2022 jährte sich der Geburtstag von Georg Philipp Friedrich von Hardenberg zum 250. Mal. Die literarische Welt kennt ihn als Novalis, „Erfinder“ der Blauen Blume als Sehnsuchtssymbol der Romantik. In Sachsen-Anhalt feierte man den 1801 in Weißenfels früh Verstorbenen wesentlich ausgiebiger als etwa in Sachsen. Und das Literaturhaus Halle bat einige der mit ihm verbundenen Autoren, ihre Sicht auf Novalis in Texte zu fassen.
Was nur mit dem Einstiegsessay darauf hinausläuft, tatsächlich Novalis und sein fragmentarisches Lebenswerk irgendwie literarisch einzuordnen, und zu interpretieren und ihn in seiner Zeit verstehen zu wollen. Das, was man ja für gewöhnlich macht, wenn man irgendwie die Wirkung eines Dichters in seiner Zeit nachvollziehen will. Das ist die klassische Herangehensweise, die der Germanist Karl-Heinz Ott gewählt hat.
Immerhin geht es um Frage, wie Novalis’ Lobpreis des scheinbar klareren und unkomplizierten Mittelalters, die Romantisierung der Welt und die Frage der Selbst-Erkenntnis, zu verstehen ist. Drei grundlegende Bezugspunkte der Romantik, die auch – bis heute – das Unbehagen an der Moderne spiegeln. Nicht nur auf konservativer Seite. Mit der deutschen Romantik verbindet man bis heute die virtuelle Flucht in eine als besser suggerierte Vergangenheit. In der Romantik noch eng verwoben mit Märchen und Sagen.
Verklärte Romantik
Doch schon Clemens Meyer, der Zweite in diesem Bändchen, macht sich an den Versuch, diesen Novalis irgendwie in die Gegenwart zu beamen. In seine ganz persönliche Welt, in der die Superhelden der modernen Comics aufs Engste verquickt sind mit den Märchen der Brentano und Hauff, mit E.T.A. Hoffmann und Heinrich Heine, auf den er immer wieder zurückkommt, was verblüfft. Sollte es denn nicht um Novalis gehen?
Doch wer einmal Heines „Romantische Schule“ gelesen hat, kann auf die naive Verklärung der deutschen Romantik nicht mehr zurückkommen, der hat seine Unschuld verloren. Oder seine Naivität. Eine Naivität, mit der die Romantik heute gern immer noch verklärt wird.
Am Ende landet Meyer bei Hilbig und Fühmann. Nicht zufällig. Denn mit denen ist er zum aufmerksamen Schriftsteller geworden. Beide standen, wie Meyer feststellt, „in der Tradition der Romantik“. Aber eben nicht der märchenhaften Tradition, sondern jener Tradition, welche die begabtesten Autorinnen und Autoren zum Ende der DDR-Zeit aufgriffen, als es darum ging, die starre Selbstgerechtigkeit einer vom technischem Machbarkeitswahn regierten Gesellschaft aufzubrechen und die Verlorenheit des Menschen in einer als fremd empfundenen Welt erzählerisch fruchtbar zu machen.
Wobei bei Fühmann und Hilbig auch das Leiden unter der allgegenwärtigen Naturzerstörung hinzukam. Und die Zerrissenheit in der eigenen Biografie. In der Begegnung mit den Autorinnen und Autoren der Romantik fanden die Schriftsteller der DDR einen Spiegel für die eigene Ortlosigkeit. Stichwort: „Kein Ort. Nirgends“. Dass das auch eine literarisch fulminante Kritik an den kleinbürgerlichen Vorstellungen vom angepassten Leben war, entging zumindest den aufmerksamen Leser/-innen nicht. Und macht diese Bücher auch heute noch lesbar.
Goethes opportunistische Moral
Die Kritik am angepassten und letztlich traumlosen Leben gilt weiterhin. Der technokratische Geist hat sich nur anders verkleidet. So wie sich auch die Menschen inzwischen verkleiden, sich schöne Masken zulegen und so tun, als lebten sie in der Maske. Während sie ihr eigentliches Lebendigsein nicht suchen und nicht finden.
