Nicht nur die deutsche Politik wurde auf dem falschen Fuß erwischt, als Wladimir Putin am 24. Februar 2022 die russische Armee in die Ukraine einmarschieren ließ. Auch die Evangelische Kirche in Deutschland hatte auf einmal ein Problem. Denn auch sie hatte sich die Vorstellung, dass ein Krieg in Europa kaum noch denkbar war und Militärausgaben rausgeschmissenes Geld seien, zutiefst verinnerlicht. Gerechter Frieden und Pazifismus lauteten die wesentlichen Grundnoten auch des innerkirchlichen Diskurses.

Und nun das: Nicht nur, dass ein hochgerüstetes Land einfach seinen friedlichen Nachbarn überfiel. Auf einmal betraf das auch wieder Deutschland und stellte das ganze Land vor ein gewaltiges Dilemma: Jetzt einfach weiter auf die Karte Pazifismus setzen und die Sache den Ukrainern allein überlassen? Oder Haltung zeigen und dem überfallenen Land in seiner Not mit allen Mitteln helfen – auch mit schwerem Kriegsgerät?

Auf einmal wirkten da auch alle Wortmeldungen der Evangelischen Kirche aus den letzten Jahren wie weltfremd, abgehobene Verkündungen aus einem Märchenland, in dem es keine Kriege, keine Diktatoren und aggressiven Machtpolitiker (mehr) gibt.

Eine 2.000 Jahre alte Diskussion

Höchste Zeit, so stellt der Theologe Rochus Leonhardt schon im Vorwort fest, wieder ernsthaft über das Verhältnis der Kirche zum Krieg, zu Militär und zum Soldatsein neu nachzudenken. Neu auch im Sinne von – wieder. Denn die dezidiert pazifistischen Positionen, die auch die Evangelische Kirche zuletzt eingenommen hat, haben ja Vorläuferin  einer intensiven Diskussion, in der christliche Autoren, Kirchenväter, Reformatoren und Philosophen sich über die Jahrhunderte Gedanken gemacht haben über das konfliktreiche Verhältnis der Christen zum Krieg und zum Soldatsein.

Was übrigens schon in der Bibel beginnt mit der nur zu berechtigten Frage, ob ein Christ auch Soldat sein kann, wo ja nun das Soldatenhandwerk eigentlich das Gegenteil all dessen ist, was die Friedensbotschaft des Neuen Testaments fordert. Das diskutiert Leonhardt natürlich auch, genauso wie die Positionen der mittelalterlichen Autoren und dann natürlich Luthers, der sich mit der Frage intensiv und in mehreren Schriften auseinandergesetzt hat.

Nur dass es bei Martin Luther schon eine deutliche Weiterung gibt, unter anderem niedergeschrieben in seiner Zwei-Reiche-Lehre. Denn während das Neue Testament die Frage, ob ein Christ auch Soldat sein könne, zu einer rein persönlichen Entscheidung macht, war Luther nur zu bewusst, dass es nicht die einfachen Menschen sind, die Kriege entfesseln, sondern die Staaten bzw. die regierenden Fürsten. Und dabei arbeitete er auch heraus, welche Rolle eigentlich das „zweite Reich“, das Reich der Fürsten, tatsächlich spielt für den Frieden der Menschen – nach innen und außen.

Denn für Luther war es erwiesen, dass es nicht nur Sünder gibt, sondern auch das Böse. Dass Menschen fähig waren, böse zu handeln und das auch taten. Und dass es nach innen Aufgabe der Fürsten war, den Frieden der Gesellschaft zu schützen, indem sie das Böse bestraften und – mit Gewalt – befriedeten. Einen Staat im heutigen Sinne gab es zwar noch nicht – aber die Einrichtungen der Macht, die so ähnlich funktionierten, gab es schon.

Das Lutherische Friedensgebot

Und wenn man akzeptiert, dass es das Böse – bzw. böse handelnde Menschen –  innerhalb einer Gesellschaft gibt, dann kann man es nach außen hin nicht leugnen. Dann ist es auch Christenpflicht der Fürsten, den Frieden in ihrem Herrschaftsbereich zu sichern gegen Aggressionen von außen. Ein Punkt, an dem die über Jahrhunderte währende Diskussion aufflammt, was eigentlich ein gerechter Krieg ist. Eine Diskussion, die nicht nur mit Luther wieder auf den Tisch kam. Auch sein humanistischer Zeitgenosse Erasmus von Rotterdam lieferte dazu Beiträge, die bis heute in der Debatte eine Rolle spielen.

Aber für beide gilt letztlich ein Friedensgebot, die ethischen Hürden für einen Krieg legen beide hoch, auch wenn Luther zugesteht, dass die Fürsten auf das Schwert nicht verzichten können, um den Frieden im Ernstfall zu verteidigen. Was dann auch die Rolle der Soldaten bestimmt. Und trotzdem – so Leonhardt – in eine „friedensethische Paradoxie“ mündet: Wer den Frieden bewahren will, muss gerüstet sein für den Krieg, braucht also ein Waffenarsenal und Soldaten, die bereit sind, um des lieben Friedens willen auch zu töten.

