Als der Kunstwissenschaftler Wolfgang Hocquél zum ersten Mal so ein Buch vorlegte, gab es die DDR noch. 1990 war das, da erschien im Tourist Verlag der Band „Leipzig. Baumeister und Bauten“. Kurz zuvor hatte auf der Agra die 1. Volksbaukonferenz stattgefunden, bei der sich 1.000 Leipziger und Leipzigerinnen erstmals öffentlich mit dem katastrophalen Zustand der Bausubstanz ihrer einst so schönen Stadt beschäftigten. Das Buch zeigte diese ramponierte Schönheit.
Und es machte gerade durch seine systematische Fülle sichtbar, was es zu retten und zu bewahren galt. Denn noch standen diese prächtigen Bauten, die von 800 Jahren Leipziger Baugeschichte erzählten. Viele freilich nur noch notdürftig abgestützt, von Schutzgerüsten umgeben, mit eingefallenen Dächern – und oben aus Fenstern und Balkonen wuchsen die tapferen Birken heraus.
1990 war auch ein Jahr, in dem noch nicht absehbar war, ob dieser wertvolle Baubestand bewahrt werden könnte. Seither sind über 30 Jahre vergangen und so ziemlich alle denkmalgeschützten Gebäude konnten gerettet und saniert und einer neuen Nutzung zugeführt werden. Binnen weniger Jahre wurde aus der grauen Stadt Leipzig eine Boomtown. Investoren spürten früher als viele Bewohner, dass diese graue Stadt eine Stadt mit Zukunft war und sich wieder etablieren würde als eine der attraktivsten Städte der Bundesrepublik. Viele Bauten mussten nur wieder wachgeküsst werden. Brachen waren mit neuer Architektur zu füllen.
Eine einzigartige City
Aber der Kern der Stadt war intakt. Das wussten nicht nur Hocquél und seine Mitstreiter, die die 1. Volksbaukonferenz veranstalteten. Das wusste auch Leipzigs erster Baubürgermeister nach der Rückkehr der Stadt in die kommunale Selbstverwaltung, Niels Gormsen, den Hocquél natürlich im Teil „Baumeister, Architekten, Städteplaner“ ebenso würdigt wie seine Nachfolger im Amt.
Vier solcher Architekturführer hat Wolfgang Hocquél schon vorgelegt. Jedes Mal konnte er ergänzen und erweitern, kamen neue markante Bauwerke hinzu, welche die oft seit dem Krieg herrschenden Lücken füllten und der Stadt neue Aspekte hinzufügten. Und die vor allem die 1990 so löcherige City wieder komplettierten, sodass die meisten Städtereisenden, die Leipzig besuchen, im Grunde nur wegen dieser kompakten und deutschlandweit einzigartigen City nach Leipzig kommen.
Die dann auch das dickste Kapitel in Hocquéls neuem Architekturführer einnimmt. Denn sie ist die Visitenkarte der Stadt. Und hier ballt sich die komplette Baugeschichte seit der Romanik bis heute.
Das heißt: Seit der wahrscheinlich um 1165 vollzogenen Stadtgründung, in der das Straßenraster östlich der einstigen urbs Libzi entstand und von wo aus sich Leipzig zur Messestadt entwickelte. Diese Stadtentwicklung erzählt Hocquél zum Einstieg in das Buch, sodass alle, die Leipzig in seiner Genese noch nicht kennen, einen ersten Rahmen haben. Dort sollen dann die 280 Gebäude und Ensemble hineinpassen, die mit Nummer auch gleich noch auf den beigegebenen Karten im Umschlag aufzufinden sind.
800 Jahre Baugeschichte
Vieles ist nur als Ensemble darstellbar – man denke nur an das Waldstraßenvirtel als denkmalgeschütztes Quartier der Gründerzeit oder Wohnensembles wie den Rundling in Lößnig, die Krochsiedlung oder die Meyerschen Häuser. Nicht zu vergessen die Messehäuser, eigentlich Messepaläste, für die um 1900 fast die komplette Innenstadt umgebaut wurde. Leipzigs Vorreiterrolle bei der Entwicklung der Mustermesse mit den in diesen Messehäusern zu besichtigenden Produktmustern hatte ihren Preis.
Dafür wurde so manches barocke Kleinod einfach abgerissen, sodass man heute schon sehr aufmerksam durch die City gehen muss, um das einst von Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ gepriesene Leipzig noch zu finden. Man findet es durchaus. So wie man die letzten Zeugen des Barock findet und die seltenen Zeugnisse aus der Renaissancezeit. Manchmal an unerwarteter Stelle wie bei den Zinshäusern im Barfußgäßchen oder in der Hainstraße 8, wo der Blick durchaus auch auf den einst so typischen Leipziger Erker fallen darf.
