Es ist zwar 90 Jahre her, dass in der Nacht des 27. Februar der Reichstag brannte. Aber das Ereignis ist gerade wegen seiner Folgen aktuell bis heute. Denn er wurde zum Auslöser all der Verordnungen und Maßnahmen, mit denen die Nationalsozialisten den Ausnahmezustand begründeten und den Terror in Gang setzten, mit dem sie zwölf Jahre lang regierten. Ganz am Anfang aber sollte das noch irgendwie rechtmäßig aussehen.

Auch für die dann schon am 28. Februar in Kraft gesetzte Notverordnung „Zum Schutz von Volk und Staat“ brauchte es einen Anlass. Und der kam mit dem brennenden Reichstag wie gerufen. Dass er für die Nazis wie gerufen kam, darüber streiten die heutigen Historiker kaum noch. Doch sie streiten darüber, wer den Reichstag tatsächlich in Brand gesetzt hat.

Seit über 60 Jahren hält sich in einigen Historikerkreisen und einigen deutschen Medien hartnäckig die Einzeltäterthese, nur der holländische Anarchist resp. Kommunist Marinus van der Lubbe habe die vielen kleinen Brände in Reichstag gelegt und im Plenarsaal dann auch noch das große Feuer, das dann binnen weniger Minuten die Glaskuppel zum Einsturz brachte.

Ein idealer Zündfunke für unbeschränkten Terror

Dass man direkt beteiligte Zeugen nicht mehr befragen kann, ist dem freien Journalisten Uwe Soukup nur zu bewusst. Und dass viele der Beteiligten nach 1945 gar kein Interesse daran hatten, zu reden oder gar die Hintergründe des Brandes zu erhellen, weiß er auch. Denn wer alle Hintergründe kennt, weiß, wie systematisch eine kleine radikale Clique die Chance im Februar 1933 nutzte, die noch existierenden Reste der Weimarer Republik mit einem Handstreich zu beseitigen und alle Gegner einer nationalsozialistischen Diktatur auszuschalten. Und dabei gleichzeitig auch noch die Mehrheit der Wähler zu täuschen und dazu zu bringen, bei der Reichstagswahl am 5. März den Nationalsozialisten ihre Stimme zu geben.

Das vergisst man meist: Der Brand fand mitten im Wahlkampf statt. Adolf Hitler brauchte für den Anfang eine halbwegs als legal zu bezeichnende Wahl möglichst mit einem haushohen Sieg der NSDAP, um dann im Anschluss sein Programm mit diktatorischen Vollmachten durchziehen zu können. Denn diese Vollmachten hatte er im Februar 1933 noch nicht. Reichspräsident von Hindenburg hatte ihn lediglich zum Kanzler ernannt und mit der Regierungsbildung beauftragt.

Noch saßen die Sozialdemokraten im Reichstag und normalerweise hätten auch noch 100 Abgeordnete der KPD drin gesessen, wenn nicht unmittelbar noch in der Nacht vom 27. zum 28. Februar der Terror gegen die Politiker der Linken begonnen hätte. Mit Verhaftungslisten, die schon lange vor dem 27. Februar erstellt und noch am Nachmittag des 27. Februar – vor dem Brand im Reichstag – verteilt wurden.

Schon 1933 glaubte kaum jemand, dass dieser Brand im Reichstag ohne die Nationalsozialisten und ihr emsiges Mittun hätte ausgelöst werden können.

Und umso seltsamer findet es Soukup, dass Teile der Historikerzunft und ein Medium wie „Der Spiegel“ die 1962 vom damaligen Mitarbeiter des niedersächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz Fritz Tobias begründete These vom Einzeltäter Martinus van der Lubbe bis heute verteidigen.

Der Hauptangeklagte unter Drogen?

