Scheinbar ist es nur die Beschreibung einer Reise. Einer nicht ganz gewöhnlichen Reise, auch wenn natürlich Bundesbürger/-innen in der Regel kein Problem damit haben dürften, einfach ins Flugzeug steigen zu können und über die Türkei in all die märchenhaften Länder des Nahen Ostens zu reisen, die uns aus den Nachrichten so vertraut scheinen. So wie es die Protagonistin dieser Reiseerzählung macht, „in irgendeinem Jahr vor einiger Zeit“.

Dass es nicht irgendein beliebiges Jahr ist, merkt man schnell. Denn der geheimnisvolle Orient ist schon längst nicht mehr friedlich. Das muss die Reisende schon im Libanon registrieren, als dort ein neuer Konflikt mit einer ungeliebten Regierung eskaliert. Ein Land, das seit 40 Jahren nicht mehr zur Ruhe kommt, eine Region, in der es seit 100 Jahren brodelt.

Eigentlich weiß sie es schon vor ihrer Reise dorthin, denn sie hat Kontakt zu einigen der Helfer, die dort insbesondere die Flüchtlingslager der Palästinenser betreuen, die seit über 60 Jahren wie Fremde im Land leben. Inzwischen sind aber auch noch die Flüchtlingslager der Syrer dazugekommen.

Es sind nicht die europäischen Länder, die die meisten Flüchtlinge aus den Kriegsregionen des Nahen Ostens aufgenommen haben. Die meisten leben hier – dicht an der Grenze ihrer Herkunftsländer, in die sie nicht zurückkehren können. Ähnliche Lager wird die Reisende später in Jordanien sehen. Und immer wieder trifft sie unterwegs Menschen, die sich hier – oft selbst heimatlos Gewordene – darum kümmern, dass wenigstens etwas Hilfe organisiert wird.

Die Geschichte unseres Lebens

Und dabei ist sie gar nicht losgefahren, um die Konflikte dieser Region zu lösen. Eher ist es eine Suche nach sich selbst, der Versuch, eine persönliche Krise in den Griff zu bekommen, die sich im Wesentlichen um das Weggehen der Tochter dreht. Ein literarisch selten bis nie aufgegriffenes Thema. Die meisten Autoren und Autorinnen kümmern sich lieber um diesen wilden Hormoncocktail, der mit der ersten Liebe entzündet wird. Aber schon Tucholsky frotzelte darüber, dass ausgerechnet beim Happyend immer abgeblendet wird und die Filmemacher sich sträuben, die Geschichte danach zu erzählen.

Die oft viel erzählenswerter ist und genauso ans Eingemachte geht. Und für viele Menschen, wenn dann die erwachsenen Kinder tatsächlich aus dem Haus sind, in einer bitteren Lebenskrise endet, in der sie dann alles infrage stellen. Denn bis dahin drehte sich alles um Familie und Kinder, gerade für Frauen.

Sie kümmern sich, entwickeln tiefe Bindungen, machen die Kinder oft sogar zum einzigen Mittelpunkt ihres Lebens, verzichten auf Studienerfolg und berufliche Karriere. Und auf einmal stehen sie – so scheint es – vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens und wissen nicht, ob sie alles falsch gemacht haben.

Auch die Erzählerin interpretiert das Zurückliegende als eine ganze Kette von Fehlern und Fehlentscheidungen. Und weiß doch selbst, dass andere Entscheidungen vielleicht genauso Fehler gewesen wären. Nur: Niemand kann ihr das sagen. Auch nicht ihre beste Freundin, die ihr – virtuell – auf dieser Reise so etwas wie die letzte Stütze ist und sie immer wieder aufbaut, wenn die Niedergeschlagenheit ihr allen Mut und alle Zuversicht zu rauben droht.

