Ja, wo ist eigentlich die Mitte der Kirche, das, was sie für Menschen attraktiv machen kann? Seit 1965 verlieren beide großen Konfessionen in Deutschland Mitglieder. Das schien lange Zeit kein Problem zu sein, solange eine Mehrheit der Bevölkerung konfessionell gebunden war und die Einnahmen sprudelten. Aber diese Zeiten sind vorbei. Und auch Theologen wie Thomas Martin Schneider machen sich inzwischen ernsthaft Gedanken darüber, woran das liegen mag.
Er kommt in seinem Essay zu deutlich anderen Antworten als etwa die Bundeszentrale für politische Bildung, die schon 2020 in einer Analyse des rapiden Mitgliederschwunds der beiden Kirchen feststellte: „Der seit den späten 1960er-Jahren zu beobachtende Wertewandel und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen, die Zuwanderung nach Deutschland seit den 1950er-Jahren sowie die Veränderungen im Zuge der deutschen Vereinigung haben dazu geführt, dass die beiden christlichen Volkskirchen in Deutschland an Bedeutung verloren haben.“
Aber auch ganz simple finanzielle Gründe spielen eine Rolle: „Im Durchschnitt der 30 Jahre von 1989 bis 2018 sind pro Jahr 337.000 Personen aus der katholischen oder evangelischen Kirche ausgetreten. In einem Gastbeitrag für das Statistische Bundesamt wird darauf hingewiesen, dass bei den Personen, die aus der Kirche austreten, die Ersparnis der Kirchensteuer ein wichtiges Motiv für den Austritt sein kann.
So verweisen die Autoren auf Austrittsspitzen in den Jahren nach 1968 (bis 1975) und nach 1990 (bis 1995): Steuerzahler konnten durch den Austritt aus der Kirche Mehrbelastungen kompensieren, die aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer ab 1968 sowie der Einführung des Solidaritätszuschlags ab 1991 resultierten. Die Austrittswelle Ende der 1960er- bzw. Anfang der 1970er-Jahre ist zudem auf tiefgreifende Werte- und Einstellungsänderungen zurückzuführen – zahlreiche Menschen entfernten sich von den Kirchen als Teil der traditionellen Gesellschaftsstrukturen.“
Kirche vor dem Bedeutungsverlust?
Und das wird so weitergehen, wie die Evangelische Kirche in einer Hochrechnung bis 2060 zeigt. Von 21,5 Millionen Mitgliedern im Jahr 2017 wird sich die Mitgliederzahl der evangelischen Kirche noch einmal auf 10,5 Millionen halbieren.
Was dann eine reine demografische Hochrechnung ist – denn wenn es weniger Taufen gibt und weniger Kinder durch ihr Elternhaus christlich geprägt sind, schmilzt die Zahl der kirchlich gebundenen Bundesbürger zwangsläufig immer weiter. Eine Frage, die durchaus anklingt bei Schneider: Wo werden Kinder eigentlich religiös sozialisiert, wenn das im Elternhaus nicht mehr passiert? Was ihn dann dazu bringt, sehr ausführlich den Umgang der Bundesländer mit dem Religionsunterricht zu beleuchten – oder dem, was inzwischen draus geworden ist.
Denn natürlich reagieren auch die Kultusminister darauf, dass immer weniger Kinder aus kirchlichen Elternhäusern kommen, und versuchen, das Fach generell für Religionsunterricht zu öffnen oder gleich ganz die Ethik zu priorisieren. Die einmal zum Markenkern der Kirchen gehörte. Sie waren einmal moralische Instanzen. Stimmt.
Was Schneider, der als Professor für Kirchengeschichte an der Universität Koblenz lehrt, hier versucht, ist einerseits die Suche nach der Mitte, die Kirche heute noch ausmacht, und andererseits die Suche nach einer Erklärung in der jüngeren Geschichte, insbesondere der des 20. Jahrhunderts, dafür, dass die Mitglieder weglaufen. Denn so ganz unschuldig ist die Evangelische Kirche an dem Außenbild, das sie bietet, ja nicht. Genauso wenig wie die Katholische. Eigentlich geht Schneider sogar bis Luther zurück und darauf, was eigentlich der Kern der Lutherschen Reformen war – und warum die Evangelische Kirche eben nicht nur eine Reformierte Kirche ist, sondern sich fortwährend reformieren muss.
Der sündhafte Mensch
Und dass es Luther dabei um ein ganz wesentliches menschliches Anliegen ging, führt Schneider auch aus. „Die Selbsterkenntnis, dass wir sind, wie wir sind, das nannte Luther Buße“; schreibt Schneider dazu. Und: „Wie gesagt, Buße, das heißt nach Luther: Schau in den Spiegel, ganz ungeschminkt, da siehst du keinen Gott, sondern ein zerbrechliches Wesen, egozentrisch auf sich selbst fixiert, unfähig, sich selbst zu verwirklichen, sich selbst Lebenssinn zu stiften, unfähig letztlich auch sich und andere zu lieben.“
Harte Worte. Treffende Worte. Und eigentlich Worte, die erklären könnten, warum Kirche ein Ort der Zuflucht und des Trostes sein könnte in einer Zeit, in der immer mehr Menschen vereinsamen, unter psychischen Belastungen leiden und verzweifelt nach einem Sinn in ihrem Leben suchen.
