Mit Karten kann man sehr schön zeigen, was eigentlich die Besonderheiten eines Landes ausmacht. 2022 hat der Katapult Verlag schon ein Buch mit 100 Karten zur Ukraine vorgelegt, das durchaus für viele Leser überhaupt erst einmal gezeigt hat, dass die Ukraine ein sehr eigenständiges und unverwechselbares Land ist. Aber längst ist gleichsam offenkundig, dass auch Russland für viele so etwas ist wie eine Schimäre.

Das Bild, dass viele Deutsche bislang mit Russland verbanden, war – um es mit Joachim Gaucks Worten zu sagen – sehr verzerrt. Man wollte in diesem riesigen Land einen verlässlichen Handelspartner sehen, der sich an demokratische Spielregeln hält und Konflikte auch ganz zivil und in friedlichen Gesprächen löst.

Und ignorierte dabei gründlich, dass es Russland eben gerade nicht geschafft hatte – wie die meisten anderen osteuropäischen Staaten – die tatsächliche Zeitenwende von 1990 dazu zu nutzen, sich zu einer modernen Demokratie zu entwickeln. Dazu waren die imperialen Beharrungskräfte des einstigen sowjetischen Riesenreiches zu groß. Und die radikalen neoliberalen Reformen in der Jelzin-Zeit haben eben keine freie, unabhängige Marktwirtschaft zur Folge gehabt, sondern eine Konzentration der Reichtümer und lukrativen Unternehmen in den Händen weniger superreicher Oligarchen.

Alle Macht dem Staate

Und daran hat sich mit der Machtübergabe an den ehemaligen KGB-Offizier Wladimir Putin nur insofern etwas geändert, als der neue Mann die alten Oligarchen entweder entmachtete oder Folgsamkeit erzwang. Und dabei den Zugriff des Staatsapparates auf strategisch interessante Unternehmen wie Gazprom arrangierte. Das ist dann so ein Staatskapitalismus der neuen Art, in welchem dem Herrscher im Kreml nicht nur der komplette Staatsapparat samt Polizei, Geheimdienst, Armee und Justiz gefügig ist, sondern auch die Wirtschaft.

Wie mit Putin das Denken des alten Imperiums wieder zur Staatsdoktrin wurde, hat Martin Schulze Wessel ja in seinem Buch „Der Fluch des Imperiums“ genauer beschrieben.

Dass das trotzdem etwas komplexer ist, als es in den üblichen farbigen Karten aus dem Katapult Verlag darstellbar wäre, zeigt dieses Buch, das ohne ausführlichere Begleittexte nicht auskommt. Und ohne den eitlen kleinen Mann im Kreml zum Bedauern der Autorinnen und Autoren leider auch nicht.

Immerhin reiht er sich ein in eine lange Reihe von Kreml-Herrschern, Zaren, Zarinnen, Generalsekretären und Präsidenten, die eben – siehe Wessel – kein Russland als Nation zum Ziel hatten, sondern den Aufbau und den Erhalt eines Imperiums, das sich die Länder zahlreicher umher wohnender Völker meist durch kriegerische Eroberungen einverleibt hat.

Ein kleines bisschen Freiheit

Dieses Wachsen und am Ende auch Schrumpfen des russländischen Imperiums findet man auf einer Karte genauso dargestellt wie den Zustand der Pressefreiheit in Russland, die Todesfälle durch Alkoholmissbrauch auch im Vergleich mit deutlich mehr konsumierenden anderen Europäern. Dazu kommen die in Gefängnissen und Lagern inhaftierten Menschen, das einstige Gulag-System, das in einigen Teilen heute noch existiert, oder der Freiheitsindex, der beschreibt, wie viele Rechte die Bürger eines Landes eigentlich haben.

Und natürlich verwundert es nicht, wenn Russland im Freedom House Index nur 16 von 100 Punkten erreicht, also eben nicht mehr als den Status einer Diktatur, die Bürgerrechte staatlicher Willkür unterstellt.

Man sieht die vielen Kriege und Konflikte, in denen russische Truppen und diverse Söldnereinheiten wie die Wagner-Truppen seit 1990 aktiv waren. Man erfährt etwas zur russischen Buchzensur, zur Raumfahrt, die von Anfang an auch im militärischen Wettrüsten eine zentrale Rolle spielte, etwas über den armen Hund Laika und die russischen Großmachtträume am Nordpol.

