Menschen nehmen sich immer viel zu ernst. Menschen sind schrullige Wesen. Manche wissen das sogar und nehmen es mit Humor. Andere nehmen es bierernst und reagieren cholerisch – so wie das Choleriker, das der Markkleeberger Autor U. S. Levin genauso liebevoll porträtiert und zerlegt wie das Impfmuffel, das Protzer und das Schwätzer. Dabei können wir ja oft nicht anders.
Wir kommen nicht aus unserer Haut. Manche von uns sind ganz schreckliche Klugscheißer, Säufer, Raser und Prolos. In manche Rollen wird man einfach hineingeboren (wie in das Baby) oder wächst hinein, ohne dass man das Geringste dafür kann (wie in das Omi und das Opi). Was alles ja kein Aufhänger für den Markkleeberger Satiriker wären, wenn wir uns dabei nicht all die Stereotype zulegen würden, die man ganz automatisch mit diesen Rollenzuweisungen verbindet.
Weiches Herz und sonniges GemĂĽt
Das kann sogar geradezu liebevoll klingen, etwa wenn Levin über das Omi schreibt: „Das Omi ist eine drollige, teilweise drallige Kreatur. Es hat ein weiches Herz, ist von sonnigem Gemüt und Sudokufan.“ Und es übt natürlich martialischen Selbstverzicht, wenn es um die Enkel geht. Oder das Enkel? Diese Spezies beleuchtet Levin in diesem Fall nicht. Aber man merkt schon: Das Panoptikum wäre problemlos erweiterbar zu einem richtig dickbändigen Bestiarum der menschlichen Seltsamkeiten.
Denn wir benehmen uns seltsam. Gerade dann, wenn wir wie selbstverständlich in Rollen hineinwachsen, die als typisch gelten. Ob das wirklich das ist, was wir selbst tun würden, wenn wir nicht überall die Vor-Bilder für solche Rollenspiele sehen würden, ist natürlich die Frage. Sind das tatsächlich Vor-Bilder? Oder nur eben Versuche, eine Rolle zu spielen, wenn einem selbst nichts Besseres einfällt: Das Camper zum Beispiel, das Biker und das E-Biker?
Ein neues Rollenspiel für Leute, die gern sportlich sein wollen, aber sich nicht anstrengen möchten dabei. „Das E-Biker ist ein moderner Placebotreter. Es ist naturverbunden und gleitet durch die frische Luft, ohne etwas dafür tun zu müssen“, schreibt Levin. Unter anderem. Denn seine Porträts sind ausführlich, bildhaft und voller Liebe zum geschilderten Subjekt. Indem er sich auch selbst und sein Gewerbe nur zu gern auf die Schippe nimmt – als das Lyriker, das Verleger oder das Lektor.
Er kennt sein Metier und die pekuniären Probleme, die damit verbunden sind. Die auch nicht neu sind. Denn schon Spitzweg hat ja dem armen Poeten ein meisterhaftes Gemälde gewidmet. Buchhändler und Verleger meiden den absonderlichen Burschen mit seinen Versen und Reimen meist, denn bei dem zahlt man letztlich nur drauf und bleibt dann auf den unverkauften Büchern sitzen.
Alles im Griff
Was ja aber eher daran liegt, dass das Camper, das Biker und auch das Angler keine Gedichte lesen. Für die meisten Menschen sind diese sowieso eine Zumutung, weil sie Kopfschmerzen bereiten. Also das Gegenteil des Zustandes sind, den man mit noch einem Bierchen und noch einem erreicht. Womit dann natürlich auch das Säufer und das Raucher in das Bändchen finden – als Zeitgenossen, die ihr Laster natürlich immer bestens im Griff haben. Und wenn es doch mal danebengeht, waren sie halt nicht dabei.
Dass das Boss ein eigenes Kapitel bekam, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass tatsächlich allerlei herrschsüchtige Burschen es geradezu darauf anlegen, in bossige Positionen zu kommen, um dort ihre Unarten auszuleben. Man möchte ja Levins Bestiarium gern ganz als satirische Übertreibung nehmen. Aber es steckt eben auch eine Menge Wahrheit drin, Typisches und Alltägliches. Denn irgendwie drängen eben doch sehr viele Menschen sich in Rollen, denen sie nicht gewachsen sind. Oder in denen sie wie Abziehbilder von Abziehbildern wirken, auswechselbar. Als wäre die Rolle eine Art Ersatz für die eigene fehlende Persönlichkeit. Und entsprechend angestrengt und launenhaft sind dann auch die Reaktionsweisen dieser Wesen, die man ganz ebenso auch bei Laurence J. Peter in „Das Peter-Prinzip“ finden würde.
Es beschränkt sich ja nicht nur auf bürokratische Hierarchien, dass jeder darin Gelandete so lange befördert wird, bis er die Stufe seiner absoluten Unfähigkeit erreicht. Es scheint auch im ganz normalen Leben so zu sein. Denn es ist nun einmal leichter, sich zu einem Rollenspieler in einem Werbeclip zu verwandeln, mit all den Dingen, von denen einem die Werbung eingeredet hat, dass man sie haben und leben muss.
Mit dem Ergebnis, dass man es in der Welt immer öfter mit Leuten zu tun bekommt, die nicht mehr sind als das Kostüm, das sie gerade tragen. Und sei es die labberige Trainingshose mit Flipflops. Man muss ja nicht mal nach den Protzern und Rasern auf den Straßen schauen. Die lähmenden Stereotype wohnen oft gleich nebenan. So verschweißt mit ihrer Rolle, dass man am besten nicht dran rührt, sonst verwandeln sie sich in Sekundenschnelle in das Choleriker.
Alles Fassade?
Denn wer die Rolle infrage stellt, stellt das ganze Wesen des Betrachteten infrage. Es muss so reagieren, sonst wird es ja ertappt in seiner Trostlosigkeit. Weshalb das Impfmuffel mit all seinen fadenscheinigen Ausreden in diesem Büchlein gar nicht überrascht. Wobei das Protzer wohl das typischste Individuum einer von Prahlerei und Egoismus dominierten Gesellschaft ist, in der es den Protzenden nicht mal peinlich ist, wenn sie mit all ihrem Talmi fotografiert werden. Leute, denen die Welt letztlich sowieso egal ist, weil sie ihre ganze Kraft in die Aufrechterhaltung einer Fassade stecken müssen und eine Coolness, die sich als Sammlung blöder Anmachersprüche entpuppt.
So betrachtet, ist dieses neue Buch von U. S. Levin und seinem zeichnenden Partner Christian Habicht das bitterste und grimmigste Porträt, das die beiden bislang von unserer so auf Schein und Rolle dezimierten Gesellschaft gezeichnet haben. Wobei einige dieser Rollen ja tatsächlich zutiefst menschlich sind – wie eben das Omi und das Opi. Aber eben auch dort davon erzählen, wie bereitwillig die meisten von uns in jedes noch so billige Stereotyp rutschen, wenn sie glauben, es ist so weit und irgendwer erwarte das jetzt. Und man müsse sich so deppert verhalten, weil man sonst nicht erkannt wird von Leuten, die darauf abgerichtet sind, sich mit stereotypen Menschenbildern durchs Leben zu irren.
U.S. Levin, Christian Habicht „Das Camper, das E-Biker und andere schrullige Wesen“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 12 Euro.
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