Dass Michael Maul als Intendant des Bachfestes in Leipzig ein Begeisterter ist, wissen die Besucher des Festes. Er wagt Experimente, gibt Kรผnstlern freie Hand, sucht nach Formaten, die auch Menschen an Bachs Musik heranfรผhren, die mit dem einstigen Thomaskantor sonst nichts am Hut haben. Und er schreibt Bรผcher, in denen er seine Leserinnen und Leser an seiner Bach-Begeisterung teilhaben lรคsst.

So wie 2012 mit โ€žDero berรผhmbter Chorโ€œ รผber die Geschichte der Leipziger Thomasschule und ihre Kantoren. Und 2021 in seiner groรŸen Bildbiografie โ€žBachโ€œ im Lehmstedt Verlag. Aber da das Bachfest ja eng mit der Arbeit des Bacharchivs verbandelt ist, ist er auch bestens รผber die neuesten Forschungsergebnisse zum Bach-Kosmos informiert.

Forschungen, die akribisch versuchen, auch das Leben und Wirken von Johann Sebastian Bach in Leipzig zu rekonstruieren, so weit das aus alten Dokumenten irgendwie rekonstruierbar ist. Denn was sein persรถnliches Leben betrifft, war Bach eher ein groรŸer Schweiger. Einer, der darauf vertraute, dass seine Musik alles fรผr ihn erzรคhlte.

Aber wer kann schon Bachs Musik entschlรผsseln?

Das war auch nur wenigen Zeitgenossen Bachs gegeben โ€“ einem Telemann etwa, den der Leipziger Rat 1723 nur zu gern auf den Posten des Thomaskantors berufen hรคtte โ€“ und auch berief. Natรผrlich erzรคhlt Michael Maul in diesem Buch, das sich ganz auf die Zeit Bachs als Thomaskantor konzentriert, auch die Geschichte von der โ€ždritten Wahlโ€œ, die der Kรถthener Hofkapellmeister Bach damals war.

Was Folgen hatte, denn mit diesem Bach glaubte der Leipziger Rat, seine neue Schulordnung fรผr die Thomasschule, an der man schon lange gefeilt hatte, widerstandslos durchsetzen zu kรถnnen.

Thomaner, die nicht singen kรถnnen

Denn die Stadtvรคter wollten mehr arme Leipziger Jungen in die Thomasschule entsenden, auch wenn sie kein Talent zum Singen hatten. Womit der Anspruch der Schule, Sรคnger fรผr einen exzellenten Chor auszubilden, binnen weniger Jahre ruiniert worden wรคre. Und wohl auch in Teilen ruiniert wurde. Was ja das Lebens- und Leidensdrama Bachs als Thomaskantor war.

Es gibt durchaus vermutbare Grรผnde, warum er in seinen ersten Jahren als Thomaskantor ein Feuerwerk an Kantaten lieferte โ€“ und dann nach dem Tod der Mรคnner, die seine Arbeit respektierten und schรผtzten, fast verstummte, weil spรคtestens ab 1734 kaum noch mรถglich war, mit dem Thomanerchor wirklich anspruchsvolle Auffรผhrungen zu organisieren.

Ratsprotokolle รผberliefern bis heute die hitzigen Diskussionen im Leipziger Rat und die heftigen Auseinandersetzungen mit einem als stur und unbelehrbar verstandenen Thomaskantor, dessen Entwurf fรผr eine โ€žwohlbestallte Kirchenmusikโ€œ wahrscheinlich einfach in den Akten verschwand, ohne je diskutiert worden zu sein. Und ein Talent, die unmusischen Rรคte von seiner Arbeit zu รผberzeugen, hatte Bach wohl nicht.

Eine einzige รœberforderung

Das Bรผchlein aus Mauls Feder erscheint auch nicht ganz zufรคllig genau zum Bachfest 2023, das unter dem Titel โ€žBach for Futureโ€œ stattfindet und sich ganz dezidiert Bachs Antritt des Thomaskantorats im Jahr 1723 widmet. Es ist tatsรคchlich eine โ€žLiebeserklรคrung an die Musik von J. S. Bachโ€œ.

Und es ist eine euphorische Reise durch Bachs Kantatenwelt, aus der Maul einzelne Kantaten in ihrer Genialitรคt besonders wรผrdigt. Maul erzรคhlt dabei kenntnisreich, worin sich Bachs musikalische Sprache damals signifikant von all dem unterschied, was die Leipziger in ihren beiden groรŸen Kirchen gewohnt waren zu hรถren.

Und er gesteht auch zu, dass das meiste davon wohl eine einzige รœberforderung gewesen sein dรผrfte โ€“ fรผr den Chor, die Musikanten, die Zuhรถrer, aber auch den Rat. Denn natรผrlich hat Maul recht: Neue musikalische Ansprรผche mรผssen erst einmal verstanden und akzeptiert werden. Das braucht seine Zeit. Und in dieser Beziehung war Bach in Leipzig ganz bestimmt ein paar Generationen zu frรผh.

