Er liebt den Flieder. Doch der Flieder blรผht noch nicht, als Matthias Domaschk, von seinen Freunden Matz genannt, am 10. April 1981 im Bahnhof Jena-Paradies in den Zug steigt, um am Abend mit Freunden gemeinsam den Geburtstag von Ede und Henry in Berlin zu feiern. Eigentlich das Normalste von der Welt. Doch zwei Tage spรคter wรผrde er tot sein, gestorben in der MfS-Untersuchungsanstalt in Gera.
Es ist eine der vielen tragischen Geschichten, die vom Freiheitswillen junger Menschen in der DDR erzรคhlen und von der Gnadenlosigkeit eines รberwachungssystems, das alle Abweichungen von einem zur Floskel erstarrten Weltbild fรผr feindlich und kriminell erklรคrte. Doch viele Jahre war der Tod von Matthias Domaschk nicht viel mehr als ein Synonym fรผr den Irrsinn eines irre laufenden Geheimdienstes.
Viele in der Bรผrgerrechtsbewegung wussten zwar um die Person des jungen Vaters und seinen Tod in der Stasi-Untersuchungshaft. Doch was tatsรคchlich an jenem April-Wochenende geschah und wie der 23-jรคhrige Jenaer in diesen zwei Tagen regelrecht zerstรถrt wurde, das war in dieser Weise bis jetzt kaum bekannt.
Auch wenn sich sein Vater Gerhard nach der Friedlichen Revolution โ vergeblich โ um Aufklรคrung bemรผhte. Ein Anliegen, das Renate, die einstige Freundin von Matthias und Mutter seiner Tochter, spรคter von neuem aufgriff und mit einer Arbeitsgruppe alles recherchierte, was zum Leben, zur Stasi-Verfolgung und zum Tod von Matthias Domaschk zu finden war. Ein gewaltiger Berg an Material, der dann zum Ausgangspunkt fรผr dieses Buch wurde.
Und mit Peter Wensierski hat sich ein Journalist in diese Materialfรผlle gewagt, der wie kein anderer schon zur Widerstandsbewegung in der DDR geschrieben hat.
Auch mit den Tรคtern reden
Schon in der DDR-Zeit begleitete er als westdeutscher Journalist die Oppositionsbewegung in der DDR, arbeitete auch viele Jahre mit Roland Jahn zusammen, der in diesem Buch natรผrlich auch vorkommt, denn er gehรถrte zum Jenaer Freundeskreis von Matz.
2017 verรถffentlichte Wensierski das eindrucksvolle Buch รผber die Leipziger Widerstandsbewegung โDie unheimliche Leichtigkeit der Revolutionโ, 2019 den Band รผber die Untergrundzeitschrift radix-Bรคtter โFenster zur Feiheitโ.
2020 lernte er das akribisch gesammelte Material der Thรผringer Arbeitsgruppe kennen, die versuchte, den Tod von Matthias Domaschk aufzuklรคren. Doch er belieร es nicht bei diesem Material, sondern versuchte mit Unterstรผtzung von Matthiasโ einstigen Freunden, auch so viele Augenzeugen wie mรถglich selbst zu sprechen โ und zwar nicht nur aus der Jenaer Widerstandsbewegung, sondern auch von der Gegenseite.
Was haben eigentlich all die beteiligten MfS-Offiziere gedacht und getan? Und wie denken sie heute darรผber?
So gelingt ihm eine akribische Rekonstruktion der drei Tage, in denen Matz und sein Freund Peter Rรถsch zwar nicht zum ersten Mal erleben, wie selbstverstรคndlich der staatliche Geheimdienst Menschen einfach verhaften und stundenlang verhรถren darf. Doch stundenlang erfahren sie nicht einmal, warum sie in Jรผterbog aus dem Zug geholt wurden.
Jรผterbog, Jena, Gera
Wรคhrend die Handlung immer wieder hin und her blendet. Denn nicht nur die Ereignisse in Zug und die nรคchtliche Warterei im Gewahrsam der Trapo schildert Wensierski, parallel zeigt er auch, was in der MfS-Dienstelle in Jena (und spรคter in Gera) geschieht, wo der diensthabende Offizier die Chance sieht, Lametta zu sammeln, und alle Hebel in Bewegung setzt, die Weiterfahrt der beiden Jugendlichen nach Berlin zu verhindern.
