Bisweilen hilft mir nachdenken. Also das Danach-Denken. Hat man einen unüberlegten Entschluss gefasst, zum Zeitpunkt der Entscheidung möglicherweise richtig, braucht es manchmal mehr als eine Nacht, darüber geschlafen, um eine Idee reifen zu lassen, einem Gedanken zu folgen, der wichtiger und richtiger scheint. So ähnlich ging es mir, als ich Juli Zehs neuen (Brief-) Roman „Zwischen Welten“ nach interessiertem Lesen wieder zur Seite legte.
Warum? Nicht, dass mich die Zweier-Geschichte zwischen Stefan und Theresa, zwischen Großstadt-Welt und Land-Wirtschaft, nicht bewegte und durchaus „mitnahm“ – ein beneidenswerter Vorzug der schreibenden Juristin Zeh, Gedanken zum Mitdenken und -fühlen ausdrücken zu können – was immer wieder den Bestsellerrang garantiert. Nein, es war etwas anderes, was mich plötzlich ablenkte.
Weglenkte von der soziokulturellen „Dokumentarliteratur“ des 21. Jahrhunderts und von der Wahl-Brandenburgerin Zeh. Im doppelten und dreifachen Sinn. Literatur in der Schule sollte neben der Lesefreude historisches und politisches Bewusstsein schärfen und nicht zuletzt die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen berühren.
Gerade in Zeiten weltpolitischer Veränderungen, die einen ebenso heftigen innenpolitischen Diskurs mit „zeitenwendenden“ Fragen nach neuer Kriegs- und Militärlogik zur Folge hatten, sollten Gedanken und Werke Themen wie Krieg und/oder Frieden wieder stärker in den Mittelpunkt des Unterrichts rücken. Ich fragte die 16-jährigen Jungs und Mädels nach Romanen, Novellen, Geschichten, kurz, nach Werken, die ihnen im Laufe ihrer Schulzeit im Gedächtnis haften geblieben sind.
Nach Süskinds „Parfüm“, Janne Tellers „Nichts“ und einem vereinzelten Lessing-Liebhaber („Nathan der Weise“) kam die Sprache schließlich auf Remarques Weltbestseller und die Geschichte von Paul Bäumer, der im Oktober 1918, am Ende des vierjährigen Völkermordens an der Westfront fiel – an einem Tag, an dem der Heeresbericht meldete, dass „Im Westen nichts Neues“ passiert sei.
Vielleicht kam den Schülerinnen und Schülern dieser Roman aus dem Jahre 1929 auch deshalb gleich wieder in den Sinn, nachdem die jüngste Verfilmung durch Regisseur Edward Berger erfolgreich in der Netflix-Ausstrahlung punkten und gleichzeitig Oscar-Preise bei den diesjährigen Filmfestspielen in den USA abräumen konnte.
Remarques Vorwort zu seiner erschütternden Weltkriegs-Reportage bringt Schluss und Intension des Autors sofort auf den Punkt. „Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.“
Gleiches könnte auch auf die Beschreibung des Nachfolgeromans –„Der Weg zurück“ (1931) – zutreffen, da nun erzählt wird, wie die „Generation, die den Granaten entkam“ sich in der kriegsmüden und revolutionär gestimmten Heimat mühsam bewegt, umschaut, kaum zurechtfindet, sich mit Vorwürfen konfrontiert sieht, mit Ignoranz gestraft oder mit falschem Heldenpathos „bedacht“ wird.
Nachdem im Westen Ende 1918 doch ganz plötzlich etwas „Neues“geschehen ist, woran nach Verdun und den anderen Schlachtfeldern des Krieges niemand mehr so recht glauben konnte: Frieden. Ein Muss für die Schule und den Unterricht. Auch ohne Lehrplandoktrin.
Dieser zwar weniger bekannte, dennoch ebenfalls spannende und eindrucksvolle Roman des deutschen Pazifisten Remarque.