Wahrscheinlich ist es wirklich so, dass erst 100 Jahre spรคter, zur Zeit Mendelssohn Bartholdys, รผberhaupt das Verstรคndnis fรผr diese komplexe Musik so weit gewachsen war, dass Bach wie eine Neuentdeckung gefeiert werden konnte. Wรคhrend Zeitzeugen โ€“ und nicht nur der bissige Johann Adolph Scheibe โ€“ zumeist Unverstรคndnis รคuรŸerten und dem Kantor โ€žSchwรผlstigkeitโ€œ unterstellten.

Die staubtrockene Vernunft der Frรผhaufklรคrung

Und er passte noch aus einem anderen Grund nicht in die Zeit, wie Maul bei dieser musikalischen Reise durch das Lebenswerk Bachs deutlich macht: Seine Musik passte so gar nicht in das rationale Empfinden der Frรผhaufklรคrung, in der Leipzig eines der Zentren war.

Ein Empfinden, das man heute durchaus als staubtrocken und ignorant bezeichnen darf, weil die zumeist ehrwรผrdigen Professoren eine ziemlich fleischlose Logik praktizierten und glaubten, die ganze Welt aus logischen Herleitungen erklรคren zu kรถnnen. Eine letztlich verbissene Benutzung des menschlichen Intellekts, die spรคtere Kritiker zu Recht als โ€žVernรผnfteleiโ€œ bezeichneten. Das reale, schmerzliche, von Freuden und Trauer durchzogene Leben kam darin nicht vor.

Doch genau das verwandelte Bach in Musik. Und das mit einem geradezu barocken Zugriff auf Bibeltexte und Kirchenlieder, wo er genau die Stimmungen, Sorgen, ร„ngste und Freuden ausgedrรผckt fand, die ihn selbst beschรคftigten. Und von denen seine Musik bis heute erzรคhlt. Und damit spricht sie lรคngst auch Millionen Menschen an, die sich selbst gar nicht als glรคubige Christen verstehen, die aber diese oft verzweifelte, hoffende und bangende Haltung zum Leben nur zu gut kennen.

Auch wenn sie die Tragรถdien einer Musikerfamilie im 18. Jahrhundert, wo der frรผhe Tod der Kinder genauso zum Leben gehรถrte wie der drohende Verlust der geliebten Frau bei der Geburt, so nicht mehr kennen. Es fรคllt einem heute schon ziemlich schwer, sich wieder hineinzuversetzen in diese Zeit, mit ihren tatsรคchlichen Gefahren, Dunkelheiten, Ungewissheiten.

Doch der barocke รœberschwang, der noch die Dichtung des 17. Jahrhunderts auszeichnete, war verschwunden, wurde als nicht mehr normal verstanden. Dafรผr regierte in den Kirchen und Rรคten meist ein pietistisches Verhรคltnis zur Religion, das fรผr euphorische Feiern des Lebens eigentlich keinen Platz mehr hatte.

Pech fรผr einen Thomaskantor, der mit seiner Art, religiรถse Themen in Musik zu verwandeln, gleich mehrfach am falschen Platz war. Fรผr die einen ein Zu-spรคt-Gekommener, in Wirklichkeit ein Zu-frรผh-Gekommener, der einen Musikkosmos erรถffnete, der auf die braven Zuhรถrer im Gottesdienst wahrscheinlich so wirkte wie die Rockmusik auf die braven Schlagerliebhaber der 1960er Jahre.

Ein Rockstar in pietistischen Zeiten

Weshalb sich viele Bach-Musiken รผbrigens problemlos in echte Rockmusik verwandeln lassen. Das nur so am Rande.

Auch wenn Michael Mauls Begeisterung fรผr jedes einzelne der vorgestellten Bach-Stรผcke natรผrlich an die Begeisterung eines Rock-Jรผngers erinnert, der dem Publikum klarmachen mรถchte, was fรผr ein Star dieser Bach war.

Was natรผrlich auch deutlich macht, warum dieser Bach so verzweifeln musste an einem sturen Leipziger Rat, der keinen Sinn fรผr die Existenz eines Elite-Chores hatte. Und auch wenn Michael Maul weiรŸ, wie schnell man die Beziehung zwischen tatsรคchlichen Ereignissen in Bachs Leben und seinen datierbaren Stรผcken รผberbewerten kann, versucht er trotzdem diese Verbindung herzustellen. Mit einiger Berechtigung. Denn wenn Bach auf die Malaisen seines Lebens mit musikalischen Statements reagierte, dann ergibt diese Suche Sinn.

Eine Suche, die โ€“ auf andere Art John Eliot Gardiner in seinem Bach-Buch vorgenommen hat. Und so weit voneinander entfernt sind ja die Bache nicht, die Gardiner und Maul fรผr sich entdeckt haben. Am Ende war das Drama ja nicht aufzulรถsen fรผr den Mann, der eigentlich den ganzen Kosmos komponieren wollte, aber in seiner tatsรคchlichen Arbeit mit einem zurechtgestutzten Chor behindert wurde.