Aber Wolfgang Hocquél lenkt den Blick nicht nur auf die wenigen Überbleibsel vergangener Bauepochen, sondern auch auf jene Bauten, in denen sich das moderne, großstädtische Leipzig manifestiert. Denn ohne den Aufstieg zur Großstadt und den Erfolg von Messe, Handel und Gewerbe, würde sich heute niemand wirklich für Leipzig interessieren. Es sind diese von namhaften Architekten gebauten Prachtgebäude, die schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert vom Stolz ihrer Besitzer auf ihren Erfolg erzählen – aber auch von ihrer Verbundenheit mit der Stadt, in der sie ihre Geschäfte betrieben.
Ein Gang durch die Stadt ist ein Gang durch die Geschichte. Und oft genug steht das Alte übergangslos neben dem Neuen. Ist das nun weniger gelungen?
Das entscheiden am Ende die Zeiten und die Generationen. Wolfgang Hocquél erzählt lieber die Baugeschichten auch dieser modernen Gebäude, die manchmal monatelang für Aufregung in den Gazetten sorgten. Heute nimmt man sie kaum noch wahr, sind sie verschmolzen mit einer vielgestaltigen Architekturkulisse, aus der das Neue längst nicht mehr wegzudenken ist. Auch von manch eindrucksvoller alter Fassade steht oft nur noch diese – und verhüllt eine komplett neue Innenausstattung.
Eine Stadt in steter Veränderung
Aber zur Entstehung dieser Gebäude – man nehme nur den neuen Universitätscampus mit einer der Paulinerkirche nachempfundenen Aula – würdigt Hocquél eben auch die Architekten, die sich ja meist in aufwendigen Architekturwettbewerben durchgesetzt haben und Jurys immer wieder auch mit unkonventionellen Lösungen überraschten. Man denke nur an die Katholische Kirche St. Trinitatis am Martin-Luther-Ring (die ihre Hausadresse aber in der Nonnenmühlgasse hat).
Manche Stadtbewohner regen sich auch Jahre später noch auf, weil die Architektur sich scheinbar nicht einfügen will. Wer denkt heute noch an das ewige „Loch am Burgplatz“, wo längst der letzte Teil des Petersbogens die Kulisse wieder aufgefüllt hat. Und siehe da: Auf einmal ist der Platz wieder komplett.
Oft stört das, was fehlt, viel mehr als das, was neu entsteht. Jeder neu überarbeitete Architekturführer zeigt eine neue Schicht der sich wieder komplettierenden Stadt. Und er zeigt, wie sehr das zu Besichtigende die Geschichte der Stadt erzählt. Nicht nur in der City. Vier Kapitel entführen die Leser auch in den Nordwesten, Nordosten, Südwesten und Südosten und zu den dort zu findenden markanten Bauwerken, die ebenso zur Identität der Stadt Leipzig gehören – selbst Brücken wie die Brandenburger Brücke oder die Könneritzbrücke. Hat überhaupt schon jemand das maßstabsetzende Brückenbuch für Leipzig geschrieben?
Die einen zieht es zum unübersehbaren Völkerschlachtdenkmal, die nächsten zum Gohliser Schlösschen, andere wieder finden ihre Attraktionen am Bayerischen Bahnhof oder am Lindenauer Hafen. Altbekanntes mischt sich mit jüngst erst Entstandenem. Und mit dem Blättern wird der Eindruck immer stärker, dass Leipzig sein graues Aschenbrödeldasein wirklich weit hinter sich gelassen hat und sich wieder einmal in etwas völlig Neues verändert. Wozu auch Infrastrukturprojekte wie der Bau des City-Tunnels bis 2013 beigetragen haben.
Das Buch lädt geradezu ein, auf Entdeckungstour zu gehen. Egal, ob zum ersten Mal und mit Kopfnicken vor den liebevoll restaurierten Bürgerhäusern in der City – oder mit Neugier auf etwas außerhalb gelegene Sehenswürdigkeiten, zu denen einen die Alltagswege eher nicht führen. Etwa zum Schlosspark in Lützschena oder zu den Musikerhäusern im Grafischen Viertel.
Wer das Buch in der Hand hält, ist jedenfalls wieder auf dem aktuellen Stand. Der lernt auch etliche der heutigen Architekten und Architektinnen kennen, die das Bild des sich verändernden Leipzigs mit ihren Entwürfen prägen. Aber die Alten vergisst Wolfgang Hocquél natürlich auch nicht. Und er erinnert mit diesen kleinen Porträts eben auch daran, dass es kreative Profis sind, die einer Stadt wie Leipzig ihr Gesicht geben. Leute, denen durchaus bewusst ist, dass sich die Betrachter an ihren Bauwerken reiben können, Dissonanzen oft nicht aushalten und oft lange brauchen, sich an neue Eindrücke zu gewöhnen.
So gesehen hilft der Architekturführer auch bei diesem Dilemma. Und natürlich ermuntert er dazu, überall in der Stadt auf architektonische Hingucker zu achten.
Die wichtigsten sind in diesem Band versammelt. Aber natürlich nicht alle. Das würde so ein Buch einfach sprengen.
Wolfgang Hocquél „Architekturführer Leipzig“, Passageverlag, Leipzig 2023, 19,90 Euro.
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