Die Forscher streiten sich noch: Ist das Asperger Syndrom nun eine Krankheit, die medizinisch behandelt werden kann? Oder ist es eine ganz natรผrliche Spielart menschlicher Intelligenz, auch wenn sie den Betroffenen das Leben richtig schwer machen kann? So wie Victor Allmann, dem alter ego von Christian Zierfeld in dessen biografischem Roman โPeinlichste Sehnsuchtโ.
Einem Roman, in dem es eigentlich um die ewigste aller menschlichen Geschichten geht, die Adam-und-Eva- und Romeo-und-Julia-Geschichte. Oder besser nur die Adam- und die Romeo-Geschichte.
Denn die meisten Liebesgeschichten der Weltliteratur handeln ja eigentlich nicht davon, dass sich die berรผhmten Liebespaare bekommen (auch dann, wenn sie sich tatsรคchlich bekommen), sondern von dem Leid, das die Romeos (und manchmal auch die Julias) erleben, wenn sie an ihre Traumpartner nicht herankommen. Oder sich nicht trauen. Oder nicht wissen, wie sie es anfangen sollen โ und oft genug scheitern, abgewiesen, nicht wissen, wie ihnen passiert. Und warum ihnen das passiert. Und so weiter.
Das kann jeder, der daheim eine Romanbibliothek stehen hat, fรผr seine eigene Sammlung durchdeklinieren.
Gerade die berรผhmtesten Erzรคhlungen der Weltliteratur bestehen zu 99 Prozent aus Schilderungen, in denen die Helden ihre Angebetete oder Ertrรคumte oder oft sogar nur Imaginierte einfach nicht kriegen.
Wรผrden sich die meisten Menschen so anstellen wie die Literaturhelden, die Menschheit wรคre lรคngst ausgestorben. Friede ihrer Asche.
Die prรผden 1960er Jahre
Was nicht bedeutet, dass alle diese wackeren Roman-, Drama- und Eposautoren am Asperger- Syndrom litten. Aber es kรถnnte durchaus bedeuten, dass dieses nach Hans Asperger benannte Syndrom eben doch eine Spielart der mentalen Entwicklung ist, die in unterschiedlichen Graden in der Gesellschaft auftritt, manche Menschen nur leicht belastet, andere ins soziale Abseits drรคngt.
Und wahrscheinlich nicht allzu wenige in solche Nรถte bringt, wie sie Victor Allmann hier aus der Erzรคhlerperspektive aufblรคttert, sich dessen nur zu bewusst, wie peinlich das von auรen alles aussehen muss in einer Gesellschaft, in der Sex und Liebe oder das, was manche Leute dafรผr halten, scheinbar billige Ware ist auf dem Markt und jeder mehr als genug davon bekommen kann. Man muss ja nur zugreifen.
Oder etwa nicht?
Da wird es spannend, denn Zierfelds Geschichte handelt in den nach wie vor prรผden und von autoritรคrer Moral geprรคgten 1960er Jahren, jener Zeit, in der die jungen Leute mit Musik und Demos erst so richtig begannen aufzubegehren gegen die muffige Moral ihrer Eltern. Wer die Romane aus dieser Zeit liest, begegnet dieser verkniffenen, tief verankerten Moral, die auch noch die menschlichste Regung zu regulieren und zu kontrollieren versuchte.
Eine Moral, die einem auch aus den groรen deutschen Romanen des 19. Jahrhunderts nur zu vertraut ist. Oder denen der 1920er Jahre.
Zierfelds Buch ist eine Zeitreise eben in eine Epoche, in der man tatsรคchlich kaum unterscheiden konnte, ob die unter ihren Beziehungen leidenden Menschen nun am Asperger-Syndrom litten oder an der verklemmten Moral ihrer Umwelt. Wer war da eigentlich der sozial Gestรถrte, dem soziale Interaktionen schwerfielen? Nur so als Frage.
