Es ist ein kleines Lexikon geworden, das Nora Pester hier mit Unterstützung von Sven Trautmann aus dem Referat Internationale Zusammenarbeit der Stadt zusammengestellt hat. Eine Art Zwischenbilanz für die Erkundung der jüdischen Geschichte Leipzigs. Denn diese Erkundung begann spät, im Grunde erst 1985 so richtig, als nicht nur Bernd-Lutz Lange sich wunderte, dass praktisch keine Aufarbeitung der regionalen, jüdischen Geschichte in Leipzig vorlag.
Dabei muss man sich in der Leipziger Geschichte gar nicht einmal groß auskennen, um wenigstens von der Bedeutung der Juden gerade in der jüngeren Geschichte der Stadt gehört zu haben. Sie haben dem Brühl als internationales Pelzhandelszentrum Rang und Namen verschafft. Sie haben berühmte Bankhäuser gegründet und berühmte Verlage. Felix Mendelssohn Bartholdy hat eine ganze Musikepoche geprägt. Sie waren präsent und doch nicht präsent.
Die Lage war im Grunde noch so, wie sie Bernt Engelmann im Westen 1971 mit „Deutschland ohne Juden. Eine Bilanz“ beschrieben hatte. Ein Buch, das in Lizenz dann auch in der DDR erschien und durchaus für ein gelindes Entsetzen sorgte, denn es zeigte in all seiner Materialfülle, wie die Nationalsozialisten mit ihrem Vernichtungs- und Vertreibungsfeldzug gegen die deutschen Juden dem Land regelrecht Herz und Seele herausgerissen hatten.
Ein noch unvollkommenes Bild
Das intellektuelle Leben in Deutschland ist nach diesem gewaltigen Aderlass regelrecht verarmt. Und natürlich haben die vergangenen 30 Jahre nicht gereicht, um den Verlust für Leipzig überhaupt einmal umfassend zu bilanzieren. Auch wenn sich eine Handvoll Forscherinnen und Forscher, die in diesem Buch auch gewürdigt werden, sehr intensiv mit der Erkundung der jüdischen Geschichte Leipzigs beschäftigt haben.
Die ist zwar faktisch 800 Jahre lang. Doch auch Leipzig erlebte immer wieder die Entrechtung und Vertreibung der jüdischen Gemeinde, sodass sie teilweise über Jahrhunderte nicht mehr existierte, bis es dann doch wieder Sondergenehmigungen gab, dass Juden sich ansiedeln durften in Leipzig. Dass sie die Leipziger Messen über lange Zeit prägten und bereicherten, zeigt ja sogar eine Skulptur am Alten Rathaus, die zwei Messjuden, wie sie genannt wurden, im Gespräch zeigt.
Vom Beginn der Emanzipation konnte aber erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Rede sein, als sich tatsächlich eine jüdische Gemeinde in Leipzig etablieren durfte (rein formal gab es sie erst ab 1847) und im Johannistal auch der erste jüdische Friedhof Leipzigs entstand.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts prägten namhafte Persönlichkeiten aus dem Judentum die boomende Großstadt. So stark, dass Neid und Missgunst schon damals blühten, der alte Antisemitismus sowieso, der durch den neuen Antisemitismus noch befeuert wurde. Erfolg bedeutete eben nicht, dass die Menschen, die sich durch Bildung, Kreativität und unternehmerischen Mut emporgearbeitet haben, von Anfeindungen und Beleidigungen verschont blieben. Das, was Wagner in seinem Buch „Das Judenthum in der Musik“ verzapfte, war in einem großen Teil des konservativen Bürgertums gelebtes Ressentiment. Und einige der boshaftesten antisemitischen Verlage waren auch in der Buchstadt Leipzig ansässig.
Ein Zeichen gegen das Vergessen
Dieses Buch sammelt einige der bekanntesten Vertreter der jüdischen Welt in Leipzig, von denen man einige – stünde es nicht extra da – sowieso nicht als jüdisch begreifen würde. Das ist immer wieder die leichte Verstörung bei diesem Thema. Denn diese Separierung von Menschen jüdischen Glaubens oder auch nur jüdischer Herfkunft entspringt dem Ausgrenzungsdenken des erzkonservativen Bürgertums, das bis heute so gern von seinen „christlichen Werten“ schwadroniert. Und bemüht ist, andere auszugrenzen und als nicht dazugehörig zu definieren. Erst recht dann, wenn diese anderen mit Fleiß und Ausdauer Erfolge haben.
