Es ist nicht so einfach mit der Erinnerung. Was hat sich eingeprรคgt? Was bleibt an ganz besonderen Ereignissen? Was macht die eigenen Erinnerungen besonders? Wir leben in Zeiten, da sich immer mehr Menschen hinsetzen und aufschreiben, was ihnen (be)merkenswert erscheint. Das hat jetzt auch Lothar Kurth getan, der in diesem Buch versucht, seine Erinnerungen an Kindheit und Jugend in Lindenau zu ordnen.

Da geht es vor allem um die 1950er bis 1960er Jahre, bevor es den Autor auch mal in andere Leipziger Stadtteile wie Schรถnefeld verschlug. Was Rรผckkehr nicht ausschloss. Und auch nicht jene ausgedehnten Spaziergรคnge durch die StraรŸen der Kindheit, bei denen Menschen รผber 60 beginnen, in Erinnerungen zu schwelgen und die Enkel verrรผckt machen mit Erzรคhlungen von Dingen, die gar nicht mehr da sind. Nur in der Erinnerung der ร„lteren sind sie noch so prรคsent, als wรคre nicht ein halbes Jahrhundert vergangen.

Zeitungsverkรคufer, Gaslaternen, Kohlemรคnner

Da ist der Zeitungsverkรคufer mit seinem mobilen Stand auf der Merseburger StraรŸe โ€“ lange bevor die gelben Zeitungskioske der Deutschen Post das Stadtbild prรคgten und den Jungen aus der Merseburger StraรŸe 86 anlockten auf der Suche nach โ€žAtzeโ€œ, โ€žFrรถsiโ€œ, โ€žMosaikโ€œ und โ€žUraniaโ€œ. Was Jungen damals begeisterte, wenn sie nicht gerade mit den Nachbarkindern FuรŸball spielten, auf dem Hof und in den Kellern der zerbombten Hรคuser nebenan nach Abenteuern suchten.

Aber wer so alt ist wie Lothar Kurth, der weiรŸ eben auch noch, wie viel noch in den 1960er Jahren ganz anders war. Wir Menschen erleben zwar den Fortschritt, vergessen aber schnell und willig, dass jeder neue Wohlstand zuvor kaum denkbar war. Kurth selbst holte noch die Milch im Milchtopf vom Milchhรคndler, der ihm schwungvoll einen Liter abfรผllte. Er sah seine Mutter noch emsig an der Nรคhmaschine, der alten Singer mit dem Tretpedal, sitzen und Kleidung nรคhen und ausbessern fรผr die Familie. Das war in den 1960er Jahren noch normal.

Genauso wie die Kerzenbeleuchtung am Weihnachtsbaum, der sich bei der kleinsten Unaufmerksamkeit in Flammen verwandeln konnte. Oder die Kohlelieferung vors Haus, bei der auch die Kohlenmรคnner froh waren, wenn das Kellerfenster gleich an der StraรŸe lag.

Zeit fรผr aufgeschriebene Erinnerungen

Natรผrlich kann und darf man sich dabei an die Erinnerungen anderer Autoren erinnert fรผhlen, die in ihren Bรผchern genauso leicht erstaunt sind, wie anders das Leben damals in Leipzig war. Man denke an Harald Stuttes โ€žWir wรผnschten uns Flรผgelโ€œ, der sich ebenso noch an die Gaslaternen im StraรŸenbild erinnerte. Oder an Eberhard Schrรถters โ€žWalzerfahrt zum Mondโ€œ, wo die Kleinmesse noch in ihrer alten Faszination aufscheint.

Schrรถter lebte gar nicht so weit weg von Kurth. Und fast ist es so, als wรผrden sich die Wege der damals in Leutzsch und Lindenau Aufgewachsenen alle in der Gaststรคtte โ€žGute Quelleโ€œ, der Taschentuchdiele in der Georg-Schwarz-StraรŸe, kreuzen.

Gut vorstellbar, dass Kurth mit seinen Jugendfreunden an einem der Tische saรŸ, wรคhrend Gerhard Pรถtzsch, der seine Kindheit und Jugend in den Bรผchern โ€žTaschentuchdieleโ€œ und โ€žZwischenzeitbluesโ€œ poetisch verwandelt hat, mit seinen Kumpels am Tresen stand.