Weshalb sich der Germanist Jens Jessen in seinem kleinen Beitrag „Natürlich künstlich“ diebisch freut über den Totalverriss, den Novalis damals über Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ schrieb. Sehr aufmerksam registrierend, dass Novalis hier den Geist eines Autors kritisiert, der nicht begriffen hat, was die Ökonomisierung aller menschlichen Verhältnisse eigentlich mit dem Menschen anrichtet. Novalis: „Künstlerischer Atheismus ist der Geist des Buches. Sehr viel Ökonomie, mit prosaischem, wohlfeilem Stoff ein poetischer Effekt erreicht.“
Und Jessen: „Mit anderen Worten: Novalis findet den Roman unendlich spießig – und korrupt, insofern er mit opportunistischer Moral den herrschenden Mächten, vor allem der Ökonomie und dem Erwerbsleben huldigt. Für diese Entlarvung liebe ich Novalis.“
Und genau hier merkt man, warum Novalis das Heil in der Vergangenheit suchte. Denn das Neue, das sich da mit bürgerlicher Steifnackigkeit und Berechnung anbahnte, war weder verlockend noch wärmend noch ehrlich. Aber: Es regiert bis heute und hält sich für das Nonplusultra der Welt.
Der Dodo und die Trauer um die Welt
Zeit, also Novalis wieder zu lesen? Durchaus. Denn die Frage steht tatsächlich bis heute – nicht die nach dem heiligen Schoß der Kirche, sondern die nach der Selbsterkenntnis und der Menschlichkeit in einer von ökonomischer Kälte dominierten Welt. Die Frage: Fühlen wir uns gemeint, betroffen und berührt? Etwas, was dann etwa Martin Becker aufgreift, wenn er von der Aufnahme einer ukrainischen Familie im Jahr 2022 erzählt, oder wenn Greta Taubert die Geschichte des Dodo schildert und die Momente, in denen immer mehr Menschen von der Trauer um den Verlust unserer reichen Welt und ihrer wunderbaren Geschöpfe erfasst werden.
Was ja die Frage aufwirft: Was schriebe ein Novalis eigentlich heute? Wo stünde er? Wäre er Direktor in einem der großen Energiekonzerne und würde schöne Blaue-Blumen-Märchen nach Feierabend schreiben? Oder wäre er bei den jungen Leuten, die voller Trauer, Wut und Verzweiflung die Kohlebagger entern und fordern, dass die Zerstörung unserer einzigartigen Welt endlich aufhört?
Die Antwort muss jeder selbst suchen in den verfügbaren Büchern dieses Dichters, der ganz und gar kein Einzelgänger war, sondern engstens verbunden mit den Vertretern der Jenaer Romantik – den Schlegel, Schelling und erst recht dem Philosophieprofessor Fichte, der sich damals schon intensiv Gedanken darüber machte, wie wir Menschen uns eigentlich ein Bewusstsein von der Welt schaffen. „Alles, was wir über die Welt zu sagen wissen, sagt unser Bewusstsein über die Welt“, fasst es Ott zusammen. „In diesem Sinne ist das Ich das Absolute.“
Im Guten wie im Schlechten übrigens. Denn Menschen, die sich nicht mal Gedanken darüber machen, wie ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit in ihrem Kopf entstehen, sind brandgefährlich. Sie setzen sich und ihre Sicht gern und lautstark absolut. Nicht einmal ansatzweise bereit, die Grundlagen ihres Meinens und „Wissens“ zu hinterfragen.
Die Tragik des Fragments
Auch darum geht es bei Novalis. Und bei den frühen Romantikern sowieso, die eben ganz und gar nicht der Meinung waren, dass früher alle besser war (dafür bekam auch Novalis Widerspruch) und die heilige katholische Kirche der Ort der Rettung. Das kam erst später. Just in der Zeit des sogenannten Biedermeier, als man mit etwas zu kessen Sprüchen ganz schnell die allerliebste Zensur auf dem Hals hatte.
Was natürlich nicht mehr in Novalis Zeit gehört. Und auch nicht zu Novalis, der nach seinem frühen Tod – mutmaßlich an Tuberkulose – schnell verklärt und verpoetisiert wurde. Sodass man die Fragen so leicht übersieht, die in seinen Fragmenten stecken. „Im Fragmentarischen sehe ich die Tragik, aber auch den Schlüssel zu diesem Werk“, schreibt Clemens Meyer. „Und die Kraft dieses Werks. Das seiner Entstehungszeit voraus zu sein scheint.“
Denn die wirklich aufmerksamen Dichter sind immer unzeitgemäß, passen nicht und werden drum gern passend gemacht. Womit das Beunruhigende in ihren Texten gebändigt wird, ins Bestiarium verbannt. Blaue Blume und so. Nur ja nicht merken, wie sehr in diesem Supernumerar-Amtshauptmann das Unbehagen nagte an einem ökonomischen Zeitgeist, der gerade erst begann, sämtliche Reichtümer der Welt als Rohstoff und Verwertungsmasse zu deklarieren.
Literaturhaus Halle (Hrsg.) „Wovon man spricht, das hat man nicht. Neue Texte zu Novalis“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 16 Euro.
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