Wussten sie es nicht besser? Glaubten sie tatsächlich daran? Zumindest gehörte es ganz fest zur sozialistischen Propaganda, dass es in einem sozialistischen Land keine Kriminalität mehr gibt. Die Menschen haben ja alles und die schlimmen Einflüsse der Ausbeuter sind ja ausgeschaltet. Dass dieser Mythos aber ganz und gar nicht stimmte, machten auch die Aufsehen erregenden Mordfälle deutlich, die in den Kriminalromanen des Ostens ihren Niederschlag fanden.

Gut möglich, dass es nur eine von den vielen durch nichts begründeten Propagandaformeln war, die nur dazu da war, gegen Tatverdächtige besonders erbarmungslos vorzugehen. Henner Kotte diskutiert das nicht aus, auch wenn es natürlich in diesem dritten Band seiner „Morde, die Geschichten schrieben“, eine wesentliche Rolle spielt.

Denn es bestimmte, wie Autoren in der DDR über Verbrechen und Unglücksfälle schreiben durften. Wenn nämlich der sozialistische Mensch keine Neigung mehr hat, in irgendeiner Weise kriminell zu werden, dann gehen alle Verbrechen, welche die eifrige Polizei dann doch aufklären muss, aufs Konto des Klassenfeindes. Dann sind Saboteure und „eingeschleuste Elemente“ am Werk, den lieben Frieden in der neuen Gesellschaft zu unterminieren.

Spätbürgerliche Restbestände

Propaganda baut in der Regel immer solche schiefen Bilder der Realität. Am Ende glaubt das zentrale Propagandakomitee selbst daran und guckt dumm aus der Wäsche, wenn die Leute auf die Straße gehen und diese ganze Lügerei abwählen. Dass die Propaganda in den 1950er und 1960er Jahren noch viel heftiger und gnadenloser war als in den letzten 20 Jahren der DDR, ändert daran ja nichts. Es änderte nur etwas an der Darstellung des Verbrechens in den offiziellen Zeitungen und in der Literatur.

Wobei Henner Kotte keine Schwierigkeiten hat, für die frühe DDR auch entsprechend heldenhafte Romane des „sozialistischen Realismus“ zu finden, in denen z. B. das Zwickauer Grubenunglück von 1952 als Reiferoman für sozialistische Persönlichkeiten erzählt wurde. Und auch in „Fridolin! Die Frauen streiken“, darf der Klassenkampf seine Rolle spielen und die Presse ihren Ärger ausgießen über einen Täter, der aus dem Westen kam und Leipzig über Wochen in Angst und Schrecken versetzte.

Da Henner Kotte die Krimiwelt der DDR bestens kennt, werden seine Geschichten aus den 40 Jahren DDR auch zu einer kleinen Literaturgeschichte des ostdeutschen Krimis. Denn der Krimi reifte auch hier, spätestens, als Autor/-innen wie Tom Wittgen, Jan Flieger und Steffen Mohr begannen, die unsichtbaren Grenzen der Zensur zu überschreiten und den Anschluss suchten an die internationale Entwicklung des Krimi-Genres. Anfangs noch inklusive einiger Kollisionen mit der Zensur.

Aber auch in der DDR wuchs zumindest jenseits der Propaganda auch die Erkenntnis, dass man das Verbrechen wohl doch nicht so einfach losgeworden war mit der Gründung „ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates“. Und dass man wohl gut daran tat, nicht einfach alles unter den Teppich zu kehren. Vor allem auch deshalb nicht, weil die im Lande entstehende Kriminalliteratur einen enormen Leserkreis ansprach.

Machtgefälle und fehlende Emanzipation

Warum das so war, wusste vielleicht Hasso Mager, den Kotte im Beitrag zu Tom Wittgen, „der Agatha Christie des Ostens“, würdigt. Auch wenn Mager eher die alte These von der Verwurzelung der Kriminalität in der spätbürgerlichen Gesellschaft vertrat. Aber schon die Kriminalromane von Tom Wittgen widersprachen dieser Behauptung, griffen reale Fälle aus der Arbeit der ostdeutschen Volkspolizei auf und diskutierten damit eben auch etwas, was es nach Ansicht der Propagandisten gar nicht geben durfte: die Existenz ganz simpler menschlicher Abgründe auch in der eigenen, nach außen scheinbar verbrechensfreien Gesellschaft.

Der neue Mensch, wie ihn sich Diktaturen nur zu gern backen möchten, kommt nun einmal nicht aus der Retorte. Vorteilsnahme, Eigennutz, Eifersucht, Wut, Zorn und Rachegelüste verschwinden nicht einfach so. Und bei etlichen der Fälle, die Kotte hier aufgreift und die allesamt zu Stoff von Kriminalromanen wurden, merkt man auch mit gelinder Ernüchterung, dass es in diesem kleinen sozialistischen Ausprobierstaat gar keine Mechanismen gab, die diese Abgründe hätten schließen können. Im Gegenteil. Selbst das, was als sozialistische Belohnung für gutes Verhalten, Wettbewerbsgeist oder Neuerertum existierte, war missbrauchbar. Und traf natürlich auf Menschen, die auch in diesem real existierenden Sozialismus gelernt hatten, dass man mit Bravheit und Regeltreue auf kein grünes Blatt kam.

