2022 verรถffentlichte Martin Gross bei Sol et Chant schon ein Buch, welches das irritierende Verhรคltnis des Westens zu Russland und Russlands zum Westen auf besondere Weise erzรคhlte โ als eine Geschichte der absehbaren Missverstรคndnisse und falschen Erwartungen. Als Organisator internationaler wissenschaftlicher Projekte in Russland von 1998 bis 2016 wusste Gross, warum es nicht funktionierte. Und auch โNadjas Geschichteโ widmet sich diesem schwierigen Dialog.
Es ist das bislang persรถnlichste Buch von Martin Gros, merkt der Verlag an. Und die Geschichte geht tatsรคchlich ans elementare Leben, dorthin, wo wir mit Erschรผtterungen nie rechnen, obwohl sie unser Leben jederzeit aus der Bahn werfen kรถnnen. Eigentlich ist es eine Liebesgeschichte โ die Geschichte einer spรคten Liebe, in welcher der Tagebuchschreiber der Russin Nadja begegnet, die auf dem Markt einer kleinen Stadt irgendwo hinter Berlin selbstgetรถpferte Schรผsseln verkauft. Farbenfroh, zum Anschauen verlockend. Und Nadja selbst ist schรถn und selbstbewusst. Und dass der Erzรคhler Russisch beherrscht seit seinen vielen Aufenthalten in russischen Universitรคten, ist wie ein Tรผrรถffner.
Die beiden finden Vertrauen zueinander, fahren Boot, nรคhern sich an und รผberlegen schon, wie ein gemeinsames Leben funktionieren kรถnnte.
Doch dann erleidet Nadja eine Hirnblutung. Ihr Leben hรคngt am seidenen Faden. Und statt nun gemeinsame Plรคne zu schmieden, fรคhrt der Erzรคhler Woche fรผr Woche ins Krankenhaus, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Auf einmal ist er zum Betreuer einer Frau geworden, von der er noch kaum weiร, wer sie wirklich ist. Und ob dieser kurze Herbst, den sie gemeinsam erlebten, tatsรคchlich die Basis fรผr eine Zukunft sein kann, in der die fremde Geliebte auf einmal zum Pflegefall wird.
Der Weg zurรผck
Da Martin Gross die Geschichte โ wie schon in โEin Winter in Jakuschevskโ โ in Tagebuchform erzรคhlt, ist man als Leser immerfort nur auf demselben Stand wie der Erzรคhler selbst. Der natรผrlich nicht weiร, was die Zukunft bringt, ob die Hoffnung trรผgt und am Ende nur noch ein Mensch steht, der im Pflegeheim untergebracht werden muss. Oder ob das Arrangement trรคgt, das er mit Nadjas Entlassung und Hilfe ihres Sohnes Andrej in seiner kleinen Wohnung schafft, um Nadja auf ihrem Weg zurรผck zum Bewegen, Sprechen, Erinnern zu begleiten.
Ein Weg voller Rรผckschlรคge, mit Nadjas Fluchtversuchen โnach Hauseโ, von dem sie selbst vielleicht nicht weiร, wo dieses Zuhause eigentlich ist. Ist es die einstige Heimat am Jenissei? Ist es das Haus, das sie sich gekauft hat und dafรผr einen Kredit aufgenommen hat, den sie als Deutschlehrerin durchaus hรคtte abbezahlen kรถnnen, wรคre nicht die Gehirnblutung dazwischen gekommen.
Selbst dieses Leben in Deutschland, in das Nadja vor Jahren der Liebe wegen kam, ist ja kompliziert und bรผrokratisch genug. Durchreglementiert und voller Formalien, die ja selbst Menschen in den Wahnsinn treiben kรถnnen, die darin aufgewachsen sind. Wie erst Menschen wie Nadja, die ja in ihrer Heimat erlebt hat, wie das Leben auch unter widrigsten, aber eben auch elementarsten Bedingungen funktioniert, wenn ein Staat gar kein Interesse daran hat, seine Bรผrger zu behรผten und zu beschรผtzen.
Das Befremden
Vieles von dem, was die Sicht der Russen auf den Westen ausmacht, wird in diesen Tagebuchaufzeichnungen sichtbar, bringt auch den Erzรคhler immer wieder aus der Spur, obwohl er es doch mit seinen Reiseerfahrungen weiร, wie anders dieses Russland tickt.
Aber dieses Stutzen kennt Martin Gross ja zur Genรผge, der schon 1990 aus dem Westen nach Dresden รผbersiedelte, um jenen Bruch zu studieren โ und im Buch โDas letzte Jahrโ dann auch niederzuschreiben -, der das Leben der Ostdeutschen mit der Deutschen Einheit radikal verรคnderte. Aber eben nicht alles verรคnderte und die Ostdeutschen eben bis heute sehr befremdende Erfahrungen machen lieร. Dieses Befremden, wenn eingeรผbte Selbstverstรคndlichkeiten nicht mehr gelten sollen und mit den Erwartungen der neuen Wortfรผhrer kollidieren, ist ja dem Befremden sehr รคhnlich, das Martin Gross schon in โWinter in Jakuschevskโ schilderte.
