Der Titel sagt alles. Und wird doch manche (Nicht-)Leser überfordern. Denn es steckt eine jener so selbstverständlichen Wahrheiten drin, welche die meisten Menschen gern vergessen, wenn sie sich und nur sich allein zum Nabel der Welt erklären. Oder eben zur Mitte, wie das in Deutschland ganze Parteien tun, die sich für maßstabsetzend und ganz normal halten. „Ich bin die Mitte von allem“, schreibt Hauke von Grimm in „Ich bin die Mitte“.

Es ist eins jener kleinen Kabinettstücke, die sich kurz und bündig vortragen lassen auf den Lesebühnen dieser Stadt, von denen er eine mitgegründet hat: das „Schkeuditzer Kreuz“. Das Buch ist voller solcher Kabinettstücke, mal kürzer, mal länger. Dicht an der Zeit entlang geschrieben, einer Zeit, zu der es eine Menge zu sagen gibt, Kluges und Dummes, wie wir wissen. Erhellendes oder auch Benebeltes.

Doch besuchen benebelte Leute überhaupt Lesebühnen? Wohl eher nicht. Auch wenn es sie bereichern würde. Denn einer wie Hauke von Grimm nimmt das Leben mit jenem ernsthaften Humor, den nur Leute haben, die wissen, dass die Dinge schiefgehen können. Und es auch regelmäßig tun. Und dass man nie allein ist in der Mitte der Welt. Nicht daheim in der Küche, nicht im Supermarkt.

In der Mitte ist es eng

In „Ich bin die Mitte“ lässt es Hauke von Grimm eskalieren. Denn wenn man sich das erst einmal ausmalt, was das letztlich heißt, die Mitte zu sein, dann kennt man auch die Konsequenzen. Dann ist man niemals allein, hat Dinge niemals für sich, muss immer damit rechnen, dass jemand einem den Platz streitig macht und das begehrte Teil aus dem Regal vor der Nase wegschnappt.

Das Normale an der Mitte – und der Autor verwandelt es natürlich in eine fiktive Szenerie – ist schließlich die zwangsläufig damit verbundene Angst, zu kurz zu kommen. Immerzu den Neid der Mit-Mitte-Menschen auf sich zu ziehen. In der Mitte ist es eng, weil alle da sein wollen, egal, ob ein bärtiger Dichter gerade den Mittelpunkt bildet und alle ihm nachdrängeln.

Man merkt es beim Lesen, dass alle diese kleinen und etwas längeren Texte in den letzten Jahren entstanden sind. Allesamt Reflexionen und Fantasien über eine Welt, die mit ihrem Wahn, überall Mitte sein zu wollen, völlig aus dem Lot geraten ist. Und aus der Fassung sowieso. Denn auch das gehört zur Mitte: die Not, nie genug Platz zu haben, immerzu „Ich!“ schreien zu müssen, auf seinem Recht und seiner Vorfahrt zu beharren. Und stets verdrängen zu müssen, dass alle anderen auch genau dahin wollen.

Der Klügere gibt nach

So wie im Straßenverkehr, über den Hauke von Grimm eine ebenso kuriose Geschichte geschrieben hat – aus bester Leipziger Erfahrung. Denn im Straßenverkehr überlebt man – wenn man nicht gerade einen bulligen Panzer fährt – mit ein paar Regeln, die Hauke von Grimm in einer eindrücklich knappen Art schildert.

Denn Erfahrung macht klug: „Die erste und wichtigste Regel im Verkehr ist, immer mit der Dummheit der anderen zu rechnen.“ Klingt gemein? Ist aber Lebenserfahrung. Da ist es egal, ob man mit vier oder zwei Rädern unterwegs ist, zu Fuß oder mit dem Moped wie der Held in einer dieser Geschichten. Die Knochen, die man sich beim Regeleinhalten brechen kann, sind in der Regel nicht die Knochen der Leute, die sich im Verkehr dumm benehmen – oder rücksichtslos, weil PS-Stärke frei macht, nach Ferdinand Porsche.