Weil in den Akten, die das Jenaer MfS รผber Matthias angelegt hat, der Verdacht wie eine Gewissheit steht, er wรผrde eine Terrorgruppe organisieren. Was in den Kรถpfen der Stasi-Offiziere an diesem 10. April 1981 bedeutete: Die zwei โBeobachtungsobjekteโ fahren nach Berlin, um einen Terroranschlag auf den X. Parteitag der SED auszuรผben.
Ein Moment, den Wensierski nur kurz anmerkt, denn dieser Verdacht war nichts anderes als eine vage Vermutung eines MFS-Mitarbeiters, die im paranoiden Kosmos des Geheimdienstes aber lรคngst zur Gewissheit geworden war und durch nichts zu erschรผttern.
Dass sich die Dinge dann auch nicht so glatt entwickelten wie vom diensthabenden Offizier in der Jenaer MfS-Zentrale geplant, schildert Wensierski natรผrlich auch. Aber der kaputte Barkas, der die vier in Jรผterbog Inhaftierten nach Gera bringen sollten, war nicht wirklich der Grund dafรผr, dass dieser Zugriff des Geheimdienstes โ in enger Zusammenarbeit mit Trapo und Volkspolizei โ am Ende so grรผndlich schiefging.
Der eigentliche Grund war die Willkรผr eines kompletten MfS-Apparates, der die Gelegenheit nutzen wollte, den inhaftierten Matz รผber die komplette Jenaer Widerstandsszene auszuhorchen โ und das in einem professionellen Verhรถr, dem Matz genauso wenig wie 1976 standhalten konnte.
Die Paranoia des Geheimdienstes
Damals hatte er mit seinen Jenaer Freunden eine Unterschriftenaktion zur Biermann-Ausbรผrgerung organisiert, die damals schon eine Generalaktion der Thรผringer Stasi nach sich zog und zur Folge hatte, dass gleich reihenweise bekannte Akteure der Jenaer Szene verhaftet und teilweise zur Ausreise in den Westen gezwungen wurden.
Die Geschichte gehรถrt dazu. Wensierski blendet immer wieder zurรผck. Denn das, was die Geraer und die Jenaer Stasi 1981 anrichteten, war eine direkte Folge ihres Vorgehens von 1976 und in den Folgejahren. Gerade weil Wensierski die Stasi-Protokolle akribisch studiert und mit den einstigen MfS-Offizieren gesprochen hat, wird ihre Denkweise noch einmal deutlich, ihr ganzer geistiger Handlungsapparat, der aus den Denkweisen des Stalinismus und der russischen Geheimdienstpraxis stammte.
Eine Denkweise, in der jede Abweichung vom obrigkeitlich verordneten Denken zur Feindestรคtigkeit aufgeblasen wurde. รberall wurden gegnerische Widerstandsnester gemutmaรt, die mit geheimdienstlichen Mitteln zersetzt und ausgerottet werden mussten.
Dass das Zerstรถren von Lebenswegen und Karrieren zu diesem Instrumentarium gehรถrte, hatte Matz lรคngst erfahren. Kurz vor dem Abi musste der begabte Berufsschรผler seine Ausbildung abbrechen. Seinen Traum, vielleicht einmal Archรคologie zu studieren, konnte er gleich begraben.
Die Stasi-Mitarbeiter lernten zwar, wie man Menschen zermรผrbt, ihre Freundeskreise zersetzt und ihnen die hรคrtesten Paragrafen des DDR-Gesetzbuches zum Verhรคngnis machte. Aber augenscheinlich gab es in dieser Ausbildung nicht eine einzige Ausbildungseinheit, in der die รberwacher lernten, welche Folgen ihre Zersetzungstรคtigkeit eigentlich hatte.
Der Verdacht genรผgte vรถllig
Da glaubten sie 1977 schon, die Jenaer Opposition vรถllig zerstรถrt und fรผr immer beseitigt zu haben. Aber die mutigsten Kรถpfe aus dieser Szene machten trotzdem weiter. Auch aus dem Westen. Gerade deshalb, weil der Staat mit seinem Handeln gezeigt hatte, dass sie mit allem recht hatten.
Dass nur angepasste, gehorsame, willfรคhrige Bรผrger mit gekrรผmmtem Rรผckgrat gefragt waren, die nicht widersprachen und vor allem nichts taten, was in den Deutungsmustern des Geheimdienstes von der erlaubten Linie abwich.