Und das lässt sich einfach nicht auflösen.

Wozu sind Staaten da?

Immanuel Kant hat das später auch in Schriften wie „Zum ewigen Frieden“ auch gar nicht erst versucht. Mit dem Philosophen aus Königsberg beschäftigt sich in seinem Beitrag der Philosoph Volker Gerhardt. Kant war sich nur zu bewusst, dass es Bedingungen für einen dauerhaften Frieden in einer Welt der Fürsten, Machtgelüste und Ruhmsüchtigen nicht geben kann. Dass Frieden eigentlich etwas völlig anderes ist, als es in den üblichen Diskussionen meist gedacht wird. Nämlich kein Zustand der Abwesenheit von Krieg, sondern ein Abkommen der Menschen, die sich ihren Staat erschaffen, um das Glück und das Recht aller Menschen darin zu sichern.

Denn Unfrieden entspringt immer aus Ungleichheit, Ungerechtigkeit, ungleicher Machtverteilung. Dass die Menschen also eine Regierungsform brauchen, in der es tatsächlich einen echten Interessenausgleich aller Bürger gibt, war Kant schon früh klar, auch wenn er diesen Garanten in der Demokratie lange nicht sah.

Dazu brauchte er doch ein paar Jahrzehnte. Aber er begründet den – inneren und äußeren – Frieden nicht moralisch, auch nicht mit gut und böse. Sondern mit der „eigentlichen Aufgabe der Politik“, allen Menschen ihr Recht zu geben und den Menschen die Entfaltung ihre lebendigen Kräfte zu ermöglichen. Genau da wird die Republik tatsächlich zur res publica, zur Sache des Volkes.

Was bei Kant übrigens noch weiterführende Folgerungen hat, denn er war sich sicher, dass die Menschheit, wenn sie so weitermachte, nicht überleben würde, dass sie sich letztlich selbst auslöschen würde. Kant liest sich erstaunlich gegenwärtig, wie Gerhardt hier zeigt. Und auf einmal merkt man auch, dass Frieden letztlich Grundvoraussetzungen hat, die auch in unserer Gesellschaft nur zu gern missachtet werden, weil auch bei uns genug Kräfte am Werk sind, die im Namen einer falsch definierten Freiheit Weniger die Freiheitsrechte der Mehrheit beschneiden und eine extreme Ungleichheit schaffen. Was eben auch bedeutet: Unsere Republik schafft es eben noch lange nicht, die Rechte aller zu gewährleisten. Und sie missachtet oft genug einen dritten Punkt, den Kant herausstellt: die Abhängigkeit aller von allen.

Die natürlichen Bedingungen der Freiheit

Denn überlebensfähig sind wir Menschen (und die Menschheit) nur, wenn wir einander helfen, stützen, schützen. Ein Topos, der in der entfesselten Ego-Gesellschaft immer wieder unter die Räder kommt und Leuten Macht in die Hände gibt, die rücksichtslos und aggressiv agieren. Weil sie es können.

Es hapert also schon an einer ganz wichtigen Stelle. Und der „Weltfrieden“, für den Kant ja als Erster eine Völkergemeinschaft ins Spiel brachte, ist damit erst recht nicht zu erreichen. Denn der hat nun einmal als Grundlage freie und gerechte Republiken, die miteinander auf Augenhöhe sprechen, sich vertraglich binden und Verträge auch einhalten. Als Idealmodell, das Viele nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1990 schon für verwirklicht hielten. Aber das ist ja ganz offensichtlich eine Illusion. Die „Föderation als globales Prinzip“ ist nach wie vor eine Utopie.

Dabei beruft sich Kant nirgendwo auf religiöse Überlieferungen. Das zeichnet ja sein Staatsverständnis aus, dass er vom realen Menschen und seinem Wunsch nach Würde ausgeht. Oder mit den Worten von Volker Gerhardt: „Er spricht und handelt unter Ansprüchen, die ihn im Umgang mit seinesgleichen auf Bedingungen verpflichten, die er nicht missachten kann, ohne sich selbst preiszugeben.“

Da schaue sich jeder selbst um: Das ist auch in der viel gelobten friedlichen Bundesrepublik nicht gewährleistet. Auch, weil es viel zu oft in politischen Debatten negiert wird. Denn es schließt Pflichten ein, die jeder Einzelne gegenüber der Gemeinschaft hat. Und Kant war sich auch zutiefst bewusst, wie abhängig der Mensch von seinen natürlichen Lebensgrundlagen ist. Natur und Vernunft sind in jedem einzelnen Menschen verbunden. „Die Menschheit kann somit als die Voraussetzung angesehen werden, die es jedem einzelnen Menschen ermöglicht, sich selbst als eigenständig, verantwortlich und frei zu verstehen“, fasst es Gerhardt zusammen.