Mitsamt der Erkenntnis รผbrigens, dass er selbst รผberhaupt eine Antenne dafรผr hatte, wรคhrend die europรคischen Fรถrderer oft vรถllig blind waren fรผr das tatsรคchliche Leben und die Zwรคnge in der russischen Gesellschaft, die im Jakuschevsk-Buch gerade in ihrer grรถรten Krise steckte. Denn die zehn Transformations-Jahre nach dem Ende der Sowjetunion und den neoliberalen Wirtschaftsreformen endete in einem einzigen Debakel, Chaos und Aussichtslosigkeit, wรคhrend sich einige Wenige die Reichtรผmer und Unternehmen des Landes unter den Nagel gerissen hatten.
Auch diese Zukunftslosigkeit hatte Nadja dazu bewogen, lieber nach Deutschland zu gehen.
Ein Wladimir Putin hat bis heute in Russland eben auch den Ruf, dieses Chaos beendet, Russland wieder in ruhigeres Fahrwasser gefรผhrt und mit russischem Erdgas einen gewissen Wohlstand geschaffen zu haben. Das vergisst man ja gern, wenn man ihn nur als kalten Sachwalter des russischen Imperialismus betrachtet โ der er freilich auch ist.
Kollidierende Sichten
Aber mit Nadja bekommt der Tagebuchschreiber eben auch die wirkliche Sicht der Russen mit, mit Anrufen und E-Mail-Botschaften mit einstigen Kolleginnen und Kollegen in Russland ebenfalls. Und dass der Krieg gegen die Ukraine ausgerechnet wรคhrend Nadjas Krankheit ausbricht, zwingt ihn natรผrlich dazu, immer wieder zu vergleichen und verstehen zu wollen, wie es die Menschen in Russland eigentlich sehen, was da passiert. Und warum sie die westeuropรคische Sicht allesamt nicht teilen.
Zerstรถrt das jetzt Freundschaften und Vertrauen? Kann man jetzt รผberhaupt nicht mehr miteinander reden, ohne vermintes Gelรคnde zu betreten? Oder ist das Eigentliche, das Menschliche noch immer da, auf dem man aufbauen kann und das ja letztlich auch Freundschaften begrรผndet?
Und wonach sehnt sich Nadja, die nach vielen schweren Krisen tatsรคchlich langsam und mit immer mehr Menschen um sich, denen ihre Genesung am Herzen liegt, den Weg zurรผckfindet ins Leben. Auch wenn sich der Tagebuchschreiber lange nicht sicher ist, ob es wirklich die Nadja noch ist, die er im Herbst zuvor kennengelernt hat. Oder lernt er jetzt eine andere Nadja kennen, eine, mit der er nicht umgehen kann? Die ihn auch nicht wiedererkennt oder nicht akzeptiert?
Allein das wรคre ja schon eine Geschichte, die so richtig an die Substanz geht. Denn das Geld, sie jahrelang als Pflegefall zu betreuen, haben weder er noch ihr Sohn Andrej. Und wie kann man so ein Leben รผberhaupt gestalten, wenn die kurze Liebe darin nicht wieder auftaucht und trรคgt?
Wo ist Zuhause?
Eine Liebe, die ganz offensichtlich ohne die Liebe zu Russland nicht existieren kann. Ganz am Ende ist eine Video-Reise auf dem Jenissei fast wie eine Reise in Nadjas Heimat. Auch wie ein Versprechen, dass beide irgendwann, wenn der Krieg zu Ende ist, doch dorthin fahren und gemeinsam auf diesem riesigen Fluss fahren. Aber mit seinem Interesse fรผr Nadjas Geschichte hilft der Erzรคhler auch, dass Nadja selbst wieder Faden um Faden zum eigenen Leben knรผpft. Manchmal abweisend und zur Flucht bereit, dann wieder bereit, sich dem mรผhsamen Suchen nach der eigenen Persรถnlichkeit zu stellen.
Natรผrlich ist das am Ende eine Geschichte, die nur offen bleiben kann. Die aber auch zeigt, dass alle Medienberichte nicht genรผgen, wirklich die Seele eines Landes kennenzulernen und das Selbstverstรคndnis seiner Bewohner fรผr das, was richtig und gut ist. Und wo westliche Maรstรคbe vรถllig versagen, weil sie auf ein Land treffen, das seine Orientierung noch immer in einer verklรคrten Vergangenheit sucht, deren gewaltvolle Schattenseiten meist verdrรคngt werden. Eine Fremdheit, die all die gutgemeinten europรคischen Fรถrderprogramme nicht aufheben konnten.
Ein tiefer pessimistischer Zug kommt ganz am Ende noch zum Vorschein, wenn der Erzรคhler in den sterbenden Dรถrfern am Jenissei die Zukunft der Menschheit zu sehen glaubt, ihre ganze Vergรคnglichkeit und die Rรผckkehr der Tundra in die verlassenen Ortschaften. โZu besichtigen war, was zurรผckbleibt, wenn die Menschen gegangen sind โฆโ
So fern ist dieses Russland nicht. Es steht vor denselben Fragen des รberlebens, auch wenn sie zugedeckt sind von einem neuen Nationalstolz und einem Krieg, der die Brรผcke schlagen soll in eine imperiale Vergangenheit, wรคhrend abgelegene Regionen wieder verรถden und nur die Umweltbelastungen bleiben, die noch in 100 Jahren davon erzรคhlen, wie rรผcksichtslos der Mensch hier gewirtschaftet hat.
So gesehen auch ein Spiegel fรผr den Westen, in dem Nadja ja doch ihr Zuhause gefunden hat und am Ende einsieht, dass es das Zuhause aus ihrer Erinnerung nicht mehr gibt.
Martin Gross โNadjas Geschichteโ, Sol et Chant, Letschin 2023, 26 Euro.
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