โIn ihrem Denken herrschte ein Idealbild von Gleichheit und Einheitlichkeitโ, schreibt Wensierski dazu im Nachwort. โAbweichungen von der Norm, Eigeninitiative und Individualitรคt wurden schon beim geringsten Verdacht wegen angeblicher Staatsgefรคhrlichkeit bekรคmpft. Das begann im Kindergarten, setzte sich in der Schule fort, im Studium, im Betrieb.โ
Und es prรคgte die angepasste Mehrheit. Was die jungen Leute, die in Jena und anderswo versuchten, ihre Vision eines undogmatischen Lebens zu verwirklichen, immer wieder zu spรผren bekamen. Ganz zu schweigen von den rabiaten Methoden, mit denen Polizei und Stasi zuschlugen, wenn sie die jungen Leute von Festen vertrieben, zu Hunderten zufรผhrten, oder Wohnungen stรผrmten wie die WG in der Jenaer Gartenstraรe.
Wer sich nicht anpasste, erlebte frรผhzeitig, wie er (oder sie) ausgegrenzt, markiert und reglementiert wurde.
Staatlich geduldete Willkรผr
Als Matz am 10. April von der Transportpolizei in Handschellen abgefรผhrt wurde โ nur weil er in einem D-Zug nach Berlin saร โ, wusste er, dass Widerstand zwecklos war. Dass die โSicherheitsorganeโ in der DDR selbst definierten, was Recht ware, und es keine Instanz gab, die man um Hilfe bitten konnte.
Was er nicht wusste, war, dass die verantwortlichen MfS-Offiziere die Gelegenheit gekommen sahen, ihn selbst im Verhรถr zu zermรผrben und damit Informationen zu all seinen Aktivitรคten und Freunden zu bekommen, um ihm aus diesen Aussagen dann den Prozess machen zu kรถnnen.
Wie diese Verhรถre funktionierten, schildert Wensierski sehr genau. Sensible Menschen wie Matz hatten gegen diese ausgefeilten Verhรถrmethoden keine Chance. Man ahnt bei all den Wendungen, die dieses Verhรถr in Gera nimmt, dass sich Matz selbst immer mehr belastet und am Ende alles preisgegeben hat, was die Stasi von ihm wissen wollte.
Dass er also โ trotz aller Ratschlรคge von Bekannten, die das auch schon erlebt hatten โ dass es ihm nicht gelungen war, standzuhalten. Und dass jetzt natรผrlich auch alle seine Freunde und Bekannten gefรคhrdet waren. Da brauchte es am Ende nicht einmal mehr die erpresste Einwilligungserklรคrung, mit der ihn die Stasi dann laufen lassen wollte.
Das Ende, wie es Wensierski schildert, ist plausibel. Er zitiert dazu extra Dorothea Fischer von der Friedensgemeinschaft Jena, fรผr die nicht entscheidend ist, wie Matthias starb: โFรผr mich ist entscheidend, wo er gestorben ist.โ
Selbst nach den gnadenlosen Gesetzen der DDR hรคtten Matz und Blase (Peter Rรถsch) nicht so lange in Haft bleiben dรผrfen, erst recht nicht, nachdem sich Trapo, Vopo und Stasi รผberzeugt hatten, dass der junge Mann aus Jena ganz und gar nicht vorhatte, den X. Parteitag der SED zu sprengen.
Aber was die Akten belegen, ist nun einmal, dass die Geraer Stasi die Gelegenheit nutzte, in dem jungen Mann alles zu zerbrechen, was fรผr ihn der Konsens seines Lebens war. Dorothea Fischer: โDas Einzige, was immer entscheidend war, war der Ort und dass er zu diesem Ort nicht freiwillig gegangen ist.โ
Das autoritรคre Erbe
Der Verhรถroffizier, der nur wenige Jahre รคlter war als Matz, hat spรคter, als Wensierski ihn sprach, zumindest so etwas wie Reue gezeigt. Wobei Wensierski das Schicksal der einstigen Stasi-Offiziere auch interessierte. Und es verblรผffte ihn schon ein wenig, dass es einige gab, die von der Verbohrtheit der Behรถrde angewidert den Dienst quittierten. Oder sich โ wie andere โ einfach totsoffen.
