Das Leben ist kurz. Im 16. Jahrhundert war das Erreichen des 72. Lebensjahres eine Seltenheit. Balthasar Summer schaffte es und hinterließ ein auf Latein verfasstes Tagebuch, in dem er die aus seiner Sicht wichtigsten Ereignisse in seinem Leben aufschrieb. Ein Tagebuch, das der Torgauer Diakon Wilhelm Krudthoff 1754 glücklicherweise ins Deutsche übersetzte. So blieb es erhalten und wir erfahren, wie Balthasar Summer die Welt sah.
„Das Original des Tagebuchs hat sich bis heute nicht auffinden lassen“, muss Jürgen Herzog feststellen, der das übersetzte Tagebuch jetzt herausgegeben hat. Nebst einer Pestschrift, die Balthasar Summer selbst 1597 herausgegeben hat, sodass man auch das Denken des Mannes kennenlernt, der in Torgau Stadtarzt war, von seinen Mitbürgen hochgeachtet, aber innerlich voller Zweifel.
Es mutet fast modern an, wie der Sohn eines Gerbermeisters im Grunde bis zuletzt daran zweifelt, dass er für die Tätigkeit, für die er berufen wurde, überhaupt schon reif sei und nicht andere den Vorrang hätten. Erst 1562 ließ sich der 1529 Geborene, nachdem er schon seit Jahren Lektionen an der Universität Wittenberg übernommen hatte, dazu überreden, sich für den Doktortitel anzumelden.
Denn erst der würde ihm ja eine gesellschaftliche Stellung verschaffen. Schon vorher hatte er immer wieder Einladungen bekommen, an verschiedenen Fürstenhöfen eine Stellung als Arzt anzunehmen. Stets lehnte er ab.
Mann muss, oder?
Ganz offensichtlich ein Mann, der auch in unserer Zeit kaum gepasst hätte, wo Ruhmsucht, Karriere und Eitelkeit die meisten Leute antreiben und letztlich die Besetzung der einflussreichen Stellen bedingen. Gerecht geht da gar nichts zu. Geschlechtergerecht erst recht nicht.
Geschlechtergerechtigkeit spielt zwar in Summers Tagebuch auch keine Rolle. Aber auch sein langes Ausharren bei der Wahl seiner künftigen Braut erzählt eine Geschichte, die auch das Normenkorsett der damaligen Geschlechtersicht durchbricht.
Denn die Bräute, die man ihm dringend ans Herz legte, waren in der Regel wohlhabend und aus gutem Haus – auch eine Tochter des Malers Lucas Cranach war darunter. Aber der ganz und gar nicht mehr junge Mann achtete lieber auf den Charakter der Frauen – wenn auch nicht auf geistige Ebenbürtigkeit.
Aber dass Frauen tatkräftig und selbstbewusst handeln konnten, wusste er von seiner Mutter, die nach dem frühen Tod des Vaters die Geschäfte fortführte – und das erfolgreich. War er also ein Muttersöhnchen? Nicht wirklich. Aber ganz offensichtlich hatte er sich einen Teil der weiblichen Verhaltensweisen angeeignet, die auch heute noch dazu führen, dass Frauen bei Karrieren ausgebootet wurden und Männer, die ähnlich rücksichsvoll agieren, ebenso keine Chancen haben.
Es ist ganz und gar nicht erstaunlich, dass man beim Lesen eines so alten Tagebuches an die Fehlentwicklungen der Gegenwart erinnert wird, in der ruhm- und prestigeverliebte Männer sich in allen gesellschaftlichen Bereichen um die entscheidenden Positionen balgen, meist völlig unbeleckt vom dafür nötigen Wissen.
Und erst recht von den Zweifeln, die viele Frauen nur zu gut kennen. Zweifel, die in der Regel dazu führen, das Risiko abzuwägen vorm Handeln, lieber Kooperationen zu schließen als Hahnenkämpfe anzufachen, die andere Seite mitzudenken, wenn es zu Konflikten kommt.
Pest, Krieg und Religion
Was Summer auch für den als stolz und eigensinnig beschriebenen Stadtarzt Kentmann zu einem wertgeschätzten Kollegen machte. Selbst Männer wissen es zu schätzen, wenn sie mit ihresgleichen im gleichen Fach tätig sein können, ohne dass einer immerzu die Besserwisser-Karte zieht.
Man spürt freilich auch, dass dieser Summer an Torgau hing und froh war, dass er nach den Jahren im schlesischen Herzogtum Liegnitz als Stadtarzt nach Torgau zurückkehren konnte. Zurück ins Vaterland. Wie lange er dort praktizierte, bleibt offen. Gestorben ist er erst 1602. Sein Tagebuch aber endet mit dem Jahr 1591.