Ein Thema, mit dem sichJan Flieger intensiv beschäftigte.

Aber für Entsetzen sorgten ja eher all die blutigen Mordfälle, in denen jedes Mal sichtbar wurde, dass es mit den zwischenmenschlichen Beziehungen nicht immer so war, wie sich das die Volkserzieher so gedacht hatten. Und dass ganz und gar nicht emanzipierte Männer nur zu leicht zu Gewalt griffen, wenn sie ihre Partnerschaften nicht „in den Griff bekamen“ oder gar meinten, die Frauen müssten sich ihrem Willen fügen. Ein Handlungsmuster, das in der Geschichte vom „Bein an der Bordsteinkante“ genauso eine Rolle spielt wie in „Die vermauerte Frau“ und der „Frauenleiche neben Russenkäppi und Pistole“.

Ein Blick hinter die Fassade

Natürlich beleuchtet Henner Kotte auch die deutsch-deutschen Kriminalbeziehungen – etwa in „Westöstliche Leichen“. Aber letztlich ist dieses Büchlein eine Einladung für heutige Leserinnen und Leser, sich ein wenig mit der letztlich erstaunlich umfangreichen und anspruchsvollen Kriminalliteratur in der DDR zu beschäftigen, die einen Blick auf den wirklichen Zustand der ostdeutschen Gesellschaft werfen durfte, den sich andere Medien im Osten gar nicht wagten zu werfen. Aber gerade deshalb zeigten sie Zustände, die andere Literaturgattungen so unverhüllt nicht zeigen konnten und auch nicht durften.

Natürlich hatte das auch mit einem gewissen Austricksen der Zensur zu tun, wie Jan Flieger schildert. Aber es war wie so vieles auch ein Ventil, mit dem sich das Land zugleich einen Teil seiner Schattenseiten eingestand. Was der von Henner Kotte zitierte Fritz Erpenbeck schon Ende der 1970er Jahre in den Satz fasste: „Solange die Kriminalität lebt, solange wird der Kriminalroman leben.“

Und gerade die Mordfälle, die damals auf dem Gebiet des heutigen Sachsen passierten, erzählen nun einmal auch davon, dass für viele Menschen in diesem Land von Emanzipation keine Rede sein konnte. Die Gleichstellung der Frau erfolgte zwar auf ökonomischer und politischer Bühne. Aber dass es mit der Emanzipation im Alltag ganz und gar nicht so rosig aussah, hatte ja Maxie Wander schon 1977 in „Guten Morgen, du Schöne“ deutlich gemacht.

Seelische Abgründe

Und sie hatte damit eine Frage gestellt, die gerade die besten Schriftstellerinnen des Ostens umtrieb bis zuletzt. Denn ihre Analysen des Alltags in der DDR zeigten eben auch, dass ein deklarierter Sozialismus noch lange keine emanzipierte Gesellschaft ergibt. Was uns auf die Ausgangsthese zurückkommen lässt. Denn die propagierte Kriminalitätsfreiheit korrespondierte ja auch mit einem propagierten Menschenbild, das es so in der Realität nicht gab. Und auch nicht geben konnte in einer Gesellschaft, die ihr Machtgefälle und die Deutungshoheit einer kleinen Parteiführung nicht einmal verbarg, sondern offen zelebrierte.

Wer das nicht sehen wollte, war tatsächlich naiv. Der ostdeutsche Krimi zeigte also einen Teil jener Wirklichkeit, die in den offiziellen Zeitungen bestenfalls mal als kleine Meldung auftauchte. Und gerade das machte das Genre für viele Leser/-innen so attraktiv. Ganz zu schweigen davon, dass einige dieser Mordfälle auch zu großen, medienwirksamen Geschichten wurden, manche auch als Zitat in den Film gelangten – wie ein Leipziger Mordfall in Billy Wilders Film „Das verflixte 7. Jahr“.

Da wird dann auch die psychologische Dimension des Verbrechens angedeutet. Denn auch deshalb faszinieren Krimis ja – weil sie die seelischen Abgründe der Menschen sichtbar machen, die man mal als „Monster auf der Titelseite“ zu sehen bekommt, aber meistens im Alltag übersieht, weil man Menschen eben meistens nicht ansieht, wozu sie fähig sind, wenn ihre Emotionen mit ihnen durchgehen.

Henner Kotte „Morde, die Geschichten schrieben. Sachsen III: Vom Kalten Krieg bis Oktober ’89“, Tauchaer Verlag, Leipzig 2022, 12 Euro.

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