Die Werkausgabe des Leipziger Dichters Andreas Reimann mausert sich. Der nunmehr schon sechste Band vereint seine Italien-Gedichte. Ist Italien denn ein so poetisches Land? Natürlich. Und man muss gar nichts Neues entdecken wollen, um die Poesie dieser Landschaften zwischen Venetien und Sizilien wahrnehmen zu können. Nur touristisch eilig darf man es nicht haben. Denn der größte Zauber ist die Zeit.
Es geht nicht darum, alles gesehen zu haben, jede Sehenswürdigkeit fotografiert zu haben, überall mal posiert zu haben, mit der Geste „Seht ihr, ich war hier!“ So entdeckt man weder die Schönheit noch die Seele eines Landes. Dazu muss man sich herausnehmen aus dem Befehlston der Zeit, dem „Musst du gesehen haben“. Nichts muss man.
Nur verzichten vielleicht auf den Flug über die Alpen. Einmal muss auch Reimann das so gemacht haben – und war am Ende zu recht entsetzt. Denn mit dem Flugzeug ist jede Ankunft wie ein Absturz.
Es ist das falsche Zeitempfinden. Weshalb der Dichter lieber mit dem (Nacht-)Zug fährt. Mit leichtem Gepäck. „Nimm deine habe, von der du nichts hast, und verstreu sie am wege / wandle zum bahnhof, steig leicht in den Zug – ein billet wär zu schwer schon -: …“ („Die Gezeiten des Blaus“)
Liebe suchen in Italien
Denn was braucht man schon zum Leben? Und: Was ist Leben? Ist es nicht das Erlebnis des „rauschenden Blaus“? Reimann schreibt keine lärmenden Gedichte. Er will weder die Zeit deuten, noch das Treiben der Menschen. Das ist ihm fern. Er schreibt über das Leben, so wie es ihm begegnet. Und weiß, wo er es am intensivsten empfindet. In Italien. Am stärksten vielleicht sogar am Gardasee, wohin es ihn immer wieder zieht. Er weiß, dass andere schon vor ihm da waren und dass er auf ihren Spuren läuft. Goethe, Platen, Kästner, Kesten …
An Goethe kann man sich reiben. An dieser italienischen Reise des in Weimar gestrandeten Dichters, der nach zehn Jahren Amtsverwaltung merkt, dass er den Dichter in sich verloren hat. Und – vielleicht – den liebesfähigen Mann noch nicht gefunden. Darüber wundert sich die Literaturwelt ja nun seit Jahrzehnten. Hat Goethe tatsächlich in Italien zum ersten Mal … ?
Darüber kann auch Reimann seine listigen Zeilen schreiben. Denn es Goethe nachzutun, liegt ihm fern. Er ist nicht auf der Flucht vor Amtsgeschäften, muss keinen Fürsten gnädig stimmen. Und Italien entdecken für das nichtbereiste Publikum daheim muss er auch nicht erst. Das kennt es schon.
Oder kennt es eben nicht, weil es nicht liest, was andere schon sahen, da unten im Land der Zitronen, wie es so schön heißt. Die Reimann aber auch nicht interessieren. Er fährt – „einmal im Jahr“ -– nicht in den Süden, „um mich auszuruhen“, sondern um aufzuwachen.
Aufwachen am Gardasee
Was in Sonetten, Oden und Elegien in diesem Band dicht und atmosphärisch mitzuerleben ist. Er muss sie gar nicht alle benennen, die er schon kannte, bevor Italien sich für ihn öffnete, die Dichter. Rilke erwähnt er gar nicht, aber die „Duineser Elegien“ sind genauso gegenwärtig wie Goethes „Römische Elegien“. Genauso wie Dantes Verse. Reimann beherrscht die klassischen Formen, auch da, wo er sie voller Genuss abverwandelt, Neruda mit Klopstock verschmilzt – die Freude am Essen eines Fisches mit der feierlichen Form der Ode.