Obwohl so ziemlich alles, was man über die Vorgänge am Abend des 27. Februar 1933 weiß, gegen die Tat eines einzelnen Mannes spricht, der mit nichts anderem als handelsüblichem Kohleanzünder in den Reichstag eingestiegen sein will und binnen weniger Minuten nicht nur mehrere kleine Brände ausgelöst haben will, sondern auch einen großen Brand im Plenarsaal. Dagegen sprechen schon alle 1933/1934 erstellten brandschutzfachlichen Gutachten und Tatortbeschreibungen. Und Brandschutzexperten der jüngeren Zeiten bekräftigen es.

Welche dubiose Rolle schon 1933 der mit dem Fall beschäftigte Polizeibeamte Walter Zirpins spielte, haben Karola Hagemann und Sven Kohrs in ihrem Buch „Walter Zirpins – ohne Reue“ sehr akribisch dargestellt. Auf ihn ging damals schon die Alleintäter-These zurück, obwohl diese auch durch den Reichstagsbrandprozess nicht bestätigt werden konnte. Was auch kaum möglich war, denn vieles spricht dafür, dass die agierenden Täter den Brand so angelegt hatten, dass er nach der Beteiligung einer ganzen Gruppe aussah. Und da musste gar nicht erst die Nacht vergehen, da zeigten die Nazis auf die Kommunisten. Van der Lubbe, der dann – halb entkleidet – am Tatort aufgegriffen wurde, galt als lebendiger Beweis für deren Täterschaft.

Nur glaubte das nach dem Prozess ebenso kaum jemand, denn gerade van der Lubbe fiel im Gerichtssaal durch Apathie und Nichtansprechbarkeit aus, ganz so, als wäre er regelrecht unter Drogen gesetzt worden. Ein Verdacht, der nicht nur Soukup umtreibt. Im Januar hat die in Leipzig ansässige Paul-Benndorf-Gesellschaft die sterblichen Überreste Marinus van der Lubbes auf dem Leipziger Südfriedhof exhumieren lassen. Sie werden jetzt in der Gerichsmedizin auf mögliche Spuren der van der Lubbe mutmaßlich verabreichten Drogen untersucht.

Gewimmel im Reichstag

Denn mehrere Augenzeugenberichte erzählen von dramatischen Szenen bei van der Lubbes Hinrichtung, als der zum Tode Verurteilte augenscheinlich merkte, dass Versprechungen, die man ihm gegenüber abgegeben hatte, nicht eingehalten wurden. Er musste gegen heftigen Widerstand regelrecht aufs Schafott gezerrt werden. War er Opfer einer Intrige, an deren Ende der wichtigste Zeuge möglichst schnell verstummen musste?

Denn einen redenden van der Lubbe – der übrigens auf Grundlage eines Gesetzes verurteilt wurde, das es am 27. Februar überhaupt noch nicht gab, eine Verhöhnung jeder rechtsstaatlichen Grundsätze – konnten sich die Nazis nicht leisten. Zu diesem Zeitpunkt jedenfalls noch nicht. Noch brauchte Hitler eine möglichst erfolgreiche Wahl, die ihm freie Hand gab, auch noch die letzten Rechte außer Kraft zu setzen und das Land endgültig gleichzuschalten.

Es gibt noch weitere Zeugenaussagen und Zeugnisse, die darauf hindeuten, dass sich am Abend des 27. Februar 1933 im und um den Reichstag geradezu eine inszenierte Komödie entfaltete, in der der kurz zuvor erst aus Holland ins Reich gelockte Marinus van der Lubbe eher die Rolle eines Komparsen spielte. Es sind Indizien, die das Bild verstärken, das die verschiedene Brandgutachten ergeben. Mit Kohleanzünder allein hätte ein Einzeltäter den Plenarsaal niemals in Brand setzen können. Und Augenzeugen fielen schon in der Brandnacht die Benzingerüche im Reichstag auf. Ausmaß und Wucht des Feuers deuten darauf hin, dass hier mehrere Täter sehr systematisch zu Gange waren.

