So ein richtiger Buchstabe im Kleinen mythologischen Alphabet aus dem Hamouda Verlag ist dieses Büchlein nicht. Eher ein essayistischer Versuch, einmal die Geschlechterzuweisungen der Götter, Göttinnen und Zwitterwesen aus Mythologie und Religion aufzudröseln. Denn natürlich spiegeln Mythen und Religionen auch die Sicht der Menschen auf ihre eigene Verunsicherung in Geschlechterrollen. Wovon ja auch die heutige Genderdebatte zeugt.

Die wetterleuchtet in einigen Beiträgen auch in dieses Büchlein hinein. Aber so richtig fruchtbar wird das nicht. Nicht, weil es in alten Mythen keine Zwitter- und Zwischenwesen gäbe. Die gibt es zuhauf. Und ohne sie wären alle diese grandiosen Urerzählungen der Menschheit stinklangweilig, Märchen für alte Säcke, denen die Welt nicht einfach und simpel genug sein kann.

Aber die Wahrheit ist: Menschen haben sich auch in ihren Urerzählungen immer auch mit den Uneindeutigkeiten ihrer eigenen Geschlechtlichkeit beschäftigt. Selbst in der Bibel, in der ja scheinbar das simple Weltbild des Patriarchats gefeiert wird, ist vieles ganz und gar nicht so eindeutig, wie es einem die Kirche oft glauben machen wollte. Bis hin zum Geschlecht Gottes. Worauf ja Chaim Noll in seinem Buch „Höre auf ihre Stimme“ kenntnisreich einging.

Kein Götterhimmel ohne starke Frauen

Es stimmt schon, dass unsere heutige Sicht auf die Götterwelt der Antike und die alten Zivilisationen geprägt ist durch das moderne Patriarchat. Das spiegelt nicht nur Herrschaftsstrukturen, sondern auch Simplifizierungen, welche die Welt versuchten in Schwarz-Weiß- bzw. Männlich-Weiblich-Muster zu drängen. Bis hin zu dem über Jahrhunderte sogar erfolgreichen Versuch, selbst Frauen aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verdrängen.

Macht als Deutungsmacht und als Macht, Dinge einfach verschwinden zu lassen. Unsichtbar zu machen und zu verteufeln. Genau dagegen kämpfen ja die heutigen Bewegungen des Feminismus und der Diversität an. Inzwischen auch mit mehr Wissen um die Rolle der Diversität in alten Mythen. Denn die Urerzählungen der Menschheit kommen ohne die weiblichen Aspekte von Gottheit gar nicht aus.

Im Gegenteil: Frauen haben in diesen Legenden sehr klare und mächtige Rollenzuweisungen. Worauf insbesondere Reiner Tetzner in seiner kleinen Reise durch die alten Religionen eingeht. Ohne Frauen und ihre oft mit Geburt, Bewahrung, Schicksal konnotierten Rollen funktionieren all die alten Mythologien nicht – weder die griechische noch die germanische, noch die ägyptische. Auch nicht die Urlegende aus dem Gilgamesch-Epos oder die Mythen der nordamerikanischen Ureinwohner, die ebenfalls Erwähnung finden.

Wobei einige Mythen-Entwicklungen natürlich auch davon erzählen, wie sich die Vorstellungen der Menschen von irdischer Macht immer wieder auch in der Verwandlung der Götter und Göttinnen in neue Rollen nachzeichneten. Auch die großen monotheistischen Religionen von heute entstanden ja nicht als solche, sondern sind Umformungen vieler früherer Kulte, in denen auch weibliche Gottheiten eine gewichtige Rolle spielten.

Heldenreisen und Männerbilder

Das große, umfassende Buch zu dieser Urgeschichte der weiblichen Gottheiten gibt es noch nicht, auch wenn sich Maren Uhlig in ihrem Beitrag zur Figur des Helden und dem maskulinen Geschlechterideal emsig an dem 1980 erschienenen Buch „Die Göttin und ihr Heros“ von Heide Göttner-Abendroth abarbeitet. Ein recht verzwickter Bezug, denn Göttner-Abendroths Theorien vom ursprüngliche Matriarchat lassen sich nicht beweisen. Auch nicht mit jahrtausendealten Darstellungen von Göttinnen und Mutterfiguren.

Was dann zwangsläufig auch Folgen für die Interpretation der Heldenreise hat, die als Erzähltopos Mythen, Märchen und Sagen seit Jahrtausenden durchzieht. Hier bezieht sich die Autorin auf Jan de Vries’ 1961 erschienenes Buch „Heldenlied und Heldensage“. Auch das kein wirklich unproblematischer Ansatz. Denn auch de Vries tendierte dazu, seine eigenen Zeitvorstellungen in die alte Heldenlegenden hineinzuinterpretieren. Und damit ziemlich moderne Mannesvorstellungen einer sehr patriarchalen Gesellschaft.

Aber waren die alten Mythen und Legenden tatsächlich so gedacht? Wahrscheinlich nicht. Tatsächlich machen die Beiträge in diesem Buch eher deutlich, wie sehr wir geneigt sind, unsere Sicht und unsere offenen Diskussionen in die alten Stoffe hineinzuinterpretieren. Besonders deutlich wird das in dem Beitrag von Theresia Hermes und Constantin Tiede, die sich der Trickster-Gestalt des Loki aus der germanischen Mythologie widmen, die in heutigen Comics ihre Auferstehung und Anverwandlung erlebt hat, also quasi zu einer modernen Superhelden-Figur geworden ist.

