Wenn Tino Hemmann Science Fiction schreibt, dann thematisiert er die moralischen Abgründe unserer Gesellschaft. Immer wieder stehen Kinder und Jugendliche im Zentrum seiner Geschichten, die ausbaden müssen, was rücksichtslose Erwachsene angerichtet haben. Erwachsene, denen Mitgefühl ganz offensichtlich fremd ist, die von Macht, Ehrgeiz und Gier getrieben sind und dabei auch technische Entwicklungen vorantreiben, die jeden Respekt vor dem Menschsein vermissen lassen.

In seinem neuen Roman macht er fünf Jungen zu seinen Helden, die in einem Waisenhaus aufgewachsen sind und eines Tages merken, dass sie Opfer eines Experiments geworden sind: Ihnen wurden Mikrochips ins Hirn eingepflanzt. Wie man weiß: einer der ganz heißen Träume einiger heutiger Multimilliardäre. Die zwar noch auf die Grenzen von Gesetzen und ethischen Codices stoßen. Aber der Verdacht, dass ihnen diese Grenzen egal sind, wenn man damit Geld verdienen kann, ist wohl nicht von der Hand zu weisen.

Es gibt genug technologische Entwicklungen, die uns heute schon zeigen, dass moralische Maßstäbe für diese Leute nicht gelten, wenn es nur um Profit und eine Art Allmachtswahn geht.

Der Glanz virtueller Welten

Und mit solchen Leuten bekommen es die Jungen natürlich auch zu tun, als sie beginnen, die Verursacher ihres Leids zu suchen, das einen der ihren gerade in den Tod getrieben hat. Und dabei helfen ihnen ausgerechnet die Eigenschaften der in ihr Hirn gepflanzten Mikrochips. Denn diese ermöglichen ihnen, sich jederzeit auch ohne elektronische Hilfsmittel in digitale Netze einzuloggen.

Oder vielleicht besser: hineinzuschlüpfen und sich darin zu bewegen. Also letztlich das zu tun, was die Leute, die ihnen die Chips einst einpflanzten, auch beabsichtigten. Nur haben die nicht damit gerechnet, dass sie die Kontrolle über die Jungen verlieren. Und auch nicht damit, dass sich auch unerwartete Unterstützer finden, denen das Experiment viel zu weit gegangen ist.

Ein Experiment, das irgendwie in der Grauzone zwischen privater und staatlicher Forschung stattfand. Aber ganz offensichtlich kriminell war. Und die Gegenseite ist gewarnt, als die Jungen ihre Spuren im Internet hinterlassen und einer gar – virtuell – gekidnappt wird. Ob das je so möglich sein wird – wer weiß das schon? Aber kindische Ideen wie das Metaversum erzählen ja davon, dass die großen Möchtegerne genau von solchen Welten träumen. Welten, die einerseits fatal an „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley erinnern, andererseits an Welten, wie sie William Gibson in der Idoru-Trilogie ausmalte.

Nur: Was passiert wirklich, wenn man durch solche Implantate menschliche Gehirne direkt mit dem Internet verbindet? Hemmann malt es sehr fantasievoll aus. Auch wenn jeder Aufenthalt der Jungen in der Virtualität gefährlich ist. Die Körper bleiben ja zurück, sind unbewacht und können – wie es einem der Jungen geschieht – entführt werden.

Denn als experimentelle Objekte sind sie zumindest für einen der beteiligten Geldgeber interessant. Denn wenn sich das Experiment als erfolgreich herausstellen sollte, sitzt er, wenn er über die Technologie verfügt, einmal mehr an eine Quelle des Profits.

Skrupellose Technologien

Das ist der eigentliche Kern in dieser Geschichte, die wohl nicht nur dem Autor Sorge bereitet. Denn in der Welt des großen Geldes existieren keine moralischen Grenzen, oft nicht einmal Skrupel. Was technisch machbar ist, wird gemacht, wenn nicht vernünftige und mutige Politiker diesem Zugriff Grenzen setzen oder ein Ende bereiten.

Wir stecken mittendrin in so einer Diskussion – oder in mehreren, die alle parallel laufen. Denn während riesige Konzerne mit Milliardeneinsätzen einfach immer neuer Produkte lancieren, für deren Verträglichkeit und Unschädlichkeit sie nicht garantieren, brauchen menschliche Regierungen ewig, um die darin schlummernden Gefahren überhaupt zu begreifen, die Folgen abzuschätzen und Wege zu finden, diese Produkte zu verbieten.

In Hemmanns Buch freilich wissen die Regierungen nicht einmal etwas davon. Auch das darf einen beunruhigen. Denn auch das passiert ja nur zu oft, wie solche Technologien in den Laboren der großen Konzerne einfach entwickelt werden, ohne dass staatliche Stellen davon wissen. Und selbst wenn sie dann öffentlich werden, stehen Regierungen dem Ganzen meist ratlos gegenüber.

Man nehme nur die Künstliche Intelligenz (KI), die jetzt gerade auf die Menschheit losgelassen wird – ohne dass vorher jemand geklärt hätte, welches Gefahrenpotenzial darin schlummert, wie es menschliche Gesellschaften gefährdet usw.