Erst diese wahrgenommenen Abhängigkeiten machen es überhaupt möglich, dass wir uns als frei begreifen können. Erst die menschliche Gemeinschaft, die uns trägt,  macht uns zu handlungsfähigen freien Persönlichkeiten.

„Natur“ und „Vernunft“

Gerhardt muss gar nicht erst betonen: Was Kant insbesondere in seinen späten Schriften geschrieben hat, geht weit über das hinaus, was in der aktuellen Pazifismus-Diskussion passiert. Es geht an die Wurzeln unseres Mensch-Seins. Und damit unseres Staatsverständnisses. Denn auch der Staat ist letztlich dazu da, das Überleben der menschlichen Gesellschaft zu sichern. Also ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen „Natur“ und „Vernunft“, das es den Menschen ermöglicht, möglichst lange auf diesem Planeten Erde zu überleben. Und wenn ein Staat diese von seinen eigenen Bürgern gestellte Aufgabe hat, das Glück und das Recht für seine Bürger zu sichern, dann gehört es ganz logisch auch zu seinen Aufgaben, sich gegen die Gefährdung dieses Zustandes zu wehren.

Was das Dilemma nicht auflöst, denn Kant war sich – in kriegerischen Zeiten lebend – nur zu bewusst, dass Kriegskredite, Aufrüstung und stehende Heere die Kriegsgefahr jederzeit schüren. Erst recht, wenn Machthaber kriegerische Überfälle als legitimes Mittel der Politik betrachten. Aber gleichzeitig sieht er den Staatsbürger, der mit gutem Recht erwarten kann, dass sich sein Staat einsetzt dafür, dass er nicht überfallen wird und sein Glück zerstört wird.

Und das spiegelt sich eben auch auf zwischenstaatlicher Ebene – bis hin zum modernen Völkerrecht, das die Unverletzbarkeit von Grenzen und die Souveränität freier Staaten natürlich als Bedingung setzt für ein friedliches Zusammenleben. Was letztlich auch die Frage klärt, ob man ein Land wie die Ukraine mit Waffen unterstützten soll oder nicht: Natürlich soll man das. Auch um des Friedens willen. Denn wenn einem Aggressor nicht Halt geboten wird, macht er immer weiter, weil er eben die Regeln des friedlichen Miteinanders nicht akzeptiert.

Die globale Existenzform

Kant war sich, so Gebhardt, nur zu bewusst, dass die Menschheit zu seiner Zeit eine Epochengrenze überschritten hat und „zur globalen Existenzform“ überging. Dass eben nicht mehr nur wichtig war, was in einer kleinen Region wie dem damaligen Preußen passierte, sondern dass der Mensch beginnen musste, in der Dimension des „Weltbürgerrechts“ zu denken.

Wovon dann wieder, darauf geht Gerhardt noch dezidiert ein, das nahe oder fernere Ende der Menschheit abhängt. Bis hin zu der Erkenntnis: „Nur bei einem ernsthaft befolgten Kriegsverzicht gibt es die Chance, dass der Mensch sein Dasein auf der Erde in Würde fortführen kann.“

Und der Theologe Johannes Wischmeyer fasst dann in seinem Beitrag im Buch die aktuellen Diskussionen vor allem der Evangelischen Kirche zusammen, von der man wohl aus gutem Grund keine eindeutigen Botschaften mehr hört zu Krieg und Frieden. Unter anderem, weil – nach Trutz Rendtorff, „Frieden als verbindliche Aufgabe der Politik alle politischen Ziele und Handlungsweisen umfasst und keine besondere, von anderen politischen Aufgaben zu trennende Einzelaufgabe darstellt“.

Frieden ist demnach ein Prozess, in dem alles darauf abzielt, die Möglichkeit friedlichen Miteinanders zu schaffen und zu erhalten. Und auf einmal hat man es eben nicht nur mit Diskussionen um Militäretats zu tun, sondern auch mit sozialen, entwicklungspolitischen und Bildungsfragen, wie Wischmeyer betont. Weshalb man von der Kirche wohl eher keinen „hilfreichen Beitrag“ zur gesellschaftlichen Debatte erwarten kann.

Denn die Wirkmächtigkeit der biblischen Bilder des Friedens sind das eine. Aber sie zeigen keinen Zustand, der existiert, bestenfalls eine Vision, auf die man hinleben und hinarbeiten kann. Und das stürzt natürlich auch Christen, die sich im Herzen als Pazifisten verstehen, in ein unauflösliches Dilemma. Und auch nicht nur Christen. Das gehört dann wohl zum widersprüchlichen Sein in kriegerischen Zeiten, dass man sich nicht auf friedliches Nichtstun zurückziehen kann, wenn andernorts friedliebende Menschen mit Krieg überzogen werden.

Volker Gerhardt, Rochus Leonhardt, Johannes Wischmeyer „Friedensethik in Kriegszeiten“; Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023, 24 Euro

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