Natürlich enthält es auch die Unglücksfälle und Katastrophen, die zu dieser Zeit gehörten. Seine Pestschrift verfasste er ja aus aktuellem Anlass. Immer wieder wurde Torgau von der Pest heimgesucht. Ebenso das benachbarte Wittenberg, wo Summer studierte. Es war ja auch die Pest, die Luthers Frau Katharina zur Flucht nach Torgau brachte, wo sie nach ihrem schweren Unfall gestorben ist.
Summer erzählt den Vorfall natürlich genauso wie die Ereignisse des Schmalkaldischen Krieges, die Kurfürst Johann Friedrich die Kurfürstenwürde kosteten und Herzog Moritz zum neuen Landesherrn machte. Aber auch Moritz’ Tod kommt vor, genauso wie die Ereignisse um den mit Kurfürst Christian aufkommenden Calvinismus in Sachsen.
Viele wichtige Vertreter der Reformation – wie Melanchthon – lernte Summer noch persönlich kennen. Er erwähnt die gewaltigen Hochwasser der Elbe, die auch immer wieder die Brücken bei Torgau mitrissen. Und er erwähnt den frühen Tod einiger seiner Kinder.
Wenn er als Pestarzt unterwegs war, versuchte er seine Familie dadurch zu schützen, dass er sie aus Torgau fortreisen ließ. Seine Pestschrift zeigt, dass er – was die Erkenntnisse über die Ausbreitung der Pest anbelangt – auf der Höhe der Zeit war.
Was er empfunden haben mag, als er am 7. Mai 1586 eintrug, dass „des D. Summers lieben Weibes Krankckheit mit Blut auswerffen und Husten“ anfing, wird man im Tagebuch nicht lesen, auch wenn seine Aufzeichnungen vom März 1587 davon erzählen, wie er seine Judith geliebt haben muss. Auch seinen Bruder verlor er früh. Und vielleicht wurde es um ihn tatsächlich bald so einsam, dass er nach 1591 keinen Sinn mehr darin sah, das Tagebuch weiterzuführen.
Da er seinen Bericht aber schon vor seiner Geburt im Jahr 1511 beginnt, bekommt man mit Summers Tagebuch einen Überblick über 80 Jahre Leben in Torgau. Nur die Reformation selbst kommt nicht vor, die war ja vor seiner Geburt.
Und als er in Torgau in Kirche und Schule ging, war die Lutherische Konfession schon der Standard für die Wahrnehmung der Welt. Auch wenn noch über Details wie die Leinengewänder der Priester und die Kerzen auf dem Altar gestritten wurde und immer neue Konvente auch in Torgau tagten, um strittige Kirchenfragen zu klären.
Was zählt Bescheidenheit?
Während es bei Bürgermeister Paul Ringenhain dessen rekonstruiertes Haus ist, das vom Leben und den Wertvorstellungen des Bürgermeisters erzählt, kommt Balthasar Summer mit seinem Tagebuch selbst zu Wort – in dem er auch den Brand von Ringenhains erstem Haus erwähnt, an dessen Stelle das heute in Torgau zu besichtigende Bürgermeister-Ringenhain-Haus steht.
Hat Summer das Haus je von innen gesehen? Wir erfahren es nicht. Vielleicht wäre es ihm auch nicht nachfühlbar gewesen. Denn bis zuletzt merkt man, wie ihm das Streben nach Ruhm und Ehre zutiefst fremd war. Ein verlockendes Angebot um das andere schlug er aus.
Ganz so, als wäre er einer unserer – jüngeren – Zeitgenossen, der für sich herausgefunden hat, dass man all das große Geld und all die Titel und Pracht nicht braucht, um ein glückliches Leben führen zu können.
Dass man nicht immerzu streben muss, gar nach Höherem, was immer die Leute damit auch meinen. Nur um dann sich selbst zu verlieren und das Gefühl, doch einfach nur etwas Gutes zu tun und sich mit Menschen, die man liebt zu umgeben.
Das könnte in ungefähr Summers Vorstellung vom richtigen Leben gewesen sein. Eine Vorstellung, die sehr modern klingt, wenn man sieht, wie immer mehr Menschen im Rennen nach dem Immermehr irre werden und verzweifeln. Aber den Punkt nicht finden, an dem sie ganz bei sich sind. Und gar nicht mehr wollen.
Jürgen Herzog Tagebuch und Pestschrift des Stadtarztes Dr. Balthasar Summer in Torgau Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2023, 19,80 Euro.
Keine Kommentare bisher