Auch ein Leipzig-Gedicht hat Teresa Balté geschrieben. 2008 war die portugiesische Dichterin an der Pleiße. Geworden ist es ein Liebesgedicht, auch wenn nicht an die Stadt, die kaum Kontur gewinnt. Denn viel überwältigender ist der Frühling: „Atemberaubend, die Schönheit der blühenden Hügel, betäubend der Duft …“ Und dann so ein herrlicher Bruch, der die Zeiten ineinander fallen lässt: „… als wir damals auf der Erde gingen …“

Manchmal ist das so: Man reist an einen neuen Ort, den man noch nicht kennt. Und auf einmal reißt einem die Erinnerung an längst Vergangenes das Herz aus der Brust. Und dabei beginnt diese kleine Auswahl, die Markus Sahr aus dem Werk der1942 geborenen Dichterin zusammengestellt hat, schon mit Liebesgedichten.

Ob sie ihrem Lebensgefährten Hein Semke gelten, verraten diese Gedichte aus der Sammlung „Stationen“ von 1967 natürlich nicht. Auch wenn manches darauf hindeutet, dass hier nicht von jener beliebten schönen Liebelei erzählt wird, die junge Leute so gern in Lyrik verwandeln. Dass hier ein Gegenüber angesprochen wird, mit dem die Dichterin mit allen Sinnen kommuniziert: „Wenn du willst, kannst du mich Regen nennen/oder Frau oder Spiegel oder Musik …“ („Dem Freund dir vielleicht“)

Das „vielleicht“ im Titel ist ein völlig anderes vielleicht, als es in verliebten Neckereien auftaucht. Dieses Vielleicht spricht schon vom Elementaren, davon, dass zwei Menschen hier gerade dabei sind, ein gemeinsames Leben zu formen, in die Hand zu nehmen, zu benennen. Und zwar mit diesem nur scheinbar leicht hingesagten „vielleicht“, das dann eben doch bedeutet: Mit dir könnte ich diesen Weg jetzt gehen. Ohne sich aufzugeben.

Würde und Eigensinn

Was sich erst erschließt, wenn man sich ganz auf diese scheinbar so eigenwilligen Verse einlässt, in denen sich die Sprecherin scheinbar verschließt und verweigert („was mir gehörig ist, liegt tief am Grund“). Da kommt er also nicht heran. Und gerade deshalb bewahren beide ihre Würde und ihren Eigensinn. Wird Liebe aus Respekt voreinander und auch aus Respekt vor dem Geheimnis des Anderen. „Wagen wir das Schwierige“, heißt es in „Komm, zeichne auf meinen Körper die Gesten der Liebe“.

Der Band ist mit Grafiken von Hein Semke angereichert. Seinen Stil beschreibt Wikipedia mit Expressionismus. Sind also auch Teresa Baltés Gedichte expressionistisch? Nicht wirklich. Auch wenn sie scheinbar im Lauf der Jahre spröder werden, abstrakter gar, als würde sich der poetische Moment in die Irritation unserer Welt-Wahrnehmung auflösen. So wie in „Vermittlungen“, einem Gedicht, das 1983 veröffentlicht wurde und so beginnt: „Was fragst du noch? Wo ist Norden?“

Eigentlich ein richtig dynamischer Gedichtbeginn, aus dem so etwas wie eine gemeinsame Reise in diesen Norden werden könnte. Aber schon im nächsten Vers lässt sie den Leser mit dem kollidieren, was in unserer Reflexion über alle Dinge ständig passiert. Wir werden abgelenkt, störende Überlegungen mischen sich ein. Auf einmal ist der ganze Kosmos in unserem Kopf: „die Sphäre, wo wir leben, du ringsum/unsere Atmosphäre, du der Punkt/die Infusion des Mikro-Makrokosmos …“

Du bist, was du denkst

Man ahnt schon, warum andere Lyriker sich da lieber an Rosen, Tulpen und Nelken festhalten. Handfesten und poetisch legitimierten Zutaten für Gedichte. Die auch nicht so verstören, wie es das unverhoffte Gewahrwerden eines unfassbar überwältigenden Kosmos ist, in dem wir uns befinden. Ja, aber wo? Und: Ist das, was wir miteinander erleben, überhaupt real? Oder bilden wir uns das nur ein? Ist es eine Illusion?

