Christian Sünderwald ist Kunst- und Architekturfotograf. Einen Namen gemacht hat sich der Chemnitzer als Fotograf von sogenannten Lost Places, von denen es gerade in Mitteldeutschland ja eine Menge gibt. Und wer so direkt mit der permanenten Vergänglichkeit menschlichen Tuns konfrontiert ist, der denkt natürlich auch über dieses Tun selbst nach.

So wie es die meisten Menschen tun, wenn auch selten so fokussiert, wie es Sünderwald in seinen Essays tut, die alle in den letzten Jahren entstanden sind und natürlich den Umgang mit der Corona-Pandemie genauso thematisieren wie die Entstehung von Kriegen, die Debatten um Künstliche Intelligenz, die Vergänglichkeit von Großraumdiskotheken (und ihre einst dominierende Rolle bei der Partnersuche). Ebenso die erschreckende Rolle von Großbanken und von Leuten, die „Geld für sich arbeiten lassen“ oder die seltsamen Entwicklungen unserer modernen Nahrungsmittelproduktion.

Und Verschwörer kommen natürlich auch drin vor. Oder auch nicht, auch wenn der ironische Titel „Denken kann man sich schenken …“ scheinbar genau in diese Richtung geht. Oder gar die Überschrift eines Essays, der tatsächlich die Frage stellt „Sind Verschwörungstheoretiker nur eine Verschwörung?“

Aber eigentlich geht es Christian Sünderwald gar nicht um diese, sondern um etwas, was auch anderen Leuten schon lange auf den Keks geht: „Wer nun diejenigen sind, die mit dieser scharfen Klinge darüber richten, was kritisch hinterfragt werden darf und was schlicht lächerlicher Blödsinn von irrwandelnden kranken Geistern ist? Die Medien!“

Macht, Einfluss und Verschwörung

Hoppla. Willkommen in Sachsen, wo einige schrumpfende Regionalzeitungen seit dreißig Jahren bestimmen, was des Berichtens wert ist – und was nicht. In Chemnitz ist das die „Freie Presse“, die augenscheinlich auch gerade dabei ist, ihre Leser zu vergraulen, weil zu offensichtlich wird, wem sie gehört und in wessen Interesse sie letztlich berichtet. Wobei Sünderwald die Rolle der Springer-Medien augenscheinlich als noch viel gefährlicher betrachtet.

Denn was er in der Presselandschaft besonders vermisst, sind „Menschen, die sich kritisch zu Wort melden“. Nur holt er sich am Ende doch eine sehr billige Pointe, indem er erklärt, dass ihm „im Zweifel Verschwörungstheoretiker lieber“ sind, „als dass aus theoretischen Verschwörungen tatsächliche werden“.

Da hat ihn das Verschwörungspferd geritten. Was schade ist, denn bis dahin hätte man sich sehr gut vorstellen können, dass seine Essays so auch in einer Zeitung veröffentlicht worden wären. Weil er das tut, was nachdenkliche Redakteure eigentlich auch tun sollten: Sich mehr Gedanken über die Phänomene unserer Zeit zu machen, als nur die Jubelmeldungen aus dem Ticker wiederzugeben.

Denn wir leben in einer höchst komplexen Welt, in der es ja tatsächlich genug Gruppen gibt, die ihre sehr speziellen Interessen durchsetzen, weil sie die Macht und den Einfluss dazu haben. Sünderwald geht auf die Macht der Banken ein, die am Ende die Gewinner der von ihnen selbst ausgelösten Bankenkrise von 2008 waren. Er geht auch auf die sehr offensichtlichen Interessen einer Fitness-Industrie ein, die den Menschen in die Köpfe hämmert, sie müssten sich neben der eh schon stressigen Arbeit auch noch körperlich optimieren.

Er beschäftigt sich mit blendenden Business-Coaches, die mit schreiender Werbung den Leuten einreden, sie würden ihnen in teuren „Tschakka“-Kursen beibringen, wie sie mit der richtigen Strategie in kürzester Zeit reich und erfolgreich wrden. Als ehemaliger Versicherungsvertreter weiß er, wovon er schreibt.

Die Mühen der Demokratie

Aber er macht sich auch Gedanken darüber, was eigentlich die Ausnahmesituation in der Corona-Zeit mit unserer Gesellschaft angerichtet hat. Denn diese Zeit hat wieder etwas ans Tageslicht gebracht, dessen wir uns in ruhigeren Zeiten gar nicht mehr bewusst sind: „Es ist dem Menschen grundsätzlich nicht in den genetischen Code geschrieben – wir haben kein Zivilisations- und Demokratie-Gen. Archaisch sind wir eher dazu veranlagt, Konflikte gewaltsam zu lösen. Die Menschheitsgeschichte ist voller blutgetränkter Belege dafür. Das macht Demokratie so anfällig.“

Und zwar nicht nur durch Leute, die jetzt mit verbalen Keulen aufeinander einschlagen, sondern auch durch jene Menschen, die auch in einer Demokratie Macht haben. Denn Demokratie sorgt ja nicht dafür, dass Macht verschwindet. Sie muss nur geteilt werden. Und die gewählten Machthaber müssen sich regelmäßig fairen und freien Wahlen stellen.

Man merkt natürlich auch, dass gerade dieser Essay noch während der Pandemie geschrieben wurde und die Angst noch allgegenwärtig war und auch viele Maßnahmen begründete. Würden sich die Menschen an diesen Zustand gewöhnen und apathisch werden? Immerhin ist das die größte Gefahr für die Demokratie. Denn Apathie ist das Tor zur Entsolidarisierung, unter der unsere Gesellschaft ja tatsächlich leidet. Die auch eine Menge mit den Algorithmen der a-sozialen Netzwerke zu tun hat.

Um mit Sünderwald zu sprechen: „Schließlich war es noch nie so einfach wie heute, sich in derlei Überzeugungen mit Gleichgesinnten zu verbinden und gegenseitig überzeugungsverstärkend auszutauschen. In den digitalen Kathedralen des Internets findet jeder seinen unabdingbar notwendige Exorzismus, der an allen ungefragt anzuwenden ist, die auf Irr- und Abwegen sind.“

Die Matrix und die Macht

Und das berührt ein Thema, das ihn viel genereller umtreibt: dem dummen Gefühl, dass wir – wie im Film – in einer Matrix leben, in der uns ein blindes Wirtschaftssystem zu konditionieren versucht – auch mit einem Leistungsdenken, das mittlerweile sämtliche privaten Bereiche umfasst. Und das uns überall als Mantra des unbedingt nötigen Wirtschaftswachstums begegnet, egal, ob noch irgendjemand die immer schneller und billiger produzierten Produkte braucht.

Während gleichzeitig immer mehr Menschen in miserabel bezahlte Jobs gezwungen werden, während der erwirtschaftete Reichtum immer schneller zu den reichen zehn, eigentlich nur noch zwei Prozent umverteilt wird, die sowieso schon den größten Einfluss auf unsere Politik haben.

Da ist es nämlich wieder: In einer vom Geld diktierten Gesellschaft haben nun einmal diejenigen die größte Macht, die das meiste Geld zur Verfügung haben. Mit Geld kann man auch Politik kaufen, Gesetze verhindern und das Denken deformieren. Denn dieses ewige Mantra vom enthemmten Wachstum geht ja vor unser aller Augen schief. Und immer mehr Menschen merken, dass sie dabei sich selbst und ihre eigenen Träume vom Leben verlieren, während sie rund um die Uhr nur noch für Jobs rotieren, die umso besser bezahlt werden, je nutzloser sie für das Wohlergehen der Gesellschaft sind.

„Wir kommen auf die Welt und werden zum Arbeitstier abgerichtet“, schreibt Sünderwald. „Unser Wert definiert sich größtenteils durch unsere Arbeitsleistung. Arbeitslosigkeit ist ein Makel, den man sich überdies selbst zuzuschreiben hat. Eine andere Dressur und ein anderes Weltbild sieht unsere Gesellschaft nicht vor.“ Leinenzwang nennt er das. Aber es ist auch eine Matrix, die bestimmt, welche technischen Innovationen eigentlich vorangetrieben werden – und welche nicht.

Die falschen Verheißungen der KI

In „Der Quantensprung der Computer“ geht Sünderwald dann auf die Quantencomputer und die damit erst recht unberechenbar werdende Künstliche Intelligenz ein. Womit dann der neue Albtraum Gestalt gewinnt, mit dem jetzt schon ganze Berufszweige in Panik versetzt werden. Denn diese KI soll ja so scheißklug sein, dass sie haufenweise Berufe überflüssig macht, in denen bislang noch menschliche Intelligenz gefragt ist. Also werden Millionen Menschen frei gesetzt, denen die Matrix der entfesselten Gewinnmaximierung den Stinkefinger zeigt.

Eigentlich heute schon. Denn diese Technologie bringt auch willfährige Wissenschaftler hervor, die eiskalt verkünden, der Mensch würde dann eben keine Rolle mehr spielen, die KI würde quasi die Kontrolle übernehmen. „Trotz dieser apokalyptischen Aussichten ist nicht zu erkennen, dass die Fortschritts- und Entwicklungsanstrengungen in diesem Bereich auch nur im Ansatz Skepsis begegnen.“

Wie auch? Die KI nützt ja zuallererst denen, die damit noch mehr Profit machen wollen. Die sich auch mit platten Sprüchen wie „Digital first!“ verraten.

„Liebe, Empathie, Kunstschaffen, moralisches Denken“ bleiben dabei auf der Strecke. Sie haben im Bild vom herrschenden Markt, der alles regelt, keinen Platz.

Im vorhergehenden Kapitel hat Sünderwald im Grunde schon skizziert, wie dieses banale, von Profit getriebene Denken heute schon systematisch Arbeitsplätze vernichtet und Menschen ins Abseits drängt, ihnen das Gefühl einbläut, überflüssig zu sein. Um dann nur noch mit Unterhaltungstechnik permanent bespaßt zu werden, während sie eigentlich nur noch als Käufer überflüssiger Billigprodukte gebraucht werden.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese wachsende Mehrheit der Bevölkerung sich auf ewig auf dem Abstellgleis der Gesellschaft abparken lässt“, schreibt Sünderwald.

Dem es ganz offensichtlich Freude macht, sich auch über die ganz elementaren Grundprobleme unserer auf Holzwege geratenen Gesellschaft Gedanken zu machen und in kleinen Essays für sich zumindest eine Orientierung zu suchen. Auch wenn am Ende meist eher eine offene Frage bleibt. Oder die Hoffnung, dass wir doch irgendwie einen Weg herausfinden aus dieser Matrix, die uns überall in nackter technologischer Kälte begegnet.

Die Frage lautet wirklich: Für wen leben wir eigentlich? Was macht ein wirklich reiches menschliches Leben aus?

Sünderwald: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht jeden Glauben an eine andere Lebenswelt verlieren, denn damit ginge auch jede Sehnsucht danach für immer verloren.“

Christian Sünderwald „Denken kann man sich schenken …“, Edition Maya, Bingen 2023, 22 Euro.

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