Die Menschen reisen die ganze Zeit …

Und das passiert natürlich auf so einer letztlich nicht wirklich geplanten Reise. Die Erzählerin weiß von Anfang an, dass es eher eine Suche ist nach dem verlorenen Puzzleteil in ihrem Leben – und nach sich selbst. Im Gepäck und im Kopf auch einige Bücher, die auch deshalb zu Klassikern geworden sind, weil sie für alle Menschen die elementaren Fragen stellen. Und gar nicht unerwartet auch den „Kleinen Prinzen“, den sie auf einer ihrer letzten Stationen in Ägypten zitiert: „Die Menschen reisen die ganze Zeit und kommen doch nie an.“

Genau so geht es ihr ja, während sie erst im Libanon, dann in Jordanien und zuletzt in Ägypten all die sagenhaften Orte besucht, die man teils aus der Bibel kennt, teils aus den Schriften der alten Griechen – Byblos, Baalbek, Tyros, später Gerasa, Petra, das Katharinenkloster. Immer wieder bricht sie kurzentschlossen zur nächsten Fahrt auf, mal mit dem Mietwagen, öfter mit den eigenwilligen Bus- und Taxifahrern, ohne Scheu vor Begegnungen mit den Menschen, die hier leben.

Zu Fuß durchstreift sie die alten, malerischen Städte, von denen sie weiß, dass das Malerische nur deshalb so empfunden wird, weil die Menschen hier in Armut leben. Einer Armut, die man sich oben im wohlhabenden Norden nicht vorstellen kann. Und die sie immer wieder schildert.

Sie weiß, dass sie in einer auserwählten Position ist, dass sie sich die Hotels, die sauberen Badestrände, die heißen Duschen und die vielen köstlichen Mahlzeiten leisten kann. Und dass sie umsorgt wird, denn sie hat das Geld. Sie weiß auch, dass die Freundlichkeit nicht ihr selbst gilt und dass sie morgen, wenn sie abgereist ist, schon vergessen ist. Oft genießt sie dieses Alleinsein, schreibt ihre Träume auf und versucht, mit sich selbst und ihren Gefühlen ins Reine zu kommen. Hoffend, auf dieser Reise durch teils einsamste Landstriche, wieder in Einklang mit sich zu kommen.

Außerhalb der Zeit

Sie ist nicht nur – gefühlsmäßig – „außerhalb der Zeit“. Sie ist auch in einer Parallelwelt unterwegs, weiß, dass es eine Parallelwelt ist. So wie auch unsere europäische Sicht auf die Länder des Nahen Ostens oft eine abgehobene Sicht aus einer parallelen Welt ist, ohne dass wir wirklich ein Verständnis haben für die Nöte dieser Länder und ihrer Bewohner.

Und da die Auszeit begrenzt ist, weiß die Reisende auch, dass sie nur für diese rastlosen Tage wirklich außerhalb der Zeit lebt, ihrem eigenen Rhythmus folgt und etwas genießt, was den Menschen, denen sie begegnet, nicht gegönnt ist. Für die ist das Märchenland bittere Realität. Oder einfach das tägliche, karge Leben. Sich einfach so treiben lassen, das kann nur die Frau aus dem Norden, die bei der Überfahrt auf der Fähre nach Ägypten an den hunderten Einheimischen vorbeigeschleust wird, die in der Schlange vor ihr warten.

Sie genießt es nicht. Denn damit wird sie an ihre tatsächliche Rolle erinnert. Sie ist nur hier, weil sie sich das leisten kann, ihre Stempel für das Visum bekommt und morgen einfach weiterfahren kann, wenn sie die Tage im Hotel nicht mehr aushält. Sodass sie den Freiraum hat, sich mit ihren eigenen, unbeantwortbaren Fragen zu beschäftigen: „Manchmal hatte sie es genossen, Irrwege zu gehen, die dann doch keine waren, manchmal vermutete sie einen Ausgang und hatte sich getäuscht. Das war das Leben.“

Welches sind die richtigen Wege?

Manchmal braucht man tatsächlich so lange, bis man das für sich akzeptieren kann, dass man den Erwartungen der Eltern sowieso nie genügt hätte und es vielleicht gut gewesen wäre, die Eltern frühzeitig zur Rede zu stellen. Doch die sind tot. Das kann sie jetzt nicht mehr nachholen. Doch was man abwerfen kann, sind die eigenen falschen Erwartungen, welche man die ganze Zeit mit durchs Leben geschleppt hat, oft mit schlechtem Gewissen, weil man den Anspruch, etwas Besonderes zu werden, doch nie eingelöst hat. Obwohl man es vielleicht gekonnt hätte.