„wir hören und sehen uns nicht, so glaubst du, /sondern geschehen nur in einer Kontinuität …“ Wir sind, was wir denken: „… du bist Vase und Regen und Kind/bist das, was du denkst, wünschst oder empfängst …“

Es gibt wenige Lyriker, Lyrikerinnen auch nicht, die sich so ernsthaft auf die Irritationen unserer Welt-Wahrnehmung einlassen. Die sich nicht mit den typischen lyrischen Kleinodien abgeben, sondern das Stutzen und Verwirrtsein zulassen, mit dem sich eigentlich eher Kognitionsforscher und Physiker beschäftigen. Dabei hat Balté „nur“ Germanistik und Musik studiert. Doch auch diese Fächer öffnen die Tür in die Welt unserer Wahrnehmung – und wie wir das benennen und beschreiben, was wir fühlen, denken und erleben.

Was die meisten Menschen sowieso überfordert. Denn das ist unsicheres Terrain, wo oft genug die Worte fehlen. Wo auch die Wissenschaftler anfangen, in Bildern zu sprechen, in Gleichnissen, um überhaupt irgendwie bildhaft zu machen, in was für einer seltsamen Welt wir leben. Eine Welt, die uns eigentlich fortwährend damit konfrontiert, wie unberechenbar und zufällig unser Dasein ist. Und wie verwirrend selbst die menschlichsten Begegnungen.

Was sehen wir wirklich?

Ein Gefühl, das die intensiver beobachtenden Lyriker nur zu gut kennen. Sie spielen damit, frappieren ihre Leser mit Bildern, die das scheinbar so gewohnte Bild der Idylle aufbrechen. Manchmal genügt ein Wort – so wie in „Donaueschingen“, einem Gedicht, das von der tiefen Verbundenheit der Dichterin zu Deutschland erzählt. „In den Weizenfeldern erwacht die wogende/Stille des Windes“, beginnt es. Den schönen alten Stabreim hat hier Markus Sahr untergebracht.

Aber da die Dichterin selbst exzellent Deutsch spricht, hat er sich das wohl vergewissert, ob das so sein darf. Denn tatsächlich spielt Balté ja hier auch mit der Erwartung der Lyrikleser: Wie geht das jetzt weiter? Ein schönes Weizenfeld-Fülle-des-Jahres-Gedicht?

Mitnichten, denn das so friedliche Wogen wird sofort aufgelöst: „wild in den Blütenkronen, sanft bei den Insekten …“ Nur um dann von der Dichterin lustvoll mittendurch gehauen zu werden: „die Peitsche der Schatten“. Es knallt. Obwohl es eigentlich ganz still und friedlich ist. Noch. Denn danach wird es mit dem Schweifen des Blickes sichtlich sehr unfriedlich.

Aber es sind eben keine glatten Gedichte, die ihre Leser tänzelnd bis zur Pointe führen. Sie zwingen zum Stutzen, Zurückspulen, Verwirrtsein. Und stellen natürlich die Frage, die wir uns – wenn wir uns mal nicht mit irgendwelchen Zeitfressern ablenken – ja tatsächlich stellen: Was sehen wir wirklich? Wollen wir es auch sehen? Oder möchten wir nur Idyllen wahrnehmen, schöne poetische Landschaften, an die man auch eine Denkmalschutzplakette kleben könnte?
Orte des Äußerlichen.

