren oft nicht ganz unschuldig an diesen Missverständnissen.
Auf der Suche nach Xanadu
Wenn man sich wie Schenkel länger und ernsthafter mit dem Thema beschäftigt, wird deutlich, dass ein Großteil dessen, was in Europa als Beschäftigung mit Asien stattfand in den vergangenen 200 Jahren, vor allem europäische Interpretation war. Sehnsucht nach einem ganzheitlichen Weltbegreifen, wie es Buddhismus, Yoga, Zen, Daoismus und indische Gurus verhießen. In immer neuen Wellen zogen Europäer und Amerikaner aus, um das esoterische Asien zu suchen und dann auch zu finden und quasi in ihrer Aneignung dessen, was sie in Asien verstanden zu haben glaubten, ihr ganz eigenes Asien im Westen zu erschaffen.
Es ist eine lange und oft genug einseitige Geschichte. Denn die Sicht der Europäer auf Asien war immer zwiegespalten – die Sehnsucht nach einer in der rationalen Kälte des modernen Kapitalismus nicht mehr auffindbaren Transzendenz ging immer einher mit der kolonialen Sichtweise der Europäer auf die anzueignenden Länder und Rohstoffe. Eine Haltung, die nicht wirklich verschwunden ist.
Wobei Schenkel auch in einigen Geschichten sichtbar macht, wie europäische Kultur in Asien rezipiert und manchmal auch bewundert wurde. Aber der Blick in die europäische Kulturgeschichte der letzten 200 Jahre zeigt, dass Asien in der Rezeption der Europäer eigentlich bis heute ein durch westliche Brillen interpretierter Kontinent geblieben ist. Man sieht und findet, was man sucht. Auch dann, wenn es – wie das sagenhafte Xanadu – gar nicht existiert.
Müller, Beatles, Kafka
Natürlich kann man sich fragen: Ist das nun nur eine einseitige Aneignung und Fehlinterpretation? Oder auch eine echte Bereicherung? Eine Frage, die sich natürlich nicht so einfach beantworten lässt. Auch wenn es europäische Forscher wie den Orientalisten Friedrich Max Müller gab, der heute in Indien viel bekannter ist als Goethe. Auch weil er mit seiner wissenschaftlichen Herangehensweise Indien und seiner Kultur deutlich näher gekommen ist als so viele Abenteuerlustige, die später aufbrachen, um auf dem Subkontinent neue Heilsversprechen zu finden – man denke nur an die Beatles.
Oder, wenn es um China geht, an Thimothy Leary und Hermann Hesse. Franz Kafka begegnet einem in diesem Büchlein, wie er bei Rudolf Steiner eine Antwort auf seine drängenden Fragen als Autor sucht – und bei Steiner nichts als eine euphorische Tirade auslöst. Was Kafkas Interesse gerade für die chinesische Philosophie nicht minderte.
Heute wird eben dieser Kafka in China mit Begeisterung gelesen, gerade weil er mit seinen Geschichten an Manches rührt, was etwa den Daoismus bis heute auch in China am Leben erhält. Ganz existenzielle Fragen, bis hin zu der nie vergehenden: Wie gibt man seinem Leben einen Sinn? Welches ist der (richtige) Weg?
Bei Schenkel werden all diese Ost-West-Begegnungen zu kleinen Anekdoten, Geschichten, die deutlich machen, dass es jedes Mal ein ganz persönliches Interesse war, das die Europäer antrieb, sich auf den Weg zu machen, ihre bohrenden Fragen irgendwo in Asien endlich beantwortet zu bekommen. Mal in Indien, mal in Japan, mal in China oder Tibet. Abenteurerinnen begegnet man genauso wie Romanautoren, die sich ihr Asien (oder das ihres Vaters) gleich komplett erfinden.
So manch Reisender musste sich hinterher dem Verdacht stellen, gar nicht da gewesen zu sein. So, wie es einst Marco Polo ging, der gar nicht der Erste war, der wirklich umfangreich über die Reiche im Osten berichtete.
Lost in Translation
Man lernt Russen auf der Suche nach Shambala kennen, Bolschewiken und Nazis, die ihre Vorstellungen einer durchherrschten Gesellschaft in Asien platzierten und gleich ganze Expeditionen ausrüsteten, um ihre wilden Fantasien bestätigt zu finden. Man trifft auch einen italienischen Journalisten kennen, dem es mit Berichten über das wirkliche China ernst war. Man sieht mit Pound, Brecht und Canetti drei Europäer, von denen jeder für sich bei Konfuzius völlig andere Dinge fand.
Und Schenkel muss es gar nicht weiter erklären: Die meisten, die dann in ihren Büchern mit asiatischen Erkenntnissen hausieren gingen, waren nie in Asien, schufen sich ihre eigene Fantasiewelt und zogen ihre Weisheit aus Übersetzungen, die selbst Interpretationen des originalen Textes waren. Und sich auch oft gründlich widersprechen, weil auch europäische Übersetzer nach Eindeutigkeiten suchten, die es in den ursprünglichen Texten so nicht gibt.
Womit Schenkel eben das streift, was bis heute für Missverständnisse und Fehlinterpretationen sorgt. Denn tatsächlich unterscheidet sich das Denken asiatischer Autoren meist gründlich von europäischen Ansprüchen an Rationalität und Eindeutigkeit. Die Suche nach Enideutigkeit ist dabei typisch und selbst meist das Problem. Da machen sich die Suchenden auf die Reise, um im Fernen Osten jene Transzendenz zu finden, die sie daheim vermissen, können aber mit dieser Transzendenz gar nichts anfangen, weil sie aus ihrer Haut nicht können und alles vereindeutigen wollen.