„Das Absurde an dieser Debatte war all die Jahre, dass die Gegner der Alleintäterthese eine These zu widerlegen hatten, die nie belegt worden war, denn es gibt schlicht keine Beweisführung, wie Marinus van der Lubbe allein und ohne Hilfsmittel in sehr wenigen Minuten den Plenarsaal des Reichstags in ein flammendes Inferno verwandeln konnte“, schreibt Uwe Soukup.

Auch im Reichstagsbrandprozess ging es nicht darum, van der Lubbe zum Einzeltäter zu stilisieren, denn eigentlich war das Ziel der Nazis ja, die Kommunisten für den Brand verantwortlich zu machen. Auch wenn den Angeklagten Ernst Torgler, Georgi Dimitroff, Blagoi Popow und Wassil Tanew keinerlei Beteiligung an dem Brand nachgewiesen werden konnte.

Wie auch? Nicht einmal den von Hitler am 28. Februar behaupteten Aufstand der Kommunisten gab es. Und damit auch keinen organisierten Terror von links. Aber eben einen staatlich orchestrierten Terror von rechts. In den dann erstaunlich viele Männer verwickelt waren, die direkt oder indirekt mit dem Reichstagsbrand in Verbindung gebracht wurden.

Was soll die Einzeltäterthese verschleiern?

Bis hin zu den scheinbar linken Akteuren, die van der Lubbe im Februar zur Reise nach Berlin überredet hatten und sich in Berlin emsig um den Holländer kümmerten – Fritz Henssler und Wilfried van Oven. Beide machten dann im NS-Reich erstaunliche Karrieren. Während etliche Augenzeugen, die den Nazis nicht so zuverlässig erschienen, im sogenannten „Röhm-Putsch“ beseitigt wurden.

Und mit Fritz Tobias wird die Sache nicht besser. Soukup gesteht ihm zwar zu, er habe sein Buch und die im „Spiegel“ erschienenen Artikel deswegen gefasst, um ein Bollwerk gegen die aus Ostdeutschland kommende Propaganda zu schaffen. Aber umso frappierender findet er die Rolle, die das in München heimische Institut für Zeitgeschichte damals spielte, das der von Fritz Tobias vorgebrachten Einzeltäterthese erst die “wissenschaftlichen” Weihen gab.

In seinem Buch rekonstruiert er die Vorgänge, wie das damals vonstattengegangen sein könnte. Immerhin befindet man sich 1962 noch in jener Zeit, in der zahlreiche ehemalige führende Nationalsozialisten wieder auf einflussreichen Posten saßen, einander unterstützten und alles taten, um ihre Verstrickungen in die Vorgänge in der Vergangenheit zu verschleiern.

Und dazu zählen nun auch einmal in die Machenschaften rund um den Brand des Reichstages, der Hitler genau den Vorwand gab, das Land mit staatlichem Terror zu überziehen und nicht nur die linken, sondern alle der Demokratie verpflichteten Kräfte auszuschalten. Oder mit den Worten Sebastian Haffners, die Soukup auch zitiert: Mit der Abräumung des linken und demokratischen politischen Feldes, das „bis heute nicht wirklich aufgeklärt ist“, „wurde ein neues Element in die deutsche Politik eingeführt: der legale staatliche Terror“.

Da wird es nämlich spannend. Denn das ist die Gefährdung auch unserer Demokratie, wenn man Rechtsradikalen wieder auch nur die Möglichkeit einräumt, in die Nähe staatlicher Macht zu gelangen: Der Reichstagsbrand ist die Blaupause dafür, wie man – scheinbar völlig legitim – eine Republik zerstört und eine absolute Macht und Terrorherrschaft installiert. Also mit Gewalt aus einer eben noch irgendwie funktionierenden Demokratie mit ihren Grundrechten eine blutige Diktatur macht und gleichzeitig den Anschein von Legitimität erweckt.