Was anderen so leicht fรคllt
Denn hinter Victor Allmanns Geschichte steckt ja tatsรคchlich die Geschichte eines vom Asperger-Syndrom Geplagten, der sich seiner Unbeholfenheit, seiner Unfรคhigkeit, gerade in Liebesdingen locker und angemessen zu reagieren, nur zu bewusst ist. Dass es das Asperger- Syndrom sein kรถnnte, ahnt er nicht, auch wenn der Romanheld eine Psychotherapie besucht.
Dass ihm der Kontakt und der Umgang mit Frauen unheimlich schwerfรคllt, weiร er. Und er ahnt auch, warum das so ist.
Der Wikipedia-Betrag zum Thema drรผckt es so aus: โBeeintrรคchtigt ist vor allem die Fรคhigkeit, analoge Kommunikationsformen (Gestik, Mimik, Blickkontakt) bei anderen Personen zu erkennen, diese auszuwerten (zu mentalisieren) oder sie selbst auszusenden. Das Kontakt- und Kommunikationsverhalten von Personen mit Asperger-Autismus kann dadurch merkwรผrdig und ungeschickt erscheinen.โ
Was oft nicht nur daran liegt, dass sie die Zeichen und Reaktionen ihres Gegenรผbers nicht eindeutig zuordnen kรถnnen oder ga rโ wie die meisten Menschen โ instinktiv verstehen, sondern auch daran, dass sie fortwรคhrend alles kritisch hinterfragen, ihre eigenen Gefรผhle und Reaktionen. Genau so, wie es Victor Allmann in diesem Buch schildert, in dem er zwar auch versucht, die jungen Frauen zu analysieren, denen er so begegnet und manchmal sehr abrupt seine Liebe gesteht.
Aber grรถรtenteils analysiert er sich selbst, seine Handlungsmuster und Plรคne, die Sache nun ganz systematisch anzugehen โ nur um dann in der realen Situation immer wieder zu scheitern und mit einem Ergebnis dazustehen, das ihn einfach nicht klรผger macht.
Was bei anderen Menschen ganz selbstverstรคndlich funktioniert, wird zu einer regelrechten Herausforderung. Jeden Schritt muss sich Allmann รผberlegen, jede Antwort wird erst mal ausgewertet. Manchmal so lange, dass seine Gesprรคchspartnerinnen erst mal nachfragen mรผssen, ob er noch da ist.
Erschwerte Kommunikation
Und selbst kleine Erfolge und Komplimente helfen nicht, ihm beim Lรถsen dieses Lebensproblems wirklich Fortschritte zu bringen.
Obwohl seine Erzรคhlung ja eigentlich davon berichtet, wie planmรครig er diese Eroberung des Weiblichen angeht โ nur um dann doch jedes Mal in neue Situationen zu geraten, wo ihn diese Selbstkontrolle aus dem Flow wirft und er sich selbst und seine Handlungen erst mal รผberlegt, als wรคre Liebe ein Schachspiel.
Natรผrlich ist das peinlich und am Ende auch schambehaftet in einer Gesellschaft, in der das Prahlen mit โEroberungenโ zum mรคnnlichen Standard gehรถrt und die Erfolglosigkeit in Liebesdingen bestenfalls noch als Schรผchternheit durchgehen kann.
Wobei der Held dieses biografischen Romans im sonstigen Leben und auch im Musikstudium oben auf dem Berg in Aachen eher keine Probleme zu haben scheint. Die beschrรคnken sich augenscheinlich vรถllig auf den Umgang mit dem weiblichen Geschlecht.
Und damit auf einen Lebensbereich, in dem fast alles in der nonverbalen Kommunikation passiert und sich die Meisten klugerweise ganz der Lenkung durch ihre Hormone hingeben, denn die โwissenโ meist viel besser, wie das geht und wie man zumindest in Liebesakten seine Freude und Erfรผllung findet. Was nicht heiรt, dass es dann auch im Alltag klappen muss.
Introspektion
Dass Christian Zierfeld dabei auch eine besondere Literaturepoche bevorzugt, ist seinem Schreibstil direkt abzulesen. Stellenweise fรผhlt man sich geradezu zurรผckversetzt โ mal in Gottfried Kellers โGrรผnen Heinrichโ, mal in einen Fallada-Roman. Romane aus einer Zeit, als die Introspektion geradezu das obligate stilistische Mittel fรผr den groรen deutschen Reiferoman war.