Das könnte auch der Kern von Kirche sein. Wären da nicht die Hierarchien. Und möglicherweise die falschen Vorstellungen über die eigene Rolle. Etwas, was dem Kirchenhistoriker durchaus auffällt. Denn nicht nur Parteien mit dem C im Namen versuchen ja seit geraumer Zeit, ihr „Christentum“ quasi als moralisches Erbe der Geschichte anzupreisen. Ganz so, als wären Kirchen tatsächlich über 2.000 Jahre moralische Anstalten gewesen und hätten den von Egoismus, Machtdenken und finsteren Leidenschaften getriebenen Mächtigen immer den mahnenden Spiegel vorgehalten.
Aber die Wirklichkeit sah anders aus. Und schon auf Seite 28 zitiert Schneider den Züricher Historiker Philipp Sarasin, der herausgearbeitet hat, dass die verbreitete Erzählung, dass „die Menschenrechte … das über Jahrhunderte gewachsene Produkt aus der christlichen Achtung jedes einzelnen Menschen und dem aufklärerischen Glauben an die Herrschaft des Rechts“ gewesen seien, so nicht stimme.
Die alte Nähe zur Macht
Im Gegenteil: Jahrhundertelang war den Kirchenobrigkeiten ziemlich egal, ob Menschen entrechtet und ausgegrenzt wurden. Sie waren sogar in der kompletten Feudalzeit immer Teil der Macht und teils selbst weltliche Macht. Sie riefen zu Kreuzzügen auf, verbrannten Ketzer, schürten den Judenhass und waren auch noch lange nach Luther die Stimme der Mächtigen, predigten Gottesfurcht und Unterordnung. Und reagierten brachial und gnadenlos auf alle Verstöße gegen das, was kirchliche Bullen als Norm gesetzt haben – und das weit bis ins 20. Jahrhundert hinein.
Es ist ein sehr modernes Phänomen, dass sich Pfarrer und Pfarrerinnen deutlich politisch nach links orientieren, stellt Schneider fest. Insbesondere unterstützten sie seit den 1970er Jahren politische Positionen der SPD. Aber nicht durchweg. Denn gleichzeitig beobachtet Schneider das politische Auseinanderdriften innerhalb der evangelischen Gemeinschaften. Denn während die einen Pfarrer sich zunehmend für Abrüstung, Friedenspolitik, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit aussprachen, radikalisierten sich fundamentale Gruppen und bezogen zunehmend konservative bis reaktionäre Positionen. Stichwort: Evangelikale. Beide durchaus mit Berufung auf Bibel, Reformation und Luther.
Eigentlich ein Punkt, an dem man merkt, wie sehr Religion und Bibelauslegung immer schon Auslegungssache war. Und dass beides auch immer hochpolitisch war, weil es um das gültige Menschenbild in einer Gesellschaft geht und um die Positionierung zur Macht, zum Staat, zu den jeweils Mächtigen.
Kirche und Politik
In gewisser Weise macht Schneider die Politisierung in der zweiten Hälfte de 20. Jahrhunderts auch an der Politisierung in der ersten Hälfte fest, deren krasseste Ausformung ja die „Deutschen Christen“ im Nazireich waren, die sich geradezu den regierenden Nationalsozialisten andienten und eine Art „Deutsches Christentum“ vertraten, das ganz offensichtlich nichts mehr mit der tatsächlichen Botschaft der Bibel zu tun hatte. Was dann ja die Gegenbewegung der Bekennenden Kirche zur Folge hatte, in der sich Pfarrer zusammentaten, die diese Andienung an die regierende Ideologie nicht mittrugen. Was nicht heißt, dass sie damit schon Widerständler waren oder gar der NS-Ideologie Absage erteilten. Auch sie argumentierten in der Regel aus einer konservativen Position. So einfach, geradlinig und eindeutig ist die Kirchengeschichte der letzten 100 Jahre nun einmal nicht.
Aber gerade in dieser Uneindeutigkeit wird auch deutlich, dass ein rigider Bezug auf Bibel oder Luther auch starke illiberale Züge annehmen kann. Was Schneider durchaus auch zu einer kleinen Analyse Lutherischen Denkens insbesondere im Rahmen der sogenannten „Zwei-Reiche-Lehre“ animiert. Und auch wenn er es so dezidiert nicht ausspricht, wird deutlich, dass es das sehr verzwickte Verhältnis der Kirchen zum Staat und zur Macht ist, das ganz gewiss einen großen Anteil daran hat, dass seit den 1960er Jahren immer mehr Menschen ihre Kirchenmitgliedschaft kündigen.
