Nicht nur in Mitteleuropa versuchen Populisten, die Grundlagen unserer Demokratie zu demolieren. Auch in Schweden marschieren sie und drรคngen mit volkstรผmlichen Parolen ins Parlament. Sie appellieren an ein Verstรคndnis von Gemeinsinn, das Menschen zu Mitlรคufern und fรผgsamen Herdentieren macht. Schafen zum Beispiel. Eine Gefahr, welche die schwedische Kinderbuchautorin Pija Lindenbaum in eine ein bisschen dystopische Geschichte gepackt hat. Wรคre da nicht das Kind mit seinen Vielleicht-Gedanken.
Die Szene aber ist beklemmend genug: Irgendwo abgeschieden von der Welt leben Kinder in einer Art groรem Kinderheim โ aber sรคuberlich getrennt in die Ringelblumen und die Primeln. Alle gleich gekleidet, mit gleicher Topfschnittfrisur. Nur dรผrfen die Ringelblumen unter Anleitung der Schรคfin lauter kindgerechte Spiele spielen, wรคhrend die Primeln alle niedrigen Tรคtigkeiten verrichten mรผssen. Auch Steine schleppen, wรคhrend die Ringelblumen entspannt den Wolken zuschauen sollen.
โIch mag es, wenn es ungerecht istโ
โIch mag es, wenn es ungerecht istโ, sagt die Schรคfin, die in Manchem doch ein bisschen an Frau Knรผppelkuh aus Roald Dahls Kinderbuch โMatildaโ erinnert. Nur dass die Schรคfin ihre Kinder augenscheinlich ganz ohne Schreien und Brรผllen im Griff hat. Sie hat ein System geschaffen, in dem die Kinder ganz selbstverstรคndlich akzeptieren, dass es ungerecht zugeht. Selbst die Primeln mucken nicht auf.
Nur das Kind, das hier seine Geschichte erzรคhlt, fragt sich, ob die Dinge nicht auch anders sein kรถnnten. Und bringt im Lauf der Geschichte das ganze System durcheinander, das einen durchaus auch an die Funktionsweise unserer Gesellschaft erinnern darf. Denn dass viele Ungerechtigkeiten darin einfach deshalb funktionieren, weil die benachteiligten Menschen ihre Position in der Hierarchie einfach akzeptieren, fรคllt meistens erst dann auf, wenn sie rebellierend auf die Straรen laufen und gelbe Westen anziehen.
Was dann allseitiges Unverstรคndnis auslรถst, denn das Denken darรผber, wie eine Gesellschaft eigentlich โnach Natur der Dingeโ eingerichtet ist, sitzt tief in den Kรถpfen. รberall gibt es unsichtbare Linien, auf deren Einhaltung diejenigen, die von den Vorteilen profitieren, genauso drรคngen wie diejenigen, die im Schweiรe ihres Angesichts malochen mรผssen und trotzdem meinen, Ordnung und Sicherheit seien die allerobersten Gebote.
Bis dann so eine kleine Ringelblume auf die Idee kommt, des Nachts einfach mal mit den Primeln die Kleidung zu tauschen. Eine Idee, die auch erst einmal die Primeln รผberrascht, den von selbst wรคren sie eigentlich gar nicht darauf gekommen. Und alle Kinder spielen mit, was dann an den Folgetagen erhebliche Verunsicherungen in der Welt der Schรคfin auslรถst. Denn jetzt verhalten sich die Ringelblumen nicht mehr so, wie sie das von den Ringelblumen gewohnt ist. Und die Primeln verhalten sich ebenso seltsam. Und als dann auch noch der Topf verschwindet, unter dem allen Kindern dieselbe Frisur verpasst wurde, ist die Schรคfin restlos รผberfordert. So kann das allerletzte Abenteuer beginnen, mit dem die Kinder aus der Welt ausbrechen, die ihnen als einzig sichere suggeriert worden war.
Sonst fressen dich die Lรถwen โฆ
Denn die Schรคfin hat auch einen dicken weiรen Kreidestrich um die vier Hรคuser und den See gezogen, wo sie leben. Ein Strich, den keiner รผbertreten darf, sonst wird er vom Blitz erschlagen oder von Lรถwen gefressen.