In Zeiten zunehmender Kriegshysterie und aberwitziger Siegesphantasien muss jungen Menschen vor Augen geführt werden, welche Wirkungen und längeren Folgen, Verwerfungen, Traumata ein Krieg mit sich bringt, der nicht den Interessen der Menschen in den Schützengräben entspricht, sondern lediglich Macht- und Herrschaftskalkül dient. Die Verrohung auf den „Feldern der Ehre“ stellt die Introduktion, den Beginn in Remarques Fortsetzungsroman dar, gleichzeitig an den Vorgänger anschließend – das Grauen des Kriegsalltags:
„Wieder kracht es, braust, brüllt, regnet Dreck und Eisen, die Luft donnert, die Erde dröhnt. Dann hebt sich der Vorhang, gleitet zurück, im selben Augenblick heben sich Menschen, verbrannt, schwarz aus der Erde, Handgranaten in den Fäusten, lauernd und bereit.“
Aber es dauert nicht mehr lange und die Kameraden um den Ich- Erzähler Ernst Birkholz (aka Paul Bäumer, der ja schon tot ist) müssen nicht mehr kämpfen, springen, sich ducken, schießen, Handgranaten werfen und Sterbenden die Augen zudrücken …
„Am nächsten Morgen liegen wir zum letzten Male vorn. Es wird kaum noch geschossen. Der Krieg ist zu Ende. In einer Stunde sollen wir abziehen. Wir brauchen nun nie wieder hierherzukommen. Wenn wir gehen, gehen wir für immer. Wir zerstören, was zu zerstören ist. Wenig genug. Ein paar Unterstände. Dann kommt der Befehl zum Rückzug.“
Die Jungen, vielen von ihnen kaum älter als die heutigen Jugendlichen, die Remarques Worten folgen, parallel dem Hörbuch lauschen können, hatten nie etwas anderes „richtig“ gelernt, als eine Waffe zu bedienen, zuzusehen, wie man selbst überlebt, indem man tötet …
„Wir stehen und starren. Die Ferne, der Waldrest, die Höhen, die Linien am Horizont drüben, das war eine furchtbare Welt und ein schweres Leben. Und jetzt bleibt das ohne Weiteres zurück, wenn wir die Füße vorwärts setzen, es versinkt Schritt für Schritt hinter uns, und in einer Stunde ist es weg, als wäre es nie gewesen. Wer kann das begreifen! Da stehen wir und sollten lachen und brüllen vor Vergnügen – und haben doch ein flaues Gefühl im Magen, als hätte man einen Besen gefressen und müsste das Kotzen kriegen.“
Wie kann so eine düstere Stimmung „Lust“ zum Lesen wecken, gar ein Anti-Kriegs-Feuer entfachen? Denke ich zwischendurch. Ich frage die Schüler. „Na ja, semi-interessant.“ Antwortet mir ein Neunmalkluger. Sie ist weit weg, diese Kriegs-Welt. Gott sei Dank, möchte man meinen. Und so denke ich auch. Tun wir alles, damit es so bleibt.
PS. Und dabei sind wir erst am Beginn des Romans. Am Ende sind die jungen Kriegsteilnehmer – so hoffnungsvoll heimgekehrt – erneut zerstört vom Geist der neuen Zeit, die so wenig Verständnis für die Erlebnisse der Generation hat, die „den Granaten entkam“. Ernst Birkholz, der Held des Romans, besitzt zumindest die Hoffnung, dem Trauma des Krieges und seinen Folgen zu entkommen …
„Es gibt vieles aufzubauen und fast alles wiedergutzumachen, es gibt zu arbeiten und auszugraben, was verschüttet worden ist in den Jahren der Granaten und der Maschinengewehre. Nicht jeder braucht ein Pionier zu sein – es werden auch schwächere Hände und geringere Kräfte gebraucht werden. Dort will ich meinen Platz suchen. Dann werden die Toten schweigen, und die Vergangenheit wird mich nicht mehr verfolgen, sondern mir helfen.“
Erich Maria Remarque, Der Weg zurück, KiWi-Taschenbuch, 416 S.
„Überm Schreibtisch links: Der Weg zurück“ erschien erstmals am 31. März 2023 in der aktuellen Printausgabe 111 der Leipziger Zeitung (LZ) und letztmals in dieser Form.
Keine Kommentare bisher