Das nur nebenbei. Es ist der Ton, die Melodie, die sich ihm geradezu schwerelos fügt, wenn er die Abende schildert, die Gassen zum Markt, das Blau des Sees, das Gefühl, eins zu werden mit Landschaft und Licht. Und dem ganz Großen, das wir im knurrigen, gräulichen Norden so selten spüren: „Dreht der Planet sich in sonnige helle …“
Einer wie Reimann reist stets mit einer Bibliothek im Kopf. Und konterkariert mit inniger Liebe die allgemeinen Wahr- und Weisheiten der Leute – über den David, die Ruinen des alten Rom, die Fontana di trevi. Oder die riesige Kuppel des Petersdoms, die genau das verheißt, was der alte Mann, der da regiert, so gern verdammt. Wenn er genau hinschaut, sieht der Dichter: Lebenslust, Verlockung und Schönheit.
Kaputtes in Rom
Und er fühlt sich Platen verwandt und Thomas Mann. Und weiß, dass auch die alten Römer schon solche Vieldeutigkeiten kannten: „Das groß kaputte trifft aufs kleine ganze / Und wird nicht herr des kichernden Gelüsts.“ Und Kaputtes steht genug herum in Rom, Florenz, Palermo. Und selbst beim Aufstieg auf den Ätna weiß Reimann seinen Zeugen aus griechischer Zeit – Empedokles, dem die Legende zuschreibt, er habe seinem Leben mit einem Sprung in den Schlund des Ätna ein Ende gesetzt.
Wer belesen reist, sieht natürlich mehr. Sieht vor allem das Vergängliche in der Schönheit des Moments. Jeder Vergleich liegt nahe. Aber schauen muss jeder selbst. Und genießen. Und dazu braucht er Zeit. „Was ist freiheit? Diese parmaschinken / in scheiben, blattdünn, und ein glas soave …“ Freiheit ist, wenn man es aufmerksam betrachtet, das simple Sein. Dasein im erfüllten Sinn. („so lange mir nicht ausgehn meine schecks“)
Das Gefühl, nichts beweisen, erledigen und tun zu müssen. Seinem Lieblingsort Malcesine widmet Reimann gleich einen ganzen Strauß von Stanzen. Von der Form her also ein Gruß an Ariost und Tasso. Auch wenn es in seinen Stanzen ums pure Schauen und Leben geht.
Und die beruhigende Einsicht, dass man nichts verlieren kann, wenn man nichts besitzt.
„‚Ich habe nichts, ich hab nichts zu verlieren!‘“ : / wann lief mir dieser spruch auf das papier“, fragt er und sieht die Eidechsen huschen. Bis sich der Gedanke einschleicht, der ihn am Ende zunehmend beunruhigt. Denn Italien ist nur ein Traum, weil er nur eine Zeit lang hier verweilen darf. Dann geht’s zurück: „Da droht der abschied. Gib mir deine hand. / Wenn jetzt ich heimkehr, dann als emigrant.“
Das ist ein anderer Abschied als der, den man als Tourist empfindet, wenn man im Zimmer seine Koffer packt. Italien ist kein Urlaub für Reimann. Sondern ein anderes Lebensgefühl, in das er jedes Mal mit allen Sinnen eintaucht. Wissend, dass er über die Berge zurückkehren muss. Immer wieder. Auf Goethes Spuren und doch völlig anders: „Nu sitz ich dichter hier an goethes stell / voll glück und wehmut und die glocken dröhnen.“
Wo ist das wirkliche Exil?
Er musste keine Frauen finden, die ihm erst die sinnliche Liebe beibringen. Italien ist ihm eher eine Zuflucht auf Zeit, die er jedes Mal wieder verlassen muss. Und alles Leichtnehmen funktioniert nicht: „in kühler frühe werde ich genießen / noch einen kaffee aus gebrauchter tasse / und einen grappa. – Ich bin ausgewiesen.“ Was für ein so schön doppeldeutiges Wort, das an jenen schönen alten DDR-Witz erinnert, in dem ein Vopo den ertappten Bürger fragt: „Können Sie sich ausweisen?“- Und der nur seufzend antwortet: „Schön wär’s.“
Und wie geht’s bei Reimann weiter in diesem Gedicht? – „Was hab ich bloß fürn wasser im gesicht? / Der aufsteht jetzt und geht: ich bin es nicht.“
So geht es einem, der sich – wieder – ganz und gar da fühlen durfte, eins mit dem Licht, dem Blau, dem Ort. Und einer reist ab und weiß noch lange, dass er seine halbe oder ganze Seele zurückgelassen hat. Die wird erst später, viel später nachkommen können, wenn sie sich endlich lösen kann. Und nachreist dem, der da im knurrigen Norden seine Tasche auspackt: „Es kommt ans licht die schlanke grappa-flasche / und ein billett, verwandelt zum kassiber …“
Da darf man wieder stolpern. Es fällt nicht groß auf bei Reimann, dass er immer auch sein eigenes Leben mit erzählt, wohl wissend, dass man die Welt nie voraussetzungslos oder gar unberührt anschauen kann. Die Vergangenheit ist immer mit dabei.