Da tauchten all die schreibenden Rauschebรคrte hinab in die Seelenbetrachtung und Selbstsequenzierung ihrer in der Regel mรคnnlichen Helden, um dann das Scheitern ihrer Bemรผhungen aus den Abgrรผnden ihres Seelenlebens zu erklรคren. Was รผbrigens nicht ganz ausgestorben ist im deutschen Preisroman. Irgendwie lieben Juroren diese Seelentauchereien.
Aber es lenkt davon ab, dass die meisten Menschen ihr Leben derart selbstbeobachtend gar nicht verbringen. Und dass es etablierte gesellschaftliche Regeln gibt, innerhalb derer Menschen Erfolg haben oder scheitern, ohne dass ihre Seelenlage dafรผr gebraucht wird.
Aber natรผrlich wird das Leben โwie alle anderenโ deutlich komplizierter, wenn man โ wie Victor Allmann โ bestรคndig alles beobachtet, einordnet und versucht, genau richtig zu reagieren. Gerade in hochemotionalen Situationen ist das eine Katastrophe, stolpert er รผber die eigene Zunge, feilt an jedem Satz, um nur ja nichts falsch zu machen und seine Gegenรผber nicht zu enttรคuschen.
Auch das schwingt ja mit โ als wรคre es ein in der Kindheit schon angelerntes Defizit, Menschen, die man so gern beeindrucken und denen man nahe kommen mรถchte, ja nicht enttรคuschen zu dรผrfen.
Ein tief sitzendes Liebesbedรผrfnis, das sich selbst in den Stil einschreibt, mit dem der Erzรคhler dieser Geschichte seine Leser mit hinein nimmt, in die Kette seiner peinlichen Versuche, zu einem ganz normalen Liebhaber zu werden. Denn wenn einem das Normalste von der Welt einfach nicht glรผcken will und eher in lauter Missverstรคndnissen und falschen Botschaften endet, dann ist das peinlich.
Und es ist in unserer Gesellschaft ja auch mit jeder Menge Scham behaftet.
Das Leben als stรคndige Knobelaufgabe
Und nicht grundlos werden ausgerechnet die vom Asperger-Syndrom Betroffenen sehr schnell zu Auรenseitern, zum Gespรถtt der Klasse. Auch wenn ihr Manko oft mit besonderen Inselbegabungen verbunden ist. Denn wer sei Leben lang selbst das Allermenschlichste permanent kritisch beรคugt, der trainiert sein Gehirn natรผrlich auch.
Auch wenn die Erfolge dann mรถglicherweise eher im Musikalischen liegen oder in einem genialen naturwissenschaftlichen Verstand.
Wobei ja die Vermutung im Raum steht, dass gerade in solchen Welten wie der Wissenschaft sich Leute sammeln, die sozial ihre geballten kommunikativen Schwierigkeiten haben, aber glรผcklich sind, es mit lauter Fachkollegen zu tun zu haben, denen die Sterne, die Elementarteilchen und die Weltformel viel wichtiger sind als diese unberechenbaren Geschรถpfe mit den kurzen Rรถcken.
Wer sich durch Victor Allmanns Geschichte liest, erfรคhrt, wie kompliziert die Sache mit den Frauen werden kann, wenn der Held der Geschichte permanent darรผber nachdenken muss, welches jetzt der nรคchste richtige Schritt ist. Und ob der letzte eigentlich richtig war. Selbst dann, wenn die Frau gegenรผber gerade gesagt hat, dass alles richtig war.
Aber eben erst einmal nur bis da hin. Und nun?
Das Leben kann ganz schรถn schwer sein, wenn man mit dieser permanent eingeschalteten Selbstkontrolle versucht, alles richtig zu machen und die nรคchste Stufe der Heldenskala zu erreichen.
Christian Zierfeld โPeinlichste Sehnsucht. Eine Geschichte mit dem Asperger Syndromโ, I.C.H. Verlag, Leipzig 2022, 19,90 Euro.
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