Gerade weil Kirche nie wirklich staatsfern war (und auch heute nicht wirklich ist, obwohl sie einstige Einflussmöglichkeiten eingebüßt hat). Nach wie vor versucht sich Kirche als moralische Instanz zu inszenieren. Und das geht natürlich schief, wenn sich die Priester selbst falsch verhalten. Gerade bei jener Bevölkerungsgruppe, die heute im Wesentlichen die Kirchenmitgliedschaft ausmacht. Auch das erwähnt Schneider ja: Frauen, Ältere und mittelständisches Bürgertum.
Was im Umkehrschluss eben auch heißt: Die pauperen Schichten hat die Kirche praktisch ganz verloren. Was nicht nur an der staatlich verordneten Säkularisierung in der DDR liegt.
Gemeinde in Auflösung
Was freilich auch die Frage aufwirft: Ist das, was an religiösem oder gar innerkirchlichem Dialog stattfindet, überhaupt noch verständlich für Menschen, die die Bibel nicht mal mehr lesen? Und mit den Streitigkeiten der Konfessionen schon gar nichts mehr anfangen können und auch nicht mit den jahrhundertealten Riten?
Schneider selbst spricht ja von einem Traditionsabbruch. Was jahrhundertelang für normal und zwingend galt – nämlich Mitglied der Kirche zu sein, löst sich seit rund 60 Jahren immer mehr auf. Aus vielen verschiedenen Gründen. Übrigens ohne, dass die Gesellschaft in Chaos versinkt. Denn zu einem ethischen Verhalten ist der Mensch auch ganz ohne Gottesglauben fähig.
Aber womöglich ist Schneiders These nicht die richtige, wenn er die Politisierung der Kirche als Hauptursache dieser zunehmenden Entfremdung interpretiert, auch wenn sein Ansatz, die Ursachen dafür in der (Kirchen-)Geschichte zu suchen, nicht ganz falsch ist. Aber vielleicht sollte man die Ursache eben nicht in der Kirche selbst suchen, die sich ja mit all ihren Bekenntnissen, Interpretationen, Hierarchien und Strukturen plagt und damit fast immer nur sich selbst sieht, sondern eben außerhalb: in einer Gesellschaft, die sich seit über 60 Jahren zunehmend mobilisiert hat. Und zwar in allen Lebensbereichen.
Ein Bruch der Lebenswelten
Die alten, stabilen Dorfgemeinschaften haben sich aufgelöst, ganze Generationen haben ihre Koffer gepackt und sind in die Städte gezogen. Die Lebens- und Arbeitswelt hat sich dramatisch verändert. Da kann jeder Enkel seine Großeltern, noch besser die Urgroßeltern fragen, die noch wissen, wie starr, konservativ und von strenger Moral geprägt ihre Kindheit und Jugend war. Ganze Familienbilder haben sich verändert. Und bei den meisten Veränderungen war Kirche eben nicht vorn mit dabei, sondern hat gemahnt, verdammt und gebremst – auch die evangelische. Schneider geht ja nicht grundlos auf die durchaus konservativen Züge vieler auch geachteter Kirchenvertreter ein.
Man kann die „Linksorientierung“ vieler Pfarrer und Pfarrerinnen auch als Versuch sehen, das derart Verlorene irgendwie wieder einzuholen. Und gerade deshalb befindet sich die Evangelische Kirche in derselben Not wie die gläubigen und die ungläubigen Schäfchen. Dazu zitiert Schneider einen Vortrag von Karl Barth aus dem Jahr 1931, der der Kirche zwei Nöte attestierte: „Die erste Not, so Barth, gehöre sogar zum Wesen der Kirche. Es sei die Not, dass die Kirche das Heil nicht selbst besitze, nicht einmal teil- oder stückchenweise …“ Und die zweite Not ist dann, „dass die Kirche immer wieder in der Versuchung sei, trotzdem so zu tun, als habe sie das Heil oder zumindest Teile davon doch selbst, und dass sie sich dementsprechend um Öffentlichkeitswirksamkeit um ihrer selbst willen bemühe.“
Das geht dann natürlich an die Substanz. Und so ganz kann auch Schneider nicht die Frage beantworten, welche Rolle die Evangelische Kirche eigentlich spielen könnte in einer Gesellschaft, die ihren Trost ganz unübersehbar nicht mehr im sonntäglichen Gottesdienst sucht. Die Frage könnte sogar lauten: Wo sucht sie ihn dann? Und: Wo findet sie ihn eigentlich?
Thomas Martin Schneider „Kirche ohne Mitte? Perspektiven in Zeiten des Traditionsbruchs“, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023, 22 Euro.
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Danke für die Buchbesprechung und Bewertung!
Mir scheint der Mitgliederverlust innerhalb der pluralen, z.T. individualistischen Gesellschaft unvermeidlich. Das ändert nichts am weiterhin dringlichen Anliegen, darauf hinzuweisen, dass Mensch und Natur nicht allein aus sich heraus leben kann. Zum Trost zitiere ich gern Jacek KuroÅ„, der wohl mal im Blick auf die polnische katholische Kirche gesagt hat: “Eine gute Mutter entlässt ihre Kinder!”