Das dรผrfte auch die vorlesenden Erwachsenen ins Nachdenken bringen. Denn wie viele solcher Kreidestriche bestimmen eigentlich unser Leben und die Grenzen unserer Freiheit? Was nehmen wir einfach hin, weil uns gesagt wurde, dass wir sonst von Lรถwen gefressen werden โ bildlich gesprochen? Wie viele Menschen leben in ihren engen Kreidekreisen und hadern damit, dass sie ihr eigenes Leben nicht gelebt haben und sich nie getraut haben, die Sinnhaftigkeit des Kreidestrichs zu hinterfragen und einmal vorsichtig den Fuร auf die andere Seite zu setzen?
Wenn man das alles so ausformuliert, merkt man, dass Pija Lindenbaum hier eigentlich ein sehr philosophisches Kinderbuch geschaffen hat, das die Knirpse mit einigen Problemen unserer Gesellschaft konfrontiert โ ohne groร aufzutragen, geradezu in schรถnster kindlicher Naivitรคt.
Denn in dem neugierigen Ringelblumen-Kind kann man sich ja selbst wiederentdecken, mit all den kleinen, nervigen Fragen, die man sich so stellt, wenn man sich in der von lauter Kreidelinien umgrenzten Welt der Erwachsenen zurechtzufinden versucht. Und dabei so nebenbei auch bemerkt, dass es sehr ungerecht darin zugeht. Auch dann, wenn man aus der privilegierteren Position auf die benachteiligten Kinder schaut, denen ganz selbstverstรคndlich zugemutet wird, dass sie die ganzen Dienstarbeiten machen, damit es die privilegierten Ringelblumen schรถn und sauber haben.
Was ist hinterm Kreidestrich?
Was zuerst anmutet wie eine Karikatur einer autoritรคren Gesellschaft, entpuppt sich eigentlich als Spiegelbild unserer eigenen Welt, in der Ungerechtigkeiten geradezu als gottgewollt behandelt und fรผr die Ewigkeit bestimmt behandelt werden. Und die stete Drohung an unruhige Geister, die das Bestehende infrage stellen, kennt man auch. Meist wird sie sehr sanft ausgesprochen. Auch wenn sie leicht ins Autoritรคre kippen kann. Was in dieser Bildergeschichte zum Glรผck nicht passiert.
Was die Geschichte am Ende zu einer Neugier- und Entdeckergeschichte macht. Denn wenn sich einer oder eine erst mal traut, die Herausforderungen da drauรen in der Welt jenseits des Kreidestrichs anzunehmen, kann es passieren, dass das auch alle anderen ansteckt.
Der erste Schritt kommt nie aus dem Nichts. Er fรคngt mit solchen kleinen Kindern an, die die Dinge, die sie nicht verstehen, infrage stellen. Und so eine kleine unbรคndige Lust in sich verspรผren, die Gegebenheiten dann auch zu verรคndern. Mal sehen, was dann passiert. Eine Haltung, die ja vielen Kindern geradezu aberzogen wird. Obwohl es lรคngst Berge von Kinderbรผchern gibt, in denen sich die kleinen Heldinnen und Helden trauen, das Unbekannte am Zipfel zu packen. Und damit ihr eigenes Leben anzugehen โ mit Neugier und Lust auf Abenteuer.
Denn auch das steckt ja in der Geschichte: die sanfte Ermutigung zum Fragen und Infragestellen. Auch wenn viele Erwachsene gern genervt mit โDas ist eben soโ antworten, stellt sich bei vielen Dingen im Leben heraus, dass es nur so ist, weil sich die Groรen nicht mehr trauen, die Dinge anders zu denken und zu sehen. Und das Leben und die Welt damit als verรคnderbar zu begreifen. Gottchen. Wer das nur denkt, rรผttelt ja an den Grundfesten!
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.
Aber wer sich den ersten Schritt nicht traut zu gehen, erfรคhrt im Leben nie, was mรถglich ist. Und auch nicht, wie sehr im Leben alles davon abhรคngt, was man sich selber traut.
Pija Lindenbaum โDer erste Schrittโ, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2023, 18 Euro.
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