Das Verlässliche trügt

Aber so schauen wir eben nicht in die Welt. Und dieser nachdenklichen Dichterin aus Lissabon ist das sehr wohl bewusst. Mitten im „Berliner Idyll“, das sie ebenfalls 2008 schrieb, wird aus einem Tag am Frühstückstisch einer dieser kompakten Momente, in denen die Gedanken abschweifen: „Die Ideen bilden sich zum Puzzle, es gibt keinen Faden mehr, keine Folge …“ Die Vergangenheit ist immer gegenwärtig. Auch in diesem „Berliner Idyll“: „Sehnsucht? Ja, ich sehne mich nach der geschehenen Liebe, – auch sie hatte ihre Zeit: das Glück …“

Ein Gedicht, das sie – wie das Leipzig-Gedicht – auf Deutsch geschrieben hat und dann auch noch ins Portugiesische übertragen hat. Aber auch sie erzählen vom elementaren Da-Sein. Was sich nicht leicht erschließt, weil Balté immer wieder ausweicht, den Fluss unterbricht, das Erwartbare ignoriert und dem Geltung verschafft, was ihr als Assoziation einfällt in diesem Moment, der scheinbar verlässlich ist. Aber das Verlässliche trügt. Die üblichen Bilder sind verbraucht und sie stimmen auch nicht.

Nicht, wenn man wie Teresa Balté selber schaut und den eigenen Gedanken traut, diesen so überraschenden. So wie in „Hymne“, einem 1990 erschienenen Gedicht, das sie mit einer Frage beginnt: „Was sollten wir in der idyllischen Landschaft?“

Eine schöne Frage. Wer wirklich offenen Auges unterwegs ist in der Welt, kennt diese Verunsicherung, wenn ein Ort, ein Moment zu idyllisch ist, zu schön in seiner Stille. So wie es eigentlich auch der erblindete Faust erlebt: „Verweile doch …“

Nur dass Balté – anders als der völlig verkopfte Faust – im Kopf die Dissonanzen der Welt mitbringt in diese durchaus misstrauisch zu betrachtende Idylle: „Den Hunger und den Krieg vergessen/in den Kronen der Pinien …“

Da stutzt man. Also doch so eine, die jetzt das Blau des Himmels besingt? Ganz und gar nicht. Der Vers endet in einer nur allzu skeptischen Frage: „… und in den blauen Kelchen der Glockenblumen?“

Mein Geist ist ein scharfes Messer

Und so macht sie es immer wieder, stößt ihre Leser aus der ach so schönen Eindeutigkeit des ersten Moments. Denn nichts ist eindeutig. Alles hat Erinnerung und Zweifel. Und das Vorbei, das in jedem glücklichen Moment steckt. Komprimiert zum Beispiel in dem Gedicht „Atem“, das mit dem scheinbar so selbstverständlich Aufruf beginnt: „Komm, wir verlassen den Wald …“, nur um in einer Warnung zu enden, die genau von dieser Angst vor dem Vorbei erzählt: „ …rede nicht/vom Ende des Abenteuers.“

Eine kleine, deutliche Absage an den Fatalismus, mit dem so viele liebäugeln, wenn sie das Gefühl haben, sie hätten alles schon erlebt, das Beste läge hinter ihnen, das ganze schöne Abenteuer des Lebens. Kann man natürlich machen und schön schnell trübsinnig und übellaunig werden. Und all die Neugier einbüßen, die einen dereinst hinaustrieb in die Welt.

Aber nicht mit Teresa Balté, die sehr genau weiß (und spürt), wie einen das Erinnern wärmt, wenn man weiterhin relativ neugierig durchs Leben geht: „Sonst laufe ich, ein Schlafwandler/durch die schwarz-weiße Welt, /und mein Geist ist ein scharfes Messer/das die Leere schneidet.“ („Unendlichkeit“)

So entsteht erst Welt in uns, „das unendliche Suchen nach Verbindungen“, die dann – wie in „Hauch II“ – zum Gedicht werden. Denn Welt ist Assoziation, Spiegel und Ahnung. Und Gedichte sind oft das beste Instrument, genau das (vielleicht) zu fassen zu kriegen.

Teresa Balté „Tragbare Horizonte“, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2023, 19,95 Euro.

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