Einige Szenen, die er von einstigen Stasi-Miarbeitern hรถrte, erzรคhlen davon, dass in all diesen MfS-Dienststellen kaum einer wirklich an die seltsamen Normen glaubte, die sie anlegten, um Menschen zu einem Fall der Beobachtung zu machen. Was die Tragik in der Geschichte von Matthias Domaschk umso deutlicher macht. Ebenso wie die Parallelen zur westdeutschen Jugendkultur, die Wensierski ja auch kannte.
Da wird nรคmlich noch etwas anderes sichtbar โ die รhnlichkeit in den beiden deutschen Geschichten und das gemeinsame autoritรคre Erbe, mit dessen Moralvorstellungen die รคlteren Generationen auf den Freiheitsdrang der Jรผngeren reagierten. โDie Gemeinsamkeiten in der Musik, den Bรผchern, dem Wissensdurst und in den Sehnsรผchten und Hoffnungen auf ein besseres Land als jenes, das Eltern und Groรeltern mitgestaltet hatten.โ
Und wirklich verschwunden ist das alte, autoritรคre Denken bis heute nicht. Es lebt in konservativen Gesellschaftsschichen weiter fort. Und greift, wenn ihm ein Verhalten junger Leute nicht passt, zu den elben โ hochbelasteten Vokabeln โ von โKriminelleโ bis โTerroristenโ.
Wie gehen wir miteinander um?
Gerade weil diese Parallelen spรผrbar sind, liest sich die so tragisch endende Lebensgeschichte des Matthias Domaschk so gegenwรคrtig, so unabgegolten. Das ist zwar nun alles รผber 40 Jahre her und einige der jungen Leute, die das damals erlebten, sind inzwischen verstorben. Aber die Geschichte endete auch nicht mit Matthiasโโ Tod in der Stasi-Untersuchungsanstalt.
Auch nicht mit seiner Beerdigung. Die Stasi erreichte mit ihrem rรผcksichtslosen Vorgehen gegen die Jenaer Friedens- und Bรผrgerbewegung genau das Gegenteil. Die Jenaer lieรen sich nicht entmutigen. Und statt diese Sehnsucht nach Freiheit auszurotten, erzeugte der Machtapparat nur eine Stimmung, in der der Mut der jungen Menschen wuchs, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen.
Denn die Fragen, die sich Matz und seine Freunde stellten, sind jene, die in jeder Gesellschaft darรผber entscheiden, ob sie eine Zukunft hat oder nicht. Fragen, wie sie Wensierski formuliert: โWie wollen wir miteinander leben? Wie gehen wir miteinander um? Wie finden wir einen respektvollen Umgang miteinander? Respekt fรผr die Freiheit der anderen?โ
Das gilt heute genauso wieder. โMatthias Domaschk stellte sich genau diese Fragen. Er wollte fรผr sich und andere Freirรคume schaffen, nicht lรคnger der Willkรผr und Drangsalierung ausgeliefert sein. Sein Leben zerbrach daran, dass er Strukturen gegenรผber stand, die seinen Spielraum immer mehr einengten, die Gesprรคche nur als Belehrung und Verhรถr praktizierten. Der Druck auf ihn war am Ende extrem.โ
Und er hat ihn zerbrochen.
Auch wenn das Letzte, was Matz dann nach Ende des nรคchtelangen Verhรถrs tat, auch noch ein Akt des Widerstands war, wie Wensierski feststellt: โEr wurde in den Tod getrieben, und viele waren daran beteiligt. Was bleibt, ist sein politisches Zeichen: Ihr kriegt mich nicht.โ
Ein erschรผtterndes Buch. Aber auch ein erhellendes. Und eines, das daran erinnert, dass der Wille zur Freiheit in einer duckmรคuserischen Gesellschaft ihren Preis hat. Und jeden und jede vor die Frage stellt: Was lรคsst du dir gefallen? Was hรคltst du aus? Und wie lange?
Peter Wensierski โJena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschkโ, BCh. Links Verlag, Berlin 2023, 25 Euro.
Lesetipp zur Buchmesse: Am Freitag, 28. April, liest Peter Wensierski ab 20 Uhr im Fischladen in der Wolfgang-Heinze-Straรe 22.
Und am Samstag, 29. April, um 20.30 Uhr stellt er das Buch auch im Zeitgeschichtlichen Forum in der Grimmaischen Straรe 6 vor.
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