„Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist? Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! Der dort ruhig über die Straße geht, ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde, die in Not sind?“ Dies schrieb der Mittdreißiger und Exilant Bertolt Brecht, der sich nach der brutalen Machteroberung durch die Hitlerfaschisten nach Dänemark in Sicherheit bringen konnte.
Er war nicht der Einzige, der sich nach Hitlers Machtübertragung 1933 verwundert fragte, welche Zeiten das denn seien, die sich das „Land der Dichter und Denker“ selbst herbei gewählt und sich damit das dunkelste Kapitel neuerer Geschichte eingebrockt hatte.
Das Gros der deutschen, progressiven Wissenschafts- und Kulturelite hatte im Zuge der ideologischen „Gleichschaltung“ 1933/34 das Land verlassen müssen, wollte man nicht das schreckliche Schicksal der ersten Verhafteten nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 teilen, die in den nazistischen Folterkellern misshandelt und ermordet wurden. Vieles ist uns bekannt.
Viele Widerstandskämpfer (nicht nur) junger Generation unbekannt
Die Namen der ersten Opfer wie der junge Bruno Tesch aus Hamburg, die noch aus alter Weimarer-Republik-Rache nach Schnellprozessen mit dem Handbeil hingerichtet wurden, erste Verhaftungen und die immer weiter (insbesondere nach der Niederlage bei Stalingrad 1943) steigenden Hinrichtungszahlen von Widerstandskämpfer/-innen in München, Berlin, Leipzig und Dresden.
Auf dem Leipziger Südfriedhof stehen auf dem Ehrenhain Gedenksteine für Antifaschisten wie beispielsweise Georg Schumann, Richard Lehmann oder Kurt Kresse, welche die NS-Strafjustiz noch im Januar 1945 zum Tode verurteilte. Von den Schülern und Schülerinnen in meiner Schule weiß kaum noch jemand etwas mit diesen Namen anzufangen.
Die Verstrickungen und stillen Duldungen der kleinen Leute
Götz Aly (*1947), Berliner Historiker („Hitlers Volksstaat“, „Warum die Deutschen – warum die Juden?“, u. v. m.) beschäftigt seit langem das Problem der Wurzeln und sozial-ökonomischen Dimensionen des Nationalsozialismus, ebenso forscht der renommierte Publizist und Autor stets zu den Verstrickungen des „einfachen Bürgers“ in das mörderische, faschistische System zwischen 1933 und 1945.
Dann ist es für Aly nicht weit zur Frage, was denn aus den „normalen“ Aktivisten, Mitläufern und stillen Duldern des Nationalsozialismus in den beiden deutschen Staaten nach 1945 und danach geworden ist.
Vergangenheit, so Götz Aly, sei nicht zu „bewältigen“, sondern sich vielmehr stets zu „vergegenwärtigen“. Ganz so, wie es die Opfer als antifaschistische Lehre ihren nachfolgenden Generationen weitergeben wollten.
So lesen wir an dem Denkmal für die 1945 ermordeten Antifaschisten auf dem bereits erwähnten Südfriedhof in Leipzig die Worte: „Nicht an unseren Gräbern zu weinen seid ihr da, sondern von unseren Gräbern sollt ihr den Glauben und die Stärke für das Große und Gerechte mit heim tragen für eine bessere und schönere Zukunft.“ Die Gräber der Kämpfer gegen die Nazidiktatur werden heutzutage kaum von Weinenden besucht – den „Glauben für das Große und Gerechte“ – wir arbeiten daran.
Längst nicht nur Gauland und sein „Vogelschiss“
Stattdessen trägt Alys neuestes Werk den provokanten Titel „Unser Nationalsozialismus“. Es konterkariert die „Vogelschiss“-Zuschreibung des AfD-Altvorderen Alexander Gauland, der vor einigen Jahren mit der Bagatellisierung der Naziverbrechen begann, satten Geschichtsrevisionismus im Gepäck. Begann?
Nein. Mitnichten war der AfD-Ehrenvorsitzende der Erste und Einzige im Maschinenraum der Verdrängung und Umbewertung nazistischer Untaten, profitabler Korruption und politischem Opportunismus, der sich nach dem Zusammenbruch des faschistischen Systems in Deutschland entwickelte und vor allem in Westdeutschland unter gehörigem antikommunistischen Dampf stand.
Männer wie Globke, Kiesinger, Lübke und Filbinger standen beispielhaft als ehemalige Naziaktivisten – ja, demokratisch gewählten, staatlichen Einrichtungen – vor, wenn sie es nicht sogar bis an die bundesrepublikanische Regierungsspitze brachten.
Dies allein mit den Wirren und Verwerfungen des Kalten Krieges zu entschuldigen, greife entschieden zu kurz, so der 76-jährige Aly.
„Unser Nationalsozialismus“ ist eine Sammlung von Reden, die Götz Aly anlässlich antifaschistischer Gedenkfeiern und Ehrungen in den letzten Jahren hielt, im Zusammenhang mit seiner wissenschaftlichen und nimmermüden Recherche und dem Schwerpunkt „Kollaboration mit dem Hitlerregime“.
Bundesrepublik: erschütternde Fallbeispiele der NS-Kontinuität
Aly fand dabei immer wieder Zeugnisse und Beweise der „Selbstnazifizierung“ des einfachen Hitler-Deutschen. Auf der anderen Seite aber auch zahlreiche Belege, wie schwer man sich in der Bundesrepublik nach 1945 tat, die nationalsozialistischen Täter zu entlarven und eine glaubhafte antifaschistische Gedenkkultur zu etablieren. Seine Beispiele sind dabei äußerst aufschlussreich und bewegend, mit Erstaunen, Kopfschütteln und Verwunderung zu registrieren.
Sei es die grausige Treuebekundung der Münchener Studentenschaft zur Naziführung im Februar 1943, als ein junges Mädchen und ihr Bruder von der Gestapo verhaftet wurden (Sophie und Hans Scholl) oder die Weigerung des West-Berliner Senats 1967, die Räume der berühmt-berüchtigten Wannseekonferenz (20. Januar 1942) durch eine Gedenkstätte zu würdigen …
Alys Belege der Notwendigkeit antifaschistischen Erinnerns kommen gerade recht. In einer Zeit, wo die politische Gedenkkultur in Sachsen ihren Fokus immer mehr auf die „rote Diktatur“ (1949–1989) legt, die Namen Schumann, Engert, Kresse in der Leipziger Erinnerung verblassen. „Unser Nationalsozialismus“ hilft, nachdenklich zu bleiben.
Und der Brecht bleibt aktuell:
Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
(An die Nachgeborenen)
Götz Aly „Unser Nationalsozialismus. Reden in der deutschen Gegenwart“, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, 25 Euro.
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