Für alle, die sich tatsächlich ernsthaft mit russischer Geschichte beschäftigt haben, dürfte vieles nicht neu sein – auch wenn es in den Karten und Grafiken sehr anschaulich gemacht wird.

Aber wer sich wie so viele deutsche Politiker (und zwar nicht nur die aus Schröders „Moskau-Connection“) immerfort Illusionen über den imperialen Charakter russischer Politik gemacht haben, der wird hier mit den eher nicht so schönen Seiten eines Landes konfrontiert, das sich seinerseits seine Illusionen über den Westen aufgebaut hat und in der eigenen Propaganda-Blase schwimmt – seit der Annexion der Krim 2014 erst recht. Von dem Krieg, den Putin so beharrlich als „Spezialoperation“ verniedlicht, ganz zu schweigen.

Lauter Lust am Leiden?

Da fragten sich natürlich nicht nur die Autorinnen und Autoren dieses Buches, ob das am Ende nicht doch an der so gern beschworenen russischen Seele liegt und Typen wie Dostojewski, Tschechow und Puschkin mit ihren schwermütigen literarischen Texten gar schuld daran sein könnten.

Oder lag es gar an Babajaga, die im russischen Märchen eine meist sehr zwiespältige Rolle spielt. Ist es wirklich das innigste Bedürfnis des russischen Volkes, immerzu an allem zu leiden, wie Dostojewski einst schrieb? Oder wird das Leiden nicht eher zu einem weit verbreiteten Phänomen, wenn Menschen systematisch in der Unmündigkeit gehalten werden? Denn nicht einmal die „Bauernbefreiung“ unter Zar Alexander II. (1855 – 1881) hat ja bekanntlich die russischen Bauern aus ihrer Armut geholt, da sie nun auf einmal das Land, das sie als Leibeigene zu bewirtschaften hatten, von ihren Gutsbesitzern abkaufen mussten.

Die Gutsbesitzer fuhren dann mit ihren neuen Reichtümern nach Baden-Baden in Deutschland, während die Bauern arm blieben, abhängig und den Mächtigen ausgeliefert, die wenig Interesse daran hatten, Russland zu modernisieren. Und als sie es dann – ab Lenin und Stalin – taten, taten sie es auf den Knochen der Menschen. Die jüngere „Tauwetter“-Literatur wird zwar nicht erwähnt. Aber sie erzählt von diesem tief in der Gesellschaft verankerten autokratischen Denken, das die Menschen immer nur als „Rädchen im Getriebe“ betrachtete und Opposition und Eigensinn stets misstraute, verbot, vertrieb, vernichtete.

Politik mit Öl und Gas

Dass es auch liebenswerte Dinge gibt, die man an Russland tatsächlich mögen kann, lassen die Autorinnen und Autoren des Buches gar nicht außen vor. Immerhin kommt Tetris genauso aus Russland wie das Bolschoi-Ballett und die Matrjoschka. Gas und Öl dafür nur noch auf Umwegen – jene beiden Erpressungsmittel, mit denen der russische Präsident glaubte, den Westen unter Druck setzen zu können.

Dass sein Land bis heute keinerlei Anstrengungen unternimmt, die 2015 in Paris vereinbarten Klimaziele auch nur anzustreben, wird natürlich genauso grafisch deutlich gemacht wie die Rolle von Flughäfen und Eisenbahnen in diesem riesigen Land.

Und selbst den Baikalsee, den größten Süßwassersee der Erde, bringen die Kartenmacher ins Bild – in diesem Fall einfach, indem sie ihn mitten in Deutschland platzieren. Was ganz ähnlich wie die Russland-Afrika-Karte auf dem Cover deutlich macht, was für ein riesiges Land man da vor sich hat, das aber in den größten Teilen nur dünn besiedelt ist. Die größten Städte samt der Mega-Metropole Moskau befinden sich alle im Westteil des Riesenreiches, dessen Flaggenfarben einst Peter der Große in den Niederlanden sah und in der russischen Trikolore nachvollzog.

Freilich mit anderen Konnotationen. Selbst die Freiheit steckt farblich drin, was nach allem, was man über russische Zaren und Präsidenten erfahren hat, zumindest seltsam wirkt.

55 Karten über Russland“, Katapult Verlag, Greifswald 2023, 20 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar