Der 24. Februar 2022 war wie eine kalte Dusche, nicht nur für die deutsche Politik gegenüber Russland. Das empfanden auch viele Menschen als Schlag ins Gesicht, die Russland eigentlich mögen und fest überzeugt waren, dass man alle Probleme friedlich und im Gespräch lösen kann. Hat so nicht Willy Brandts Ostpolitik gewirkt? Wessels Buch erzählt nun mit geballter historischer Kompetenz, warum das in Bezug auf Russland so schief gegen musste.
Martin Schule Wessel ist Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er kennt also seinen Stoff, die Geschichte jenes riesigen Gebietes, das die alten Griechen einst Sarmatien nannten und das der Historiker Timothy Snyder in seinem Buch „Bloodlands“ unter die Lupe nahm. Ein Buch, gegen das Wessel so einiges zu sagen hat, auch wenn er Snyders Ansatz durchaus goutiert.
Denn immerhin lenkte Snyder mit dem Buch 2010 den Blick auf einen Teil Europas, der für viele (viel zu viele) westeuropäische Politiker jahrzehntelang terra incognita war, irgendwie schon halb Sibirien, nicht mehr richtig dazu gehörend und sowieso das Spielfeld asiatischer Mächte. Vier Jahrzehnte hinterm Eisernen Vorhang versteckt und irgendwie nicht dazugehörend, wenn von Europa die Rede ist.
Es ist (war) die westeuropäische Sicht auf diese Länder, die einst im imperialen Machtbereich dreier Staaten lagen, die Wessel mit seiner detailreichen Reise in die letzten 300 Jahre erst einmal ins Zentrum rückt, weil mit ihnen alles anfing und sie die Wurzeln setzten für das, was heute passiert. Es sind die langen Linien von Geschichte, die hier sichtbar werden. Und die für die Westeuropäer fast unsichtbar geworden sind, weil zwei der damals beteiligten Imperien nicht mehr existieren: die Habsburger Monarchie und das Königreich Preußen.
Von Katharina II. bis Putin
Im Geschichtsunterricht kommt das noch vor – eher als Randthema unterm Stichwort der Polnischen Teilungen, an denen sich Preußen und Habsburg emsig beteiligten, als Polen-Litauen nach den Nordischen Kriegen zunehmend unter die Vorherrschaft Russlands kam und die Zarin Katharina II. begann, Polen nicht nur wie einen Vasallenstaat zu behandeln, sondern große Teile davon tatsächlich dem Zarenreich einzuverleiben.
Die Augen von Katharina II. sind nicht ganz grundlos mit auf dem Cover gelandet. Denn im Grunde steht diese Zarin genau für das Projekt, das ihr späterer Nachfolger im Machtzentrum Russlands, Wladimir Putin, heute wieder zur politischen Agenda gemacht hat. Oder wiederbelebt. Denn es war nie wirklich verschwunden. Es beherrscht die russische Politik seit 300 Jahren. Und es bestimmt den Blick der Moskauer Führung auf den Westen.
Fast wünscht man sich, die Karten, welche dem Buch angehängt sind, animiert zu sehen. Denn dann würde die lange Vorgeschichte eines Russlands, das mit Peter I. auf die europäische Bühne trat, lebendig werden, mit all den Zugriffen, mit den sich Russland nach und nach Land um Land einverleibte und einen riesigen Machtbereich schuf, in dem die Länder am Rand dieses Imperiums wie Bollwerke wirkten – jene Pufferzone aus hörigen Staaten, die heute immer noch in den Reden von Wladimir Putin herumspuken als Sicherheitsgürtel für Russland.
Eine Fabel, die viele westeuropäische Interpreten kritiklos immer wieder übernommen haben und tatsächlich glauben.
Obwohl kein einziges Land der Welt auch nur daran denkt, den russischen Riesen anzugreifen. Doch auch das gehört zu den uralten Selbstbildern des russischen Imperiums, wie Wessel kenntnisreich zu erzählen weiß. Eines Imperiums, das eben nicht nur durch die Behauptung der eigenen Stärke existiert, sondern immer auch Feindbilder gebraucht hat.
Das imperiale Denken in sowjetischem Gewand
Imperien haben immer Legitimationsprobleme. Denn sie leben nicht aus dem Selbstverständnis einer Nation, die sich ihrer selbst gewiss ist. Sie definieren sich über Macht, Einfluss und Raum. Und wenn man – wie Wessel – die Geschichte nicht vom Heute her erzählt, sondern von der Entstehung des russischen Imperiums im frühen 18. Jahrhundert her, sieht man die langen Linien, die auch bis zu den Kriegen der gerade erst entstandenen Sowjetunion gegen Polen und die Ukraine führten, zu Stalins Pakt mit Hitlerdeutschland, bei dem Polen ein viertes Mal geteilt wurde, und zur Entstehung des Ostblocks, mit dem Stalin letztlich den alten Gedanken eines russischen Imperiums bis an die Elbe ausweitete.
Auch dafür war westliche Geschichtsschreibung lange Zeit blind, weil man sich die Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem als Kriegsfolge interpretierte, mit der vor allem Deutschland endgültig befriedet werden sollte. Für Deutschland bedeutete es tatsächlich die Abkehr vom imperialen Denken. Für Österreich sowieso.
Aber hinter dem Eisernen Vorhang ging praktisch eine ganze Welt im Nebel unter, verschwanden ganze Nationen, die allesamt ein Recht auf Eigenständigkeit hatten und allesamt auch entsprechende Emanzipationsbewegungen. Sie waren ganz und gar nicht freiwillig unter die Herrschaft Moskaus geraten. Auch Polen und die Ukraine nicht, die Wessel in den Mittelpunkt seiner Geschichte stellt. Denn beide Länder litten exemplarisch – aber in unterschiedlicher Weise – unter dem Zugriff Moskaus.
Die russische Angst vor der Revolution
Und je detailreicher Wessel diese 300-jährigen Beziehungen, Konflikte und Unterwerfungen schildert, umso deutlicher wird, wie sehr der westeuropäische Blick tatsächlich über Jahrzehnte und Jahrhunderte akzeptiert hat, dass Russland rund um sich ein Imperium an Satellitenstaaten domestizieren durfte. Und wie Europa damit die Menschen in all diesen Ländern, die um ihre Freiheit und Unabhängigkeit rangen, im Stich ließ.
Selbstredend wird dabei auch das Verhältnis Russlands zur Ukraine genau beleuchtet – vom Hetmanat über die diversen ukrainischen Teilungen (durch Russland, Polen, Habsburg) bis zum russischen Versuch, die Ukraine ganz und gar dem Imperium einzuverleiben und zu russifizieren.
Ein Vorhang, der eng korrespondierte mit den Aufständen in Polen und dem Problem des russischen Imperiums, das mit seinem Versuch einherging, Länder wie Polen zu beherrschen und ihre Eliten zu vertreiben. Denn der polnische Aufstand von 1830 korrespondierte natürlich mit der Pariser Revolution von 1830. In beiden Fällen ging es um die Abschaffung feudaler Machtstrukturen.
Und in Sankt Petersburg und Moskau ging natürlich die Angst um, man könne sich mit Polen die „französische Krankheit“ ins Haus holen, also all die Dinge, die ein Putin auch heute noch am Westen verachtet: Freiheit, Demokratie, Liberalität.
Auf einmal merkt man, wie sehr die ganzen Phrasen des heutigen Kreml-Herrschers aus dieser alten imperialen Denkweise stammen, die im russischen Machtapparat nie wirklich verschwunden ist, sondern in Krisenzeiten immer wieder zur Machtdoktrin wurde. Polen war dabei immer der Stachel im Fleisch dieses Imperiums. Und selbst die Generalsekretäre im Kreml begriffen irgendwann, dass sie Polen niemals mit Gewalt beherrschen würden.
Zudem zeigt der Blick auf Polen zeigt eben auch, dass 1989/1990 eben nicht nur lauter kommunistische Regierungen mit friedlichen Revolutionen hinweggefegt wurden, sondern dass ein ganzes Imperium auseinander fiel, weil es nicht mehr die Kraft hatte, seine Vasallenstaaten unter der Knute zu halten.
Der Amputationsschmerz des Imperiums
Und das wirkte bis in den inneren Kreis dieses Imperiums hinein, das Putin natürlich mit der Sowjetunion assoziiert, deren Untergang er mehrfach als die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts bezeichnete.
Obwohl Russland selbst ja nicht unterging. Es verlor nur seine imperiale Größe und den Zugriff auf all jene Staaten, welche die Gunst der Stunde nutzten, ihre Selbstständigkeit zu erklären. Was die Ukraine 1991 auch tat, auch wenn dieser Freiheitswillen der Ukrainer den Westeuropäern erst 2004 und 2014 mit den großen Protesten auf dem Maidan so richtig ins Bewusstsein rückte.
Was ja bekanntlich die deutsche Politik nicht davon abhielt, dem alten, postimperialen Denken gegenüber Russland nachzuhängen. Und so mancher deutsche Politiker nimmt heute immer noch die Behauptungen aus dem Kreml ernst, Russland brauche dringend einen Sicherheitsgürtel aus Pufferstaaten. Obwohl das überhaupt keinen Sinn ergibt und nur eines bedeutet: dass die Länder in diesem Sicherheitsgürtel unter russischer Vormundschaft bleiben. Und dass Russland mit Waffengewalt interveniert, wenn eins dieser Länder versucht, sich selbstständig zu machen. So wie 2009 in Georgien und ab 2014 in der Ukraine.
Und auf einmal klingen auch Putins Worte, mit denen er den Krieg gegen die Ukraine erkärte (seine sogenannte Spezialoperation), anders. Dann zeigen sie ihren Ursprung im imperialen Denken der russischen Elite, die bis heute nicht in der Lage ist, Rusland selbst als eigenständigen Staat zu denken. Für sie ist die Idee Russlands noch immer direkt mit der Existenz eines russischen Imperiums verknüpft. Und in dieser imperialen Denkweise ist die Ukraine kein eigenständiger Staat mit einer eigenen Kultur, eigenen Sprache und Geschichte, sondern Teil der „russischen Erde“.
Eine Denkweise, die in der Zeit Katharina II. begann und unter den Zaren des 19. Jahrhunderts ausgefeilt wurde.
Die Angst des Imperiums vor der Freiheit
Eine Denkweise, die aber spätestens mit dem Versuch, die Ukraine zu russifizieren, auf immer stärkere Widerstände stieß. Und die auch in der jungen Sowjetunion ab 1918 dazu führte, jede Form staatlicher Unabhängigkeit der Ukraine zu unterbinden. Eine Unabhängigkeit, die Putin heute unbeirrt – wie seine Vorgänger im Kreml vor 150 Jahren – als Einmischung des Westens interpretiert. Denn wer sonst stachelt die Völker zur Unabhängigkeit auf, wenn nicht dieser verkommene Westen mit seinen bösen Ideen zu Demokratie und nationaler Souveränität?
Da ist es schon erstaunlich, wie es der russischen Propaganda gelungen ist, dem Westen das eigene Lagerdenken regelrecht einzubläuen, sodass dieser Westen bis heute – unausgesprochen – davon ausgeht, die slawischen Völker Osteuropas würden ganz naturgemäß eher zu Russland und seiner Einflusssphäre gehören. Und sie würden gar nicht dieselben Werte von Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Freiheit teilen.
Was aber ganz offenkundig der Fall ist. In den baltischen Staaten, in Polen und in Finnland ist man sich dessen sehr wohl bewusst, dass es in der Ukraine auch um sie geht, die sie allesamt einmal zur Einflussspäre des russischen Imperiums gehörten und alle ihre Erfahrung gemacht haben mit russischen Feldzügen.
Gerade mit dem großen Blick auf diese 300-jährige Geschichte öffnet Wessel auch unsere Augen dafür, wie sehr der ukrainische Kampf ein nun schon jahrhundertealter Versuch ist, sich aus dem Zugriff des russischen Imperiums zu befreien und die staatliche Unabhängigkeit zu erlangen.
Was natürlich aus Moskauer Sicht ein Frevel ist, denn damit rücken auch die als westlich verdammten Ideen direkt vor die Haustür: ein souveränes Land, das sich in seine Geschicke nicht mehr hineinreden lassen will und zeigt, dass Demokratie und Liberalität funktionieren. Und eben keine „Krankheiten“ sind, wie es russische Propaganda so gern suggeriert.
Was Imperien unter Legitimität verstehen
Eine „Zeitenwende“ war der 24. Februar nur für all jene, die jahrzehntelang ihre Augen vor dem Charakter des imperialen Denkens im Kreml verschlossen haben. Oder mit Wessels Worten: „Deutschland hat seine eigene imperiale Geschichte hinter sich gelassen, aber in der engen Beziehung zu Russland bzw. der Sowjetunion eine imperiale Optik St. Petersburgs bzw. Moskaus übernommen und die von Russland imperial Beherrschten als Akteure zweiter Ordnung gesehen. Und diese Übernahme des russischen Blicks wirkt teilweise immer noch fort.“
Sodass das Handeln souveräner Nationen wie der Ukraine weiterhin im Bezugsfeld der scheinbar legitimen russischen Ansprüche gesehen wird und die Gesichtswahrung Putins wichtiger erscheint als das Recht der Ukrainer auf eigene, unbeschnittene Souveränität.
Das verzerrt viele deutsche Dialoge. Und Wessel betont berechtigtermaßen, dass die Geschichtswissenschaft sich viel intensiver mit imperialer Außenpolitik beschäftigen muss, als sie es bis jetzt getan hat. Denn da begegnet man dann auch Mythen und Propaganda und regelrechten Geschichtsverfälschungen, mit denen auch westlichen Akteuren die Sicht des Imperiums eingeimpft wird. Bis hin zur Idee der „kulturellen Marginalität des ‚Zwischenraums‘ zwischen Russland und Deutschland.“
Eines „Zwischenraums“, in dem ein ganzes Dutzend souveräner Staaten darum kämpft, genau als das wahrgenommen zu werden, was sie sind: Sie sind eigenständige Staaten mit eigener Geschichte, Sprache und Kultur. Und dass es da auch in der Beziehung zur Ukraine gewaltig etwas nachzuholen gibt an Wahrnehmung, das zeigt dieses Buch in historischer Kompaktheit.
Martin Schulze Wessel „Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte“, C. H. Beck, München 2023, 28 Euro.
Keine Kommentare bisher