In vielen Familien liegen diese Schätze – mal in einer alten Kiste auf dem Dachboden, mal als wilde Fotosammlung in einem alten Schuhkarton, da und dort stecken sie auch in säuberlich beschrifteten Fotoalben. Wegschmeißen sollte man das nie. Es sind die Erinnerungsschätze einer Familie. Und die alten Fotos erzählen auch von Zeitgeschichte.
Und zwar von jener Zeitgeschichte, die es eher selten in die üblichen Geschichtsbücher schafft – jene Geschichte, welche die Menschen in ihrem Alltag tatsächlich erleben. Manchmal gruppieren sich solche Familiengeschichten rund um einen besonderen Platz, wie den Klingerplatz in Engelsdorf. Der steht heute unter Denkmalschutz. Entstanden sind die Häuser hier um 1910 – auch um den wachsenden Bedarf nach Wohnraum in dem Dorf bedienen zu können, das erst 1999 nach Leipzig eingemeindet wurde.
Arbeitgeber RAW
Der Grund für das rapide Wachstum an Menschen, die unbedingt in Engelsdorf wohnen wollten, hieß RAW – Reichsbahnausbesserungswerk. Das entstand im Vorfeld des neuen Leipziger Hauptbahnhofes, dessen Bau 1909 begann und der 1915 eröffnet wurde. Das RAW gab über Jahrzehnte hunderten Menschen Beschäftigung – darunter mehrere Mitglieder aus der Familie Pechstein, deren Geschichte schon vor dem Umzug nach Engelsdorf mit der Bahn zu tun hatte. Denn der Urgroßvater des Autors war Lohnfuhrmann und transportierte mit dem Pferdefuhrwerk Frachten von Geithain nach Leipzig. Bei Wind und Wetter. Bis die Bahn kam. Denn als auch Geithain einen Bahnanschluss erhielt, war die Zeit der Pferdefuhrwerke vorbei. Sein Sohn Albin musste sich so oder so einen anderen Beruf suchen.
Er wurde Streckenarbeiter am Bahnhof Geithain. Bis sich herumsprach, dass es am Rangierbahnhof in Engelsdorf bessere Zukunftsperspektiven gab. Das war der Tag, als Opa Albin erst nach Sommerfeld umzog und später nach Engelsdorf, wo die „Baugenossenschaft für die Eisenbahnbediensteten in Leipzig – Engelsdorf“ ab 1909 ein ganzes neues Wohnensemble am Klingerplatz hochzog. Wo sich dann auch das Leben von Vater Herbert abspielte und die ersten Lebensjahre von Gerd Pechstein stattfanden, bis die Familie justament am 17. Juni 1953 wegzog.
Es ist also auch eine Kindheitsbegegnung, die Gerd Pechstein hier erzählt. Denn angeregt durch das Blättern in den alten Fotoalben und die Gespräche mit seinem Enkel Philipp war er wieder neugierig geworden auf die Orte seiner Kindheit. Nach einem Arbeitsleben in Ilmenau lebt der Autor heute im hessischen Butzbach. Und natürlich fuhr er mit gewissen Berührungsängsten nach Engelsdorf, Geithain und Borsdorf, wo einst die Kinderklinik stand, in der er geboren wurde.
Vieles hat sich verändert. Markante Orte und Namen aus seiner Kindheit sind verschwunden. Der Kontakt zu den einstigen Kameraden aus Kita und Schule ist abgerissen. Und einfach klingeln und die Leute ansprechen, das traute sich Gerd Pechstein bei dieser ersten Rückkehr nach Jahrzehnten dann doch nicht.
700 Jahre Engelsdorf?
Es hätte ja durchaus die Fortsetzung der Geschichte von den Kindern am Klingerplatz werden können. Im Fotoalbum haben sich die Bilder mit den vielen, vielen Kindern erhalten, die damals am noch jungen Klingerplatz wohnten, spielten und Leben in die Bude brachten. In einer Zeit, in der Kinderreichtum noch normal war und die Menschen auch durch die Arbeit im selben Betrieb miteinander verbunden waren. Und zwar über Jahrzehnte. Was dann so etwas Seltsames möglich machte wie echte Jubilarfeiern im Betrieb, bei denen die Mitarbeiter, die 25 oder mehr Jahre dabei waren, auch von der Betriebsleitung gewürdigt wurden.