Und sie steckt auch in diesem Kassiber, der an die zwei Jahre erinnert, die Reimann von 1968 bis 1970 im Knast saß, weil er gegen den Einmarsch der Truppen in Prag protestiert hatte.
Andreas Reimann muss sein Leben nicht verleugnen. Und darf auch die alten Wunden benennen. Was er zurückhaltend tut. Ganz vorsichtig. Denn erzählen möchte er ja von etwas anderem, der atemlos machenden Intensität, mit der er in Italien das Leben empfinden kann. So intensiv, dass es eine Rückkehr ohne Trauer nicht geben kann: „Und ich hock da in einer freude asche / und sehne mich ins lichtere hinüber …“
Die Freude am Nichterreichen der Gipfel
Da hat er dann auch gleich wieder den Goethe-Ton getroffen, das Hymnische, mit dem auch der Staatsrat aus Weimar Schwung nahm, wenn er von Dingen dichten wollte, die ihn doch eigentlich aufwühlten und atemlos machten. So wie Reimann kurz vorm Gipfel des Ätna. Wo der aber umkehrte.
Denn er muss sich und anderen nichts beweisen, keinen Gipfelsturm. Im Gegenteil: Wenn er den Aufstieg nicht vollendet, hat er das Ziel eben noch nicht erreicht. Kann er beruhigt weitermachen. Und seine aufmerksamen Leser so nebenbei auch daran erinnern, wie sinnlos diese ganze Jagd nach Gipfeln und Zielen ist. Dass man dabei das Eigentliche völlig aus den Augen verliert, weil das nun einmal nur erlebbar ist, wenn man sich Zeit lässt und einlässt auf die Stunde.
Es kann auch die blaue sein. Sodass eben auch eine ganz eigenwillige Interpretation von Klingers „Die blaue Stunde“ ins Buch fand.
Aber diese Umkehr vorm Gipfel, die ist so typisch für ihn, so verständlich und menschlich, dass wir sie zum Schluss noch zitieren müssen, weil auch das ein verkapptes Zitat aus feudal-planwirtschaftlichen Zeiten ist: „Da kannst du nun allerdings / weiterleben, nämlich: weil du / nicht erreicht hast dein ziel.“
Das ist nämlich das Leben selbst, das seine Fülle gerade aus dem Unerfüllten gebiert. Und uns bereichert, weil wir ablassen können, alles zu erreichen. Gar die Ziele, die andere verkündet haben. Göttergleich, als stünde ihnen das zu. Wer ist da Hephaistos? Und wer ist „der teufel, an den du nicht glaubst“?
Es liest sich oft so einfach, so schwebend, wie Reimann sein Italien mit allen Sinnen genießt. Aber im Subtext steht immer ein wieder ein „Seht ihr das?“ an die Adressaten daheim, die sich verbisssen durch Päne und Ziele arbeiten. „Das leben: ‚Nimms einfach!‘, so hieß es, und waren / die worte gedacht zur ermunterung stets: / hier waren sie endlich / forderung auch.“ („Das fest“)
So kann man auch leiden an dem Land, das einen ausgespuckt hat und oft genug schäbig behandelt, mit Forderungen geplagt und Ansprüchen, wie einer richtig zu leben, zu wachsen und zu funktionieren hat.
Und in Italien kann Andreas Reimann das alles abwerfen und solche Zeile schreiben, die im Grunde alles sagen beim Anblick der feiernden, „unverwundeten leute“: „Da stand ich erschüttert und heulte / vor freude und hemmungslos.“ Auch das ein Moment, in dem alles zusammenfällt – das Vergangene und der gegenwärtige Moment: Da ist er „ein kind und ein greis“.
Andreas Reimann „Die Gezeiten des Blaus, mit Zeichnungen von Rainer Ilg“, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2023, 26 Euro.
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