Die Grenzen des Machbaren

Den vier Jungen jedenfalls ist klar, dass das, was ihnen geschehen ist, nicht wieder passieren darf. Und auch, dass sie es mit gefährlichen Gegnern zu tu haben, die selbst vor Gewaltanwendung nicht zurückschrecken. Ihr Glück ist, dass sie mit einem indischen Unternehmer, der das Experiment einst finanzierte, einen Partner haben, der ihnen hilft. Denn ganz allein hätten sie es wohl doch nicht geschafft. Ihre Fähigkeit, sich einfach ins Netz einschalten zu können, macht sie zwar mächtig. Aber in der Realität bleiben sie verletzlich.

Und so spitzt sich das Ganze natürlich zu. Erst recht, als einer von ihnen entführt wurde und es letztlich um seine Rettung geht im fernen Yokohama, während die in Deutschland zurückgebliebenen Jungs sich jetzt mit den beiden Ganoven beschäftigen sollen, welche die Experimente tatsächlich initiiert haben. Zwei Typen, die durchaus als ganz normale Karrieristen durchgehen würden in einer Welt, in der diejenigen Lorbeer und Geld einheimsen, die einfach skrupellos umsetzen, was sie für möglich halten.

Es liegt also eine ernsthafte moralische Diskussion unter der Geschichte: Wann wird dieser unmoralische Machbarkeitswahn eigentlich kriminell? Oder ist er das schon von vornherein, wenn er nicht einmal die etablierten Grenzen der Ethik respektiert? Und dazu gehört ja: keine Experimente an Menschen! Gar an Kindern.

Hemmann liebt diese Zuspitzungen, weil sie genau das sichtbar machen, was in theoretischen Diskussionen meistens nicht zu sehen ist. Inwieweit wird das Menschlichste angegriffen, wenn hoch dotierte Entwickler einfach umsetzen, was sie für technologisch möglich halten? Gibt also die Machbarkeit von Technologien vor, wie es mit der menschlichen Gesellschaft weitergeht? Oder werden dabei auch soziale Grundlagen zerstört, Gesellschaften und Staaten entkernt? Und am Ende bestimmen gnadenlose Konzerne über den Wert des Menschen? Oder seinen Unwert?

Moralische Grenzen

Wobei die moralische Frage auch umzukehren ist, wenn die Rache der Cyber-Adler, wie sich die Jungen nennen, dann auch wieder tödlich ausfällt. Als spräche nichts mehr dafür, dass die Männer, die von den Experimenten an den Jungen profitieren wollten, noch Reue zeigen könnten, irgendein akzeptables Gefühl von Menschlichkeit?

Eine nicht ganz unwichtige Frage. Erst recht, als mit der Enkelin des japanischen Übeltäters auch noch ein Mädchen ins Spiel kommt – an dem ebenso experimentiert wurde.

Wobei Hemmann es seinen Lesern überhaupt nicht einfach macht, denn das ist nur der eine Ausgang der Geschichte. Er bietet aber praktisch auch noch einen zweiten an, in dem die Cyber-Adler ihre Möglichkeiten nutzen, die Geschichte schon weit vor Beginn der Handlung enden zu lassen. Sodass die Täter ihre gerechte Strafe schon bekommen, bevor sie ihr Experiment vollenden können. Und damit schwingt eine dritte Möglichkeit mit. Denn wenn es diesen Jungen gelingt, in die virtuelle Welt zu wechseln, was passiert eigentlich, wenn ihre Körper in der realen Welt verblassen?

Das klingt dann schon nach eine Fortsetzung. Denn für Tino Hemmann sind die Geschichten, die er sich ausdenkt, meistens noch nicht zu Ende erzählt, wenn ein Abenteuer beendet ist. Denn oft fangen die moralischen Implikationen ja gerade dort an, wo die Grenze zum Neuen, noch Unerfahrenen überschritten wird.

Virtuelle Heilsversprechen

Was natürlich die Fragen nicht ungültig macht, die Hemmann eigentlich stellt, wenn er hier die heute eben nicht nur diskutierte Technologie der eingepflanzten Mikrochips thematisiert (die durchaus in der Medizin Sinn ergeben kann), sondern auch die Hybris deutlich macht, die sich auftut, wenn mit so einer Technologie gleich wieder neue Vorstellungen von Macht, Überlegenheit und Profit entstehen. Wird hier die Grenze des Menschlichen überschritten? Ist das tatsächlich folgerichtig, wie uns so mancher Philosoph einreden möchte? Oder greift da die nächste Technologie um sich, die am Ende nicht mehr beherrschbar ist? Aber dann, wenn sie ihre Abgründe zeigt, ist es zu spät?

Denn genau so gehen wir ja mit Technologien um. Einfach drauflos, wird schon gut gehen. Und was kümmern denn in einer Welt der technologischen Über-Menschen (wie sie sich ja oft selbst betrachten) all die Sensiblen, die vor den Gefahren warnen? Gerade für unser Menschsein, für die Menschlichkeit sowieso.

Und wir stehen genau an dieser Schwelle. Auch wenn es reizvoll ist, sich auszumalen, wie das wäre, wenn vier Chips im Gehirn genügen würden, jederzeit online zu gehen und spielend alle Angebote einer virtuellen Welt zu nutzen.

Tino Hemmann „Cyber-Adler. Rache ist online“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2023, 14,80 Euro.

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