Aber entspricht das der tatsächlichen Sicht der germanischen Sänger und Erzähler auf Loki und die germanische Götterwelt? Sind wir überhaupt noch in der Lage, darin die tatsächlichen Welt-Vorstellungen der Menschen vor 2.000, 3.000, 4.000 Jahren nachzuempfinden? Eine Vorstellung, die ja selbst magisch war und das Uneindeutige des menschlichen Lebens in einen Kosmos wandelbarer Götter projizierte.

Der unfassbare Trickster

Und das Faszinierende an diesen alten Mythen ist ja gerade ihre Uneindeutigkeit. Das Handeln der Götter war nicht voraussagbar. Und all die ursprünglichen Heldenerzählungen kommen nur in Bewegung, weil Trickster und tumbe Toren die Dinge in Bewegung bringen. Selbst im Teufel der Bibel taucht diese Trickster-Figur noch auf. Und gerade da wird es spannend, weil damit das verunsichernde und herausfordernde Element in die Welt kommt, das auch in scheinbar simplen Paar-Beziehungen eine Rolle spielt.

Und damit auch scheinbar eindeutige Frauen- und Männerrollen immer wieder infrage stellt. Denn dass die Maler der Renaissance – auf die Anne-Marie Lachmund in ihrem Beitrag zum Venus-Mythos zu sprechen kommt – Eva und Venus so gern nackt darstellten, hat ja nicht nur mit heutiger Populärkultur und dem vermarktenden Männer-Blick auf (idealisierte) weibliche Körper zu tun, sondern auch mit der Verunsicherung der Männer in Bezug auf die Frau, die sie jahrhundertelang in ein Zerrbild von Hure und Göttin verwandelt haben.

Genau da wird nämlich die mythische Heldengeschichte spannend, weil sie eigentlich von der langen, oft voller Irrtümer und Fehler steckenden Suche der männlichen Helden nach ihrer eigentlichen Rolle erzählt. Es ist fast immer die Begegnung mit den weiblichen Helden, die den Helden in die Bredouille bringt oder gar scheitern lässt. Und zwar in der Regel dann, wenn sie sich tumb benehmen – also rücksichtslos, unwissend, nach Schema F, wie sie es gewohnt sind.

Dabei ist die Undurchdringlichkeit der Welt eine Herausforderung – nicht nur zum Lernen, sondern auch zum Herausfinden der eigenen anderen (und meist mitfühlenden) Seiten. „Wann ist der Mann ein Mann?“, fragte Herbert Grönemeyer 1984 in seinem Lied „Männer“ – und wundert sich bis heute, wie viele Männer den Song auch heute noch missverstehen. Auch weil sie nicht auf den Text hören, der natürlich von all dem erzählt, was im klassischen patriarchalen Männerbild nicht vorkommt.

Die Armut patriarchaler Rollenmuster

Und genau davon erzählen ja auch all die Trickster- und Heldengeschichten: von der Unvollkommenheit der Männerrolle in einer patriarchalischen Welt. Es sind nicht nur die Menschen, die sich als divers empfinden, die in so eine simplifizierte Geschlechtervorstellung nicht passen. Es sind auch die Menschen, die sich als Männer und Frauen empfinden, aber berechtigterweise die vorgegebenen Rollen, wie Männer und Frauen zu sein haben, nicht nachempfinden und akzeptieren können.

Denn es sind verarmte, verengte Rollen. Was gerade in der Beschäftigung mit den großen Mythen der Weltkultur deutlich wird, die allesamt davon leben, dass sie eben keine in ihren Rollen erstarrten Männlein und Weiblein zeigen, sondern widersprüchliche Helden und Heldinnen, selbst Götter, die ihren Leidenschaften erliegen und aus der Rolle fallen.

Jahrhundertelang wurde diese Uneindeutigkeit der menschlichen Geschlechterbeziehungen vertuscht, verdrängt, verfolgt, hat sich ein patriarchalisches Bild von Geschlechtlichkeit manifestiert – bis in Familien- und Ehegesetze hinein -, das bis heute viele Akteure auch und gerade auf dem politischen Parkett beherrscht. Dass dieses starre Denken von rebellischen Minderheiten hinterfragt und aufgebrochen wird, passt diesen Leuten natürlich überhaupt nicht.

Aber es lohnt sich, sich tatsächlich immer wieder mit den alten Menschheitsmythen zu beschäftigen, um wieder zu merken, dass unsere Vorfahren vor der Etablierung des strengen Patriarchats durchaus komplexere Vorstellungen vom menschlichen Miteinander und von der Veränderung der Welt besaßen. Vorstellungen, die die Vielfalt menschlichen Seins viel umfassender spiegelten als die Moralvorstellungen der patriarchalen Männergesellschaft. Was die Essays in diesem Band zumindest versuchen, auf ihre Weise zu zeigen.

Quasi als Beginn einer vielleicht doch intensiveren Beschäftigung mit den durchaus wandelbaren Rollen etlicher antiker Götter in Bezug auf Geschlecht, Liebe und Heldentum.

Theresa Frickel (Hrsg.) „Das Geschlecht der Gottheiten“, Hamouda Verlag, Leipzig 2023, 13 Euro.

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