Und auch so gut wie keine Spuren in den damaligen Publikationen hinterlassen hat, was die Forschung bis heute irritiert. Was aber wohl Zeichen dafรผr ist, dass auch und gerade in Leipzig sein Wirken nicht als so revolutionรคr verstanden wurde, wie wir es heute empfinden.

Gedemรผtigter Bach!

Eher erzรคhlt das Schweigen ja von allgemeinem Unverstรคndnis. Und von einer Erwartungshaltung, die viel mit dem damaligen Leipziger โ€žLiteraturpapstโ€œ Gottsched zu tun hatte, der fรผr die Literatur Einfachheit und Natรผrlichkeit als Gebote formulierte. Nichts anderes wandte ja Scheibe in seiner Kritik an Bach an. Der deutschen Literatur haben Gottscheds Gebote gar nichts genรผtzt.

Im Gegenteil, schon die Generation der Stรผrmer und Drรคnger rebellierte dagegen, die dann auch Leute wie Schiller und Goethe hervorbrachte. Aber das war eben nach Bachs Zeit. Und natรผrlich nach den langen Jahren, in denen er praktisch nichts mehr fรผr die Leipziger Gottesdienste schrieb und zeitweise verzweifelt nach einem Absprung suchte. Sogar nach Danzig wรคre er gegangen.

Aber er blieb, harrte aus, auch weil seine Sรถhne in Leipzig studieren konnten. Seine spรคteren Werke โ€“ wie die Brandenburgischen Konzerte und die Missa solemnis โ€“ erzรคhlen dann eben auch davon, dass er sich sein Publikum andernorts suchte. Und das mit Kompositionen, die dasselbe hohe Niveau hielten und ebenso zu Herzen gehen bis heute.

Man spรผrt das tiefe Mitgefรผhl, das Michael Maul mit โ€žseinemโ€œ Thomaskantor hat. Immer wieder steigt er aus dem erzรคhlenden Text aus und spricht seinen gedemรผtigten, verehrten, geplagten und enttรคuschten Bach direkt an, versucht auf sehr persรถnliche Weise zu erklรคren, wie der heute so berรผhmte Komponist auf all die Ereignisse, die ihm zustieรŸen, reagiert haben mag.

Und wie seine รผberlieferten Kompositionen genau davon erzรคhlen โ€“ quasi als in Noten gefasster Kommentar eines Musikers, der in der Stadt seiner Wahl kaum Gehรถr fand und auf amtliches Unverstรคndnis stieรŸ.

Einige Zeitgenossen erklรคrten Bach gleich nach seinem Tod sogar schon fรผr รผberholt und bald vergessen. Sie sahen das in seiner Musik, was ihr vernรผnftelndes Zeitalter darin als altbacken empfand. Aber sie sahen nicht, dass Bach mit seiner zutiefst persรถnlichen Herangehensweise etwas hervorbrachte, was die kommenden Zeitalter schon mit Wucht vorwegnahm.

Michael Maul gibt mit seinen Interpretationen schรถne Handreichungen, wie man sich auch Bachschen Kantaten annรคhern kann, die man bislang noch nicht fรผr sich รถffnen konnte. Aber schon Telemann sah ja, dass dieser Kollege in Leipzig auf einem Niveau komponierte, das weit รผber die Ansprรผche dieser Epoche hinausging, die in groรŸen Gefรผhlen eher eine Gefahr sah fรผr den pietistischen Duldergeist, mit dem die Pastoren ihre Schรคflein damals beglรผckten.

Dagegen wirkte die Musik, die Bach dann in den Kirchen anstimmte, geradezu wie eine Rebellion, ein furioser Aufstand des Menschen, der sich nicht kleinzumachen gedachte und auch nicht einschรผchtern lassen wollte.

Eine explosive Mischung, in der Bach dann nach 1734 im Grunde die Unterstรผtzer fehlten. Da wirkt es eben nicht nur wie ein Trotz, wenn Bach seine Kompositionen mit โ€žSoli Deo gloriaโ€œ unterzeichnete. Nicht den Perรผckentrรคgern im Rat gehรถrte der Ruhm, sondern nur dem Gott, den Bach mit seiner Musik feierte. Und nur ihm allein.

Das darf man ein Bekenntnis nennen. Und eine deutliche Positionierung gegen falschen Glanz und falschen Ruhm. Und damit zeigt sich hier eine Bescheidenheit, die sich vom pietistischen Kleinmachen bis heute deutlich unterscheidet.

Michael Maul J. S. Bach. Wie wunderbar sind deine Werke Insel Verlag, Berlin 2023, 18 Euro.

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Keine Kommentare bisher

> Weshalb sich viele Bach-Musiken รผbrigens problemlos in echte Rockmusik verwandeln lassen. Das nur so am Rande.
โ€ฆ Und auch sehr gut in Jazz, siehe Thomas Gabriel Trio.
Danke fรผr den tollen Artikel, mit den fรผr mich neuen Gedanken zum modischen Empfinden seiner Musik in den Zeiten.

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