Alles gut vorstellbar. Man sieht den Zeitgenossen ja nicht an, welcher von ihnen sich spรคter mal hinsetzt und seine Jugend in Literatur verwandeln wird. Oder wenigstens in hรผpfende Erinnerungen, weil einem โ€“ wie bei Kurth โ€“ die Erinnerungen unterwegs aufploppen. An das Waschhaus im Hof etwa und den Weg zur Wรคscherolle. Oder an das Auftauchen des Eismanns, der damals, als noch kaum jemand einen Kรผhlschrank besaรŸ, ja tatsรคchlich richtiges Eis brachte und die Leute strรถmten mit Netzen herbei, um sich ihren neuen Vorrat fรผr den Eisschrank zu holen.

Und da sich kaum einer mit Auto durch die Stadt bewegte, ist den damals Junggewesenen das alte Streckennetz der LVB noch eingebrannt โ€“ samt den O-Bussen, die damals bis in die AuรŸenbezirke fuhren, am Bahnhof Plagwitz wendeten und am Adler oft die Leitung verloren, und den Doppeldeckerbussen, die auch den jungen Berufsstarter Kurth zur Arbeit brachten. Von den alten StraรŸenbahnen und den lรคngst demontierten Streckenabschnitten ganz zu schweigen.

Gesucht: ein Wannenbad

Und natรผrlich fehlt auch da Kapitel zur Beatmusik und der Faszination von Radio und Tonbandgerรคt nicht. Die Musik der Kindheit prรคgte nicht nur, sie war der Sound einer Sehnsucht, die alle jungen Menschen damals fรผhlten. Und selbstredend lernt man mit Kurth auch wieder die durchaus bescheidenen sanitรคren Verhรคltnisse im damaligen Lindenau kennen โ€“ mit der lรคngst sprichwรถrtlichen Toilette halbe Treppe tiefer, wรคhrend er das Kapitel der fehlenden Sanitรคrzelle in der lauten und ofenbeheizten Wohnung beinahe auslรคsst.

Es entfleucht ihm erst spรคter, als er mit seinen Lesern wieder zu einem seiner Erinnerungsspaziergรคnge durch Lindenau aufbricht, auf denen er sich an verschwundene Lรคden, Werkstรคtten und Kneipen erinnert. Und in der GutsMuthsstraรŸe entrutscht es ihm dann: โ€žVorbei geht es am Wannenbad, das in den 1960er Jahren von mir und meinen Eltern regelmรครŸig besucht wurde โ€ฆโ€œ

Mehr nicht. Da fiel dem Autor selbst nicht auf, dass das wieder so eine Stelle war, an der jeder neugierige Enkel fragen wรผrde: โ€žOpa, was ist ein Wannenbad?โ€œ

Wer heute da entlang spaziert, wird nicht mal einen Hinweis darauf entdecken, obwohl solche Wannenbรคder damals รผberall im Stadtgebiet zu finden waren. Denn wenn es nun einmal in den Hรคusern der von Arbeitern und Angestellten bewohnten Ortsteile keine eingebauten Bรคder mit laufend Warmwasser gab, dann mussten die Menschen, wenn sie sich mal grรผndlich schrubben wollten, in so ein Wannenbad gehen.

Im Adressbuch fรผr 1929 steht zum Beispiel die genaue Adresse: GutsMuthsstraรŸe 27, Lindenbad. Damals betrieb Walter Benn dieses Bad fรผr die Menschen im Erdgeschoss des Hauses.

Im Adressbuch fรผr 1949 findet man das Linden-Bad auch noch: โ€žMedizinische Kur- und Wannenbรคderโ€œ. Inhaber: Fritz Kรผhn.

Es verschwinden eben doch viel mehr Dinge, als einem so spontan einfallen. Und wenn es keiner aufschreibt, wird es tatsรคchlich vergessen โ€“ so wie die Telefonzelle vor den Hรคusern der Lรผtzner StaรŸe 74 und 76, wo auch Kurth einst die 20-Pfennig-Stรผcke im Schlund des Apparates verschwinden sah und sich kurzfassen musste, denn drauรŸen wartete die Schlange aus Menschen, die allesamt zu Hause kein Telefon besaรŸen โ€“ das war Mangelware. Eingeweihte kennen auch noch das alte Fernsprechamt in der SchadowstraรŸe und die Poliklinik West und das Abenteuer, in DDR-Zeiten zu einer eigenen Wohnung kommen zu wollen.