Natürlich erhält sich in Fotoalben nie alles, was passierte. Im Vorwort entschuldigt sich Gerd Pechstein gar, dass er auch Bilder aus der Nazizeit mit aufgenommen hat. Aber die zeigen vor allem den aufwendigen Festumzug, den die Engelsdorfer 1935 organisiert hatten, um 700 Jahre Ortsjubiläum zu begehen. Natürlich so zünftig wie andere Städte damals auch – mit aufwendigen Kostümierungen aus allen Jahrhunderten.
Das Problem ist – wie so oft –, dass es keine frühzeitige schriftliche Erwähnung gibt. Man weiß nur, dass die Kirche schon um 1170 entstand, der Ort also sogar über 800 Jahre alt sein dürfte. Aber dass man dann pragmatisch eben ein Datum einfach festlegt, um zu feiern, das hat ja auch Leipzig 1965 mit der Feier von 800 Jahren Leipziger Messe und Stadtrecht gezeigt.
Für die Engelsdorfer war es trotzdem ein Ereignis, bei dem die Kameras klickten. Was da mit den Fotos besonders ins Bild rückt, ist natürlich vor allem die Jugend von Vater Gerd, der in Engelsdorf zur Schule ging, Torwart beim TSV Gerichshain wurde und bei einer Fahrt zu einem Fußballspiel 1932 einen für damalige Zeiten seltenen Autounfall erlebte und im Foto festhielt. Festgehalten ist aber auch eine Straßenbahn vor der Engelsdorfer Schule, die den heutigen Betrachter stutzen lässt – da fährt doch gar keine Straßenbahn?
Doch 1926 bekam Engelsdorf tatsächlich eine Straßenbahnverbindung nach Leipzig, die erst 1974 wieder gekappt wurde – aus Kostengründen, wie man auf der Homepage zur Engelsdorfer Historie nachlesen kann.
Was wirklich Glück im Leben ist
Aber echte Kindheitserinnerungen sind dann natürlich die Rodelpartien, die Ausflüge zur Obstweinschänke in Rötha, die Badeabenteuer in Brandis und Lübschütz. Und natürlich die erste Begegnung des Jungen mit seinem aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Vater. Man kann mit der Auswahl, die Gerd Pechstein aus dem Familienalbum mit ins Buch genommen hat, einen kleinen Blick in eine zwar fremde Familiengeschichte werfen. Aber wer in Engelsdorf aufgewachsen ist, wird manch Bekanntes wiederentdecken. Und mancher wird auch Querbezüge herstellen.
Und wer selbst nicht aus dieser Leipziger Ecke kommt, wird die Art wiedererkennen, mit der Familien das im Fotoalbum festhalten, was ihnen wirklich wichtig ist. Und was meistens herzlich wenig mit dem zu tun hat, was die großen Geschichtsbücher erzählen. Was man spätestens merkt, wenn man sich fragt, was wirklich Glück ist im Leben. Manchmal ist es auf den Fotos im Familienalbum festgehalten. Und manchmal überschwemmt es auch Opa, wenn er mit dem Enkel hinabtaucht in Erinnerungen, von denen er gar nicht mehr wusste, dass sie noch da sind – und zwar frisch und heftig. Sodass auch Gerd Pechstein an einer Stelle aufhören muss, Philipp weiterzuerzählen aus seiner eigenen Kindheit.
Dabei haben auch die Enkel so viele Fragen und wundern sich nur allzu sehr, wie komisch es zu Opas und Uropas Zeiten auf der Welt zuging.
Gerd Pechstein „Geschichten vom Klingerplatz“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2022, 10 Euro.
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