Sie werden also nicht erlöst. Auch nicht von den Gurus, die sie sich erschaffen und denen sie kritiklos zu Füßen liegen. Als müsste ihnen ein geheiligter Mann immerfort in Rätseln erklären, wie sie denken und fühlen sollen. Diese Ratlosigkeit hat sich nicht verflüchtigt. Sie ist immernoch da. Als Störung und als Bereicherung. Denn man kann Kafka, Hesse, LeGuin und Philip K. Dick lesen – man merkt in ihren Büchern, dass die Suche immer weiter geht und Anregungen aus Asien helfen, wenigstens ein paar Fragen zu stellen, die den Weg weisen.
Denn ganz unübersehbar entspringt die Beschäftigung des Westens mit Asien dem Gefühl, dass etwas fehlt. Etwas, was sich in der kalten und rationalen Welt der westlichen Gesellschaften nicht mehr finden lässt.
Begegnung mit dem Fremden
Nicht grundlos boomten die esoterischen Bewegungen Ende des 19. Jahrhunderts und bedienten sich an den Religionen Asien munter und ausgiebig. In seinem großen Buch „Unterwegs nach Xanadu“ hatte Schenkel noch viel mehr solcher Reisen, Besuche und Aneignungen thematisiert. Und noch viel deutlicher darauf hingewiesen, dass die Begegnungen über Jahrhunderte ganz und gar nicht friedlich waren. Und so manches, was da im Fernen Osten geschah, wurde auch in politischen Bewegungen immer wieder gern verklärt – von Mao bis Pol Pot, von den „Preußen Asiens“ bis zum Goldenen Tibet.
Aber das Interesse an Asien ist nicht erloschen. Der riesige Kontinent übt auch auf Schenkel seine Faszination aus. Nur ist seine Herangehensweise eben die des Forschers, der sich erst einmal durch Berge von Büchern wühlt, um die Momente zu finden, in denen sich die Kulturen begegneten. Und die Menschen kennenzulernen, die auf ihre Weise versuchten, in Asien die Antwort auf lauter europäische (und nordamerikanische) Fragen zu finden.
Oder in der Begegnung mit Gästen aus Fernost die Fremdheit der Kulturen überhaupt erst einmal zu verstehen – so wie in der Begegnung des Tuwimers Galsan Tschinag, der in Leipzig studierte, mit Leipziger Ethnologen, die ihm erst einmal kla machten, dass auch die Tuwimer eine eigenständige und reiche Kultur besitzen. Eine Kultur, die es zu erforschen und zu erzählen gilt. Was Tschinag ja dann auch in seinen vielen Romanen getan hat.
Und natürlich darf Nietzsche nicht fehlen, dessen 175. Geburtstag Schenkel im fernen Jakutien auf einem Nietzsche-Kongress beging. Auch das eine dieser seltsamen Begegnungen von Ost und West an einem Ort, der so offensichtlich wenig mit Nietzsches Lebenswelt zu tun hat. Und trotzdem wird er dort verehrt und trifft auf Verständnis.
Befremdung und Verständnis
Was Schenkel so Geschichte um Geschichte sichtbar macht, ist natürlich das Überraschende und Unberechenbare in der Begegnung von tatsächlich grundverschiedenen Kulturen. Und es hilft den Europäern nicht die Bohne, wenn sie glauben, das Fremde endlich verstanden zu haben. Dann haben sie es meistens gleich wieder eingereiht in ihre ganz und gar rationale (und oft eben leider rein geschäftsmäßige) Sicht, kommen aber trotzdem aus ihrer Haut nicht heraus.
Der Trost dabei: Andersherum geht es den Menschen aus Asien ganz ähnlich. Manchmal muss man das Befremdetsein einfach zur Kenntnis nehmen und akzeptieren. Man kann aus seiner Haut genauso wenig wie aus seiner Kultur, in die man hineingewachsen ist und mit der man gelernt hat, die Welt zu sehen und einzuordnen. Mit diesem Wissen dürfte es ein bisschen leichter sein, die meist so freundlich unbegreiflichen Leute aus der Ferne so zu akzeptieren, wie sie sind. Ohne sich anzumaßen, sie wirklich verstanden zu haben.
Die Begegnung bereichert jeden, der offen dafür ist. Aber eine Garantie dafür, jetzt endlich die Lösung für unsere Weltunruhe zu finden, kann es nicht geben. Vielleicht aber Beifall und Verständnis, wenn man zum Beispiel mit dem Fahrrad kommt und die riesigen Entfernungen tatsächlich in den Beinen hat. Dann werden Begegnungen sowieso ganz elementar wie bei William Sachtleben und Thoma Allen, die 1890 in Peking ankamen und die Neugier der Menschen auf ihrer Route kennenlernten.
Denn letztlich ist es immer schon beidseitig gewesen. Menschen interessieren sich füreinander – gerade dann, wenn die Fremde wirklich besonders befremdlich erscheint. Auch davon erzählen Schenkels Geschichten. Was am Ende auch heißt: Die gegenseitige Begutachtung wird weitergehen und jeder wird das suchen, was er vielleicht versteht. Und wenn man das Verstehen nicht erzwingt, könnte es tatschlich zu so etwas wie einem Verständnis füreinander kommen.
Eigentlich so ein Grundthema seit Goethes „West-östlichem Divan“. Daran hat sich nicht wirklich viel geändert. Auch wenn Goethe ziemlich optimistisch war, als er schrieb: „Wer sich selbst und andre kennt / Wird auch hier erkennen: / Orient und Occident / Sind nicht mehr zu trennen.“
Elmar Schenkel „Ostwind, Westwind. Begegnungen zwischen Asien und Europa“, Edition Hamouda, Leipzig 2023, 18 Euro.
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