Wie Kurt Wolff, Henri Hinrichsen, Hans Kroch, Chaim Eitingon, um nur ein paar bekannte Namen zu nennen, die aber in keiner Weise erschöpfen, was Leipzig einst an erfolgreichen Leipziger Unternehmern jüdischer Herkunft hatte. Und auch die im Buch kurz porträtierten Künstlerinnen und Künstler – von Gerda Taro und Friedel Stern bis zu Alfred Szendrei – sind nur eine kleine Auswahl. Dasselbe bei den Wissenschaftlern und Autoren.
Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass Namen wie Georg Witkowski oder Hans Natonek fehlen. Aber da fängt man am besten erst gar nicht an, denn schon das, was mittlerweile auch in Buchform gewürdigt wurde, würde so ein handliches kleines Lexikon sprengen. Dieses zeigt eher in kompakter Form, dass wir heute um die Verluste zumindest wissen. Und dass die Menschen, die aus der Stadt und der Erinnerung getilgt werden sollten, doch nicht vergessen sind. Und dass Vielen mittlerweile bewusst ist, was da verloren gegangen ist, weil es die Stadt und ihre Kultur ungemein bereichert hat.
Auch nach dem Vernichtungsfeldzug der Nazis, der die jüdische Gemeinde in Leipzig praktisch ausgelöscht hat, während emsige Arisierer sich das jüdische Eigentum nur zu gern aneigneten. Ganze 30 Jüdinnen und Juden aus einer Gemeinde, die einst mit über 12.000 Menschen eine der größten jüdischen Gemeinschaften in Deutschland war, lebten 1945 noch in Leipzig. Und die Gemeinde wuchs auch nicht besonders stark in den nächsten 45 Jahren, war ja die DDR nicht nur ein abgeschottetes Land, sie pflegte auch ihre eigenen Vorurteile, hinter denen oft auch ein gelinder Antisemitismus steckte. Was dann auch wieder begnadete Hochschullehrer wie Hans Mayer und Ernst Bloch aus Leipzig vertrieb.
Ein neuer Beginn
Das Buch grenzt die Leipziger jüdische Geschichte zum Glück nicht auf die Zeit bis zum Faschismus ein, sondern zeigt auch, welche Persönlichkeiten nach dem Untergang des Hitlerreiches weiter daran arbeiteten, die jüdische Gemeinde am Leben zu erhalten. Bis zu jener tatsächlichen Zeitenwende von 1990, als die Leipziger Gemeinde auch wieder Zuzug aus der ehemaligen Sowjetunion erhielt und wieder deutlich anwuchs auf 1.200 Mitglieder.
Und aus dem Stadtbild sind die Orte jüdischen Lebens ja auch nicht völlig verschwunden. Auch sie werden in einem eigenen Teil in diesem kleinen Lexikon porträtiert und lokalisiert. Natürlich auch die Orte, die an die Gewalttaten gegen die jüdischen Mitbürger erinnern – allen voran der einstige Standort der Großen Synagoge in der Gottschedstraße, die 1938 zerstört wurde. Seit 1966 erinnert ein Gedenkstein an diese Zerstörung, seit 2001 auch die eindrucksvolle Installation von Sebastian Helm und Anna Dilengite. Ihre Bronzestühle erinnern ja nicht nur daran, dass die Synagoge ein Andachtsraum für eine große Gemeinde war, sondern auch ein ökumenischer Ort. Und damit eben auch daran, dass das Thema der jüdischen Geschichte Teil unserer gemeinsamen Geschichte ist.
Inzwischen erinnern einige hundert Stolpersteine an die einstigen Nachbarn, die ganz selbstverständlich in dieser Stadt lebten. Die sich meist gar nicht mehr über ihr Judentum definierten. Und dann trotzdem mitten aus einem bürgerlichen Leben herausgerissen und wie Vieh verfrachtet wurden, um ermordet zu werden.