Kleine Denkpause.

Startsignal für die Terrormaschine

Sebastian Haffner war ja Zeitzeuge und hat die damaligen Vorgänge sehr genau beobachtet und in seinen Büchern sehr genau darüber geschrieben.

Uwe Soukup jedenfalls nimmt die Einzeltäterthese, die Fritz Tobias vor über 60 Jahren mit erstaunlicher Penetranz in den wissenschaftlichen Diskurs drückte, systematisch auseinander. Auch wenn er am Ende nicht schreibt, van der Lubbe sei es nicht gewesen. Aber er zeigt, dass die Einzeltäterthese nicht bewiesen wurde. Was ja – wie erwähnt – 1934 nicht mal im Interesse der Nazis lag, die ja den Terror gegen die Kommunisten begründet sehen wollten und sich schwarzärgerten, dass sie das nicht beweisen konnten.

Aber allein die Brandgutachten belegen, dass man es nicht mit einem Einzeltäter zu tun haben kann. Und auch diverse Zeugenaussagen legen den argen Verdacht nahe, dass hier eine ganze Menge Männer planmäßig vorgingen, die „Schwatzbude“ (wie sie die Nazis nannten) in Feuer aufgehen zu lassen und gleichzeitig einen Vorwand zu konstruieren, mit dem umgehend die wahrscheinlich längst vorbereiteten Notstandsverordnungen umgesetzt und am 28. Februar der Terror zuallererst gegen die Kommunisten beginnen konnte. Zu Tausenden wurden sie sofort verhaftet, eingesperrt, gefoltert und auch schon getötet.

Die nicht ganz unwesentliche Machtfrage

Da ist eine durchaus berechtigte Frage, ob nicht all die Täter, die nach 1945 wieder Karriere im Westen der Republik gemacht hatten, ein sehr hohes Interesse daran hatten, ihre Mittäterschaft an der Zerstörung der Weimarer Republik zu verschleiern und die Diskussion über die Rolle des Reichstagsbrandes für die Installation des Nazi-Terrors herunterzuspielen und so beiläufig eben doch einem Kommunisten in die Schuhe zu schieben.

Einem Mann, der im gesamten Reichstagsbrandprozess eigentlich nicht verhandlungsfähig war, während der mitangeklagte Georgi Dimitroff sich nicht nur selbst verteidigte, sondern die komplette Anklage für sich und seine Genossen zusammenbrechen ließ. Eine der deftigsten Niederlagen, die die Nazis erlebten. Was dann auch zur Folge hatte, dass ziemlich bald der Volksgerichtshof eingerichtet wurde, an dem Angeklagte mit einer gerechten Verhandlung ganz bestimmt nicht mehr rechnen konnten.

Aber es ist offenkundig, dass hier auch die Antwort zu suchen wäre, die das jahrzehntelange Hochhalten der Einzeltäterthese verständlich machen würde. Dabei geht es nicht nur um die selbst vorbelasteten Nazis in neuen Karrieren. Sondern auch um das Denken, das sie damit weiterhin in die entscheidenden Institutionen trugen – ein autoritäres Denken, das immer wieder auch Stereotype des faschistischen Denkens reproduzierte und bei allen rechten Umtrieben im Land immer gern ein oder zwei Augen zudrückte, während man gegen jede linke Verirrung nur zu gern den großen Knüppel herausholte.

Wer die Deutungsmacht hat, kann auch Geschichte verdrehen und vernebeln. Und eine ganze Historikerzunft in eine völlig sinnfreie Debatte um eine Einzeltäterthese verwickeln, die den Blick darauf verstellt, wie systematisch die Nationalsozialisten im Februar 1933 daran gingen, aus der geschenkten Macht einen absoluten staatlichen Terror zu machen.

Uwe Soukup „Die Brandstiftung“, Heyne Verlag, München 2023, 22 Euro.

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