Die verschwundenen Landschaften der Kindheit

Manche waren auch dabei, als am Kulkwitzer See schon in Massen gebadet wurde, als sich das Tagebauloch gerade erst mit Grundwasser anfรผllte. Manche haben โ€“ wie Kurth โ€“ im Westbad noch Schwimmen gelernt. Nur das Angeln war nicht so sein Ding, anders als bei Eberhard Diesner in โ€žFischwaidโ€œ. Trotzdem sind die Spaziergรคnge durch Lindenau voller Erinnerungen. Manchmal reichen sie bis in die 1990er Jahre, als auch Kurth erlebte, wie sein Berufs- und Familienleben durcheinander geschรผttelt wurde.

Das war auch die Zeit, als das Lindenau seiner Kindheit zunehmend verfiel und auch das einstige Wohnhaus der Familie in der Lรผtzner StraรŸe 86 abgerissen wurde. Nur รผber die Mauer des Nachbargrundstรผcks ist noch ein Blick in den Hof mรถglich.

Wie schaut man so in die Landschaft seiner Kindheit? Ohne Wehmut wahrscheinlich nicht, denn das, was einen als Kind aufregte und begeisterte, ist als Echo immer da. So wie auch beim einst beliebten Kino โ€žFilm-Palastโ€œ in der Georg-Schwarz-StraรŸe, in dem Kurth die DEFA-Indianerfilme erlebte und mit seinen Freunden alte Damen mit groรŸem Hut รคrgerte.

Natรผrlich sind diese Erinnerungen nur wie Blitzlichter. Oder wie kleine Filme aus Kurths Zeit mit der Schmalfilmkamera. Jeder hat solche Szenen im Kopf, Blitzlichter der eigenen Geschichte, die natรผrlich irgendetwas erzรคhlen darรผber, wie man so wurde, wie man heute dasteht. Mit einem Leben, das mehr Fragment ist als logische Erzรคhlung. Kurth versucht auch gar nicht erst, eine Heldenerzรคhlung darรผberzulegen.

Vielleicht sind Heldenerzรคhlungen sowieso nur Selbstbetrug und am Ende bleibt nur das Gespinst aus Gefรผhlen, das einen mit seinen Eltern, den Freunden aus der Kindheit, den damals scheinbar immer prรคsenten Gestalten aus der Nachbarschaft und den Orten der frรผhen Abenteuer verbindet. Ein Gespinst, das auch 50 Jahre spรคter noch da ist und jeden Gang durch die alten StraรŸen zu einer Begegnung mit Schatten und Namen und Erinnerungsfetzen macht, die sich mit der oft schablonenhaften Gegenwart รผberblenden.

Und wenn die Enkel nicht zuhรถren wollen, muss man es eben alles aufschreiben, so wie es einem einfรคllt. Es gibt gewiss genug Leser und Leserinnen da drauรŸen, die sich selbst wiederentdecken in solchen biografischen Ausflรผgen in eine Welt, die es nicht mehr gibt.

In diesem Sinn auch wieder eine โ€žWelt von gesternโ€œ, die die ร„ltergewordenen vor die Frage stellt: Soll man dem immerzu nachtrauern? Oder reicht es vรถllig, es ab und zu den Kindern und Enkeln zu erzรคhlen, ohne ihnen das schauerliche Gefรผhl zu geben, frรผher sei alles besser gewesen?

Intensiver, das schon. Aber das liegt nur daran, dass man die Welt als Kind viel frappierender erlebt und noch fest daran glaubt, dass eine Unendlichkeit vor einem liegt. Bis man beim Spaziergang 50 Jahre spรคter merkt, wie unbarmherzig die Zeit alles verรคndert. Wirklich alles.

Lothar Kurth โ€žLindenau. Erlebnisse in Kinder- und Jugendjahrenโ€œ, Pro Leipzig, Leipzig 2023, 18 Euro.

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