Berechtigtermaßen merkt das Vorwort an, dass nun immer mehr auffällt, dass die Täter nicht sichtbar sind, dass sich so gut wie kein Historiker mit den Tätern beschäftigt hat und deshalb auch kein profundes Werk vorliegt, das zeigt, wer in Leipzig aktiv mitmachte beim Ausgrenzen, Entrechten, Enteignen und Ermorden der jüdischen Mitbürger. Denn das waren nicht nur die zwei Nazi-Oberbürgermeister, das waren auch etliche städtische Bedienstete, die eifrig mittaten beim Vorbereiten der Vernichtung. Das waren Unternehmer, Polizisten, Verantwortliche auf allen Ebenen, die meist mit bürokratischer Nüchternheit die Mordmaschinerie organisierten.
Und dann hinterher oft so taten, als wären sie nie dabei gewesen. Und nie verantwortlich.
Es kann nur eine kleine Auswahl sein
Anselm Hartinger, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums, würdigt das Buch als einen wichtigen Versuch einer „im Stadtaum verorteten Topographie des jüdischen Leipzigs“. Dora Pester merkt als Anstoß für dieses Projekt die Tatsache an, dass es einen „praktischen Stadtführer in handlicher Buchform“ noch nicht gab. Und man kann es tatsächlich so nutzen. Eine aufklappbare Karte ermöglicht es, die Topographie jüdischen Lebens zu erkunden, auch wenn natürlich nicht alles drin ist und drin sein kann. Nora Pester erwähnt selbst Gustav Brecher und Thomas Theodor Heine und noch etliche andere.
Ein wirkliches Lexikon mit den wichtigsten Vertreterinnen und Vertretern des jüdischen Leipzig würde tatsächlich das handliche Format gründlich sprengen. Aber genau in dieser Form ist es ein Angebot – insbesondere für all jene, denen Leipzigs jüdische Geschichte noch immer ein Buch mit sieben Siegeln ist. Und die hier in einem Kaleidoskop der Personen und Orte erstmals einen Eindruck vom Reichtum des jüdischen Lebens in Leipzig erlangen – samt Schule, Sportverein und der durch einen glücklichen Umstand überdauernden Brodyer Synagoge in der Keilstraße. Und natürlich lernt man auch einige der Menschen kennen, die heute das Gemeindeleben prägen.
Und so nebenbei eben auch die Arbeit all der Leipzigerinnen und Leipziger, die sich seit Bernd-Lutz Langes Anstoß von 1985 darum bemüht haben, die jahrzehntelang unsichtbar gemachte Geschichte wieder sichtbar zu machen und die Schicksale der vielen Verschollenen zu erkunden. Und natürlich auch wieder Fäden zu knüpfen bis hin zur Städtepartnerschaft mit Herzlyja. So wird nämlich erst beides sichtbar: der Reichtum dieses Teils der Leipziger Geschichte, ohne den die blühende Großstadt von 1833 bis 1933 nicht denkbar ist. Und die unheimliche Leere nach dem Mordfeldzug der Nazis, als die wenigen Überlebenden nur noch zeugen konnten von dem, was verloren gegangen ist.
Nicht ganz, das ist vielleicht der tröstlichste Gedanke dabei. Denn es ist auch ein berührender Gewinn, wenn Leipzigs jüdische Geschichte so wieder sichtbar wird und sich einordnet in die lebendige Geschichte einer Stadt, die immer davon gelebt hat, dass Menschen unterschiedlichster Kulturen hierhergekommen sind und diese Stadt als Lebens- und Schaffensort gewählt haben.
Und damit Leserinnen und Leser, die diese Geschichte noch nicht kennen, erst einmal hineinkommen in die Thematik, hat Sven Trautmann noch eine kleine Einführung in die jüdische Geschichte Leipzigs geschrieben, in welcher er die Widersprüche darin ebenfalls benennt. Die eben auch eine Mahnung und Warnung sind. „Der Umgang mit Minderheiten und die Fähigkeit, diese zu schützen, sind stets Spiegel des gesamtgesellschaftlichen Miteinanders, der Werte und der Zivilisation“, schreibt er.
Nora Pester „Jüdisches Leipzig. Menschen – Orte – Geschichte“, Hentrich & Hentrich, Leipzig 2023, 19,90 Euro.
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