Aber es geht weiter: „Die zweite ist, der Klügere gibt nach, und die dritte ist, der Überlegene ist freundlich.“ Man erkennt sein Leipzig schon wieder. Und könnte, wenn man sich dran hält, tatsächlich bis zur nächsten Lesung überleben. Indem man die Dummen einfach ihr dummes Ding machen lässt und sich möglichst raushält, zurückhält und freundlich bleibt. Der Rest ist dann die Wirklichkeit: „Würden sich 51 % der Menschen auf den Straßen danach richten, wäre da draußen nicht so eine verfluchte Kacke am Laufen.“

Und sie ist ja nicht nur im Verkehr. Sie begegnet uns auch in menschlichen Begegnungen, die oft – wie in „Wie man in einen Wald reinrufen könnte“ – ganz und gar nicht mehr zwischen-menschlich sind. Sondern eher so mittig, weil man ja, wenn man Mitte ist, nicht höflich und respektvoll sein muss. Sondern eher seine Vorstellungen von „Werten“ und ähnlichem Gebimsel rücksichtslos vertritt und erwartet, dass andere dem beipflichten. Gehorsamst.

Bis in die Party hinein, bei der – wie in „Nicht Fisch noch Fleisch“ – der arme Vegetarier am Grill landet und sich zur angeblafften Dienstmagd degradiert sieht. Denn wenn die Mitte vorm Grill steht, steht dahinter natürlich ein Mensch, der Befehle auszuführen hat.

Auch wenn er hier nicht sagt, dass die Party-People eigentlich auch wieder nur schulmeisternde Mitte-Sprösslinge sind.

Wenn man den Leuten entkommen möchte …

Wo aber ist der Dichter? Fährt er nicht nachts durch Leipzig? Tut er. Er erzieht sogar Kita-Erzieherinnen, die seinem Sohn einreden wollen, er habe an den Weihnachtsmann zu glauben. Und Lehrerinnen, die glauben, Leseautoren würden ihre schlecht erzogene Klasse erziehen. Bei deutschen Senioren, die mit ihm im Flugzeug auf die Balearen oder Azoren fliegen, hält er sich zurück, denn in der zusammengepferchten Flugzeugkabine weiß man ja nie, wie das Ganze endet.

Auch so ist der Flug schon Horror genug. Am Reiseziel kann er ihnen ausweichen, denn die Insel ist groß, wenn die Alten sich am Pool um die Liegestühle balgen.

Wobei: Macht er sich denn nicht einfach nur lustig über einfache Leute? Nicht wirklich. Er meint es ernst. Und wer wie er die Scheu vor selbstgerechten Menschenmengen verinnerlicht hat, wird ihm das nachfühlen. Mittendrin erzählt er dann einfach Geschichten, die geradezu kleine Juwelen der Liebe sind. Erschütternd liebevoll gemalte Klein-Geschichten wie „Kasse zwei bitte“ oder „Lucky Seven“, die zwar tragisch ausgeht, aber irgendwie doch von Niederlage und Liebe erzählt.

Und dem, was man nicht mehr draus machen kann, wenn man nicht mehr weiter weiß.

Aber man merkt auch, dass Hauke von Grimm nicht anders kann als Autor, als Dinge bis zu Ende zu denken. So wie im „Camping“, in dem er einen Aussteiger auf einem Campingplatz (natürlich einem ostdeutschen) dem Alltag entfliehen lässt, einem der noch nicht so überlaufenen Orte, weit weg von den Touristenhotspots, wo sich alle natürlich über den Weg und die Füße laufen.

Oder in „Im Garten“, wo er mit deutscher Belehrungsrhetorik einem pingeligen Wegwart die Leviten liest. Eine zweischneidige Geschichte, die aber sehr viel erzählt über Respekt und den Ton, bei dem einige ältere Mitmenschen erst innehalten und anfangen, sich zu beherrschen.

Wenn Geschichten gar nicht gut ausgehen

Es gibt eine Menge Leute da draußen, die ihre Regeln haben und die Hacken zusammenknallen, wenn man ihnen die Regeln um die Ohren haut. Und die Erwartungen haben und gedankenlos einfach weiter lärmen und nerven. Selbst im Lockdown noch, in dem ein Hauke von Grimm froh ist, endlich mal all die Nervensägen losgeworden zu sein und etwas Ruhe zu finden.

Was man ja im höheren Alter darf. Und trotzdem muss man die Nervenden und auf irgendwelche privaten Einblicke in fremde Wohnungen Versessenen auch mal daran erinnern, dass man nicht skypt. Und auch nicht aus dem Homeoffice in anderer Leute vermüllte Wohnungen schauen möchte.

Manchmal hat man einfach genug von den seltsamen Anwandlungen einiger Mitmenschen. Oder der Qual, mit der schönen Frau auf der Straße unbedingt reden zu müssen, wenn sie einen schon so erwartungsvoll anschaut („Zu schön, um wahr zu sein“).