Aber wer sagt einem das, dass man es wirklich gekonnt hätte und dabei auch noch glücklich geworden wäre? Ist das Leben am Ende tatsächlich nur ein Flickwerk, bei dem alles aus lauter Fehlern und Provisorien besteht?

Irgendwie scheint sie ganz am Schluss tatsächlich so einen inneren Klang gefunden zu haben: „Immer wieder neu die Wege einschlagen, die man sich erdachte, ohne jemals die Sicherheit zu haben, dass es die richtigen waren, aber mit dem Vertrauen, dass sie sich für eine selber irgendwann als die richtigen erweisen.“

So betrachtet, war die scheinbar ziellose Reise durch die geschichtsträchtigen Landschaften auch ein Sinnbild für das Leben selbst. Für die ganze Rast- und Ratlosigkeit, mit der ein Mensch ja tatsächlich durchs Leben wandert, mit wechselnden Zielen, unsicheren Wegen und immer der nicht zu beantwortenden Frage, ob die letzte Abzweigung tatsächlich die richtige war.

Was findet man auf einer Reise?

Was dann aber auch wieder passt zu diesen kaputten und kaputtgemachten Ländern, die sie durchstreift, Länder, die ihre alten Konflikte nicht gelöst bekommen und in denen Millionen Vertriebene leben wie Schatten. Landlose Reisende in einem Leben, in dem Generation um Generation in Zeltstädten aufwächst, während die ach so weisen Europäer zuschauen und den Nahostkonflikt nicht begreifen können.

Eben, weil sie ihn meist nur aus dritter und vierter Hand kennen. Und nicht einmal mit dieser Vertrautheit, mit der sich die Erzählerin in diesem Buch auf die Menschen auf ihrer Reiseroute einlässt, ihre Gastfreundschaft, ihre Offenheit und ihre Beharrlichkeit, mit der sie versuchen, das Beste draus zu machen.

Was findet man auf so einer Reise? Vielleicht ein wenig mehr Klarheit über sich selbst und sein Leben. Am Ende ist es Schuberts „Winterreise“, die sie die ganze Zeit begleitet hat. Auf einer Reise, die nur aus lauter nächsten Tagen bestand. Nur der letzte Tag ist dann tatsächlich der letzte Tag.

Auch so ein Lebens-Bild, das man manchmal erst beim Wandern durch die Wüste entdeckt: dass das eigene Leben aus lauter nächsten Tagen besteht. Und man nichts festhalten kann, so weh es auch tut. Auch die Kinder nicht, die ihr eigenes Leben leben wollen. Und müssen. Es geht gar nicht anders.

Unvorhersehbare Momente

Und gerade weil Rika Sibyllin der Reise am Ende keinen an den Haaren herbeigezogenen Sinn aufpfropft, ist es eine besondere Reisebeschreibung geworden. Eine der Vergewisserung und der Suche, verfremdet in eine andere Person, der die Autorin nur zugehört haben will: „Sie hatte zwei, wie sie sagte, wunderbare Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und lebte mit der zerstörerischen Last, zuviele Fehler in ihrem Leben nicht erkannt zu haben. (…)

Nun war sie etwas älter geworden und hatte beschlossen, sich auf eine Reise außerhalb der Zeit zu machen, um herauszufinden, was Leben war, was Traum und worin die Unterschiede bestanden und wollte sich endlich begegnen ..“

Eine Fiktion? Wer weiß. Am Ende ist die Reise selbst das Leben. Mit all ihren Irrwegen, Einsamkeiten, Momenten der Einkehr und den unverhofften Aufbrüchen an immer neue Orte, die so völlig außerhalb der Zeit zu liegen scheinen. „Das war es doch, was sie wollte, diese unvorhersehbaren Momente, in denen sie so viel lernen konnte, in denen man sich urplötzlich auf eine Situation einstellen musste, die man nicht vorhersehen konnte.“

Manchmal scheint es gar nichts Großes zu sein, was wir auf Reisen finden. Und manchmal ist es genau das, was wir gesucht haben. Und wenn es nur die Einsicht ist, dass unsere Fehler und Irrwege unser Leben sind. Und das niemals anders sein wird. Nicht innerhalb der Zeit und nicht außerhalb.

Rika Sibyllin „Eine Reise außerhalb der Zeit“, Einbuch Verlag, Leipzig 2022, 15,40 Euro.

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