In „Wandern lernen“ hat Hauke von Grimm die durchaus beängstigenden Seiten der gerade erlebten Pandemie weitergedacht. Denn was passiert, wenn ein Virus umgeht, das tatsächlich für die meisten Menschen tödlich ist und die Leute dahinrafft, mitten in einem völlig gedankenlosen Alltag? Und dann nur wenige übrig bleiben, so wie der Held in dieser Geschichte.

Denn was bleibt von unserer Zivilisation, wenn tatsächlich so eine Seuche um sich greift? Rafft es die gedankenlose Menschheit dann tatsächlich einfach dahin?

Weihnachtsmoral

Am Ende predigt er dann als Reverend Grimm einfach die Liebe – in Freud und Leid, Hauptsache in gegenseitigem Einvernehmen. Das ganz unübersehbar fehlt in einer Welt der falschen Moral, der verlogenen Keuschheit, wo überall die größten Lügner behaupten, sie seien frei von Sünde. Die mag Reverend Grimm in seiner Gemeinde nicht dulden.

Und das kommt einem doch sehr vertraut vor. Denn wie überlebt man eigentlich in dieser von Konsum und Eitelkeit besessenen Welt, wenn man Lügen einfach nicht aushält? Gar die ganzen Lügen, die sich am Jahresende ballen, wenn einem überall Weihnachtsfriede vorgeheuchelt wird, obwohl es nur um Konsum und Profit geht bei einem völlig verkommenen Fest, bei dem drei Dinge völlig verschwunden sind: Ruhe, Frieden und Besinnlichkeit.

Da kann sich auch der arme Autor nur durchsaufen bis in den Januar, um dann erfreut die schöne Tristesse eines völlig farblosen Monats zu finden. Seine „Weihnachtswut“ jedenfalls hat er schon in Worte gebündelt. Auch wenn dann noch ein paar Weihnaschtsgeschichten folgen, in denen auch der Grinch zu Wort kommt. Wohl wissend, dass das nicht viel helfen wird in einer Welt, in der grinsende Weihnachtsmänner „Inkontinenz-Windeln, Klopapier und Analplug“ anpreisen.

Panische Kuschelgruppe

Die in diesem Buch gesammelten Kurzgeschichten und Gedichte lesen sich zwar, als hätte Hauke von Grimm endlich mal alles, was er auf der Bühne schon mal sagen wollte, in ein Buch packen wollen. Nicht sein erstes übrigens, das erste veröffentlichte er dereinst in der Leipziger Edition PaperONE, die er mitgegründet hat und deren Autoren man heute bei Outbird wiederfindet.

Aber gleichzeitig ist dieser Reigen an Geschichten die Beschreibung einer Welt, in der die Panik direkt aus der Mitte kommt. Jener Kuschelgruppe, in der sich alle einreden, alles ginge immer so weiter und wer etwas anderes sagt, ist ein Terrorist. Ein Störenfried zumindest, ein unerwünschter Bote, der das Gefühl der sich auflösenden Sicherheiten verstärkt.

Die niemals Sicherheiten waren, immer nur Einbildung einer humorlosen Welt, die ihre eigene Geschichte nicht kennt.

Nicht einmal die in einem doch etwas fragmentarischen Osten, an den sich Hauke von Grimm durchaus noch erinnert, denn da war er Kind und Jugendlicher. Und hat sich auch etwas bewahrt davon. Die Fähigkeit, das Überraschende im Leben anzunehmen, wie es kommt. Wissend, dass es eigentlich gar nicht viel Hokuspokus braucht im Leben, um Momente des Glücks zu erleben.

In „Was ich mir wünsche“ erzählt er ein bisschen davon. Das ist auch – so betrachtet – ein kleiner Abgesang an die idiotischen Vorstellungen vom Glück einer Gesellschaft, die Glück nur über Haben und Scheinen definiert. Aber nicht über Zufriedenheit oder einen Monat, in dem das Gehalt mal bis zum Ende reicht. Man merkt schon, wem sich dieser Bühnenautor besonders nahe fühlt. Es sind ganz bestimmt eher die Moped-Fahrer und die Leute, die schon froh sein würden, wenn wenigstens ein Jahr mal Weihnachten ausfällt.

Hauke von Grimm„Die Mitte bin ich“, Edition Outbird, Gera 2023, 13,90 Euro.

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