Die Entdeckungen zur ostdeutschen Autorenfotografie gehen weiter. Auch wenn Uwe Steinberg nie ganz verschollen war. Doch anders als seine hochkarätigen Kolleg/-innen aus der Ostberliner Fotografenwelt hat Uwe Steinberg die deutsche Wiedervereinigung nicht mehr erlebt. Er starb schon 1983 mit nur 40 Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls in Budapest. Doch seine Fotos zeigen ihn als aufmerksamen Beobachter des Lebens in Ostberlin zwischen 1963 und 1983.
Sein Nachlass befindet sich seit 2017 im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Ein gut gewählter Ort. Denn wie die bekannten Kolleginnen und Kollegen aus der Ostberliner Szene hat er mit seiner sehr persönlichen Art, das Leben in Ostberlin festzuhalten, eben auch Geschichte dokumentiert. Alltagsgeschichte. Aber eben auch jene Geschichte, wie sie die Ostdeutschen jenseits der offiziellen Propagandabilder tatsächlich erlebt haben. Mit Betonung auf „erlebt“.
Leben und Geschichte
Denn dass man eigentlich mitten in historischen Flüssen unterwegs ist, wird einem als Mensch nur selten bewusst. Solche Momente erschrecken eher, machen besinnungslos oder besoffen – man denke nur an die Nacht des 9. November 1989. Oder sie machen beklommen, wie ja viele von denen berichten können, die den 13. August 1961 miterlebt haben oder den 17. Juni 1953.
Aber solche Ereignisse sind Ausnahmen, die den Fluss des Alltäglichen unterbrechen, zerbrechen geradezu. Manchmal auch in eine völlig neue Richtung lenken. Aber das ist kein Alltag. Alltag ist das, in dem man als Bewohner des Diesseits glaubt, alle Regeln zu kennen, alle Wege, die man gehen muss, alle Orte, alle Abfahrtszeiten.
Wo man sich auf Wartezeiten einrichtet, unbehagliche Übergänge, notwendige Grundausstattungen. Der Großteil des Alltags im Osten war genau so ein diffuses Gebilde aus Umständen und Unveränderlichkeiten. Mit Wartenden vor dem Fleischerladen weit vor der Öffnungszeit, die Uwe Steinberg genauso ins Bild geholt hat wie das Treiben in der Zentralmarkthalle am Alexanderplatz 1963, die Ende der 1960er Jahre abgerissen wurde.
Schon daher ein echtes Zeitdokument, das Steinberg da 1963 einfach aus Neugier aufgenommen hat. Eine Neugier, die er auch als Neuankömmling mitbrachte, denn 1956 war seine Familie nach dem Verbot der KPD in der BRD in die DDR übergesiedelt. Sein Vater war schon seit den 1920er Jahren Mitglied der KPD gewesen. 1959 begann der 17-jährige Uwe Steinberg dann seine Begeisterung für die Fotografie in Dessau umzusetzen, ab 1961 mit einem Praktikum bei der Bildagentur von ADN.
Arbeiten für eine Bückware
Später studierte er auch noch Journalistik und dann auch noch Fotografie in Leipzig. Bei ADN war er jahrelang als Bildreporter mit den Schwerpunkten „Berliner Wirtschaft“ und „Kultur“ unterwegs, 1970 wechselte er zur „Neuen Berliner Illustrierten“ (NBI), die sich in der Nachfolge der vom Ullstein Verlag herausgegebenen „Berliner Illustrirten Zeitung“ verstand und für die DDR durchaus außergewöhnliche Bildreportagen brachte und damit genauso zur Bückware wurde wie etwa „Wochenpost“, „Magazin“ und „Eulenspiegel“.
Aber Steinberg fotografierte nicht nur für Bilderdienst und Zeitung, sondern auch im Selbstauftrag. Denn auch in der NBI konnten nicht alle Lebensbereiche aus dem DDR-Alltag gezeigt werden. Schon gar nicht jene, in denen sichtbar wurde, wie karg das Leben für viele Menschen war, wie die Bausubstanz verfiel und wie grau das Land eigentlich war jenseits der Paradestrecken. Ein Thema, auf das Klaus Honnef in seinem Vorwort zu diesem Fotoband besonders eingeht, wohl wissend, dass das Gefühl von Grau auch mit den schwarz-weißen Aufnahmen zusammenhängt.
Aber die Städte des Ostens waren ja tatsächlich grau – gerade die Altbaubestände wie im Prenzlauer Berg unsaniert, mit tristen Hausfassaden, von denen der Putz fiel. Und dazu kam die Allgegenwart der Kohleheizungen, die gerade in den kalten Monaten auch über Berlin für Smog sorgten. Da konnten auch die roten Transparente und Plakate die grauen und rußgeschwärzten Mauerlandschaften nicht wirklich beleben. Was ja nicht ausschließt, dass die darin Wohnenden nicht trotzdem ein intensives und reiches Leben lebten.
Auch wenn das gerade in den Gesichtern der Erwachsenen kaum sichtbar ist. Diese schauen eher mit einem großen Ernst, erst recht die jungen Erwachsenen, die Steinberg um 1980 ins Bild bannt, als wäre auch das Jungsein in dem „geliebten Staat“ eine Sache, die man nur ernsthaft vollziehen konnte. Immer im Widerspruch zwischen dem – ja doch irgendwie ernsthaften – Versuch, den geltenden Normen und Erwartungen zu genügen, und dem Verlangen nach einem eigenen, authentischen Leben.
Die Melancholie eines Landes
Diese Nachdenklichkeit liegt selbst in den Gesichtern der jungen Diskothek-Besucher. Fast sucht man den Knopf neben dem Bild, mit dem man die zutiefst melancholischen Rocksongs der damaligen DDR-Bands – von Renft bis Lift – aufrufen könnte. Denn natürlich wird das irgendwann zum grundlegenden Lebensgefühl, wenn ein Land derart erstarrt und zunehmend reparaturbedürftig wird. Wovon ja auch die Bilder aus dem Kabelwerk Oberspree oder der Elektrokohle Lichtenberg erzählen. Aber natürlich erst recht die aus den Hinterhöfen des Prenzlauer Bergs, wo die Kinder spielen. Was ja nicht heißt, dass deren Kindheit traurig war – ihnen gehörten Hinterhöfe, Straßen und Plätze noch, denn es waren kaum Autos unterwegs. Die Straßen waren geflickt, die Straßenbahnen stammten aus rustikaleren Zeiten.
Und: Die Leute liefen zu Fuß. Es mussten gar nicht erst Jugendtreffen (1976) und Weltfestspiele (1973) stattfinden, damit Jugendliche sich im öffentlichen Raum treffen konnten.
Auch wenn das „Herumlungern“ etwa am Kollwitzplatz durchaus misstrauisch betrachtet wurde von den staatlichen Organen, die aber bei Steinberg nicht ins Bild kommen. Zumindest nicht in dieser Auswahl, die nur eine vorläufige sein kann. Denn wirklich erschlossen ist der Nachlass noch nicht. Und man kann gespannt sein, was da noch zum Vorschein kommt, wenn sich einmal jemand an die systematische Erfassung macht. Und diese Suche lohnt sich, denn Steinberg interessierte der Alltag, das wirkliche Leben jenseits des plakatierten. Er hielt das winterliche Treiben am Müggelsee fest, die Arbeiter bei ihrer Pause in der Kantine, das abendliche Publikum in der Gaststätte „Keglerheim“ oder bei „August Fengler“.
Bilder, die heute kaum noch vorstellbar sind, denn das öffentliche Bild ist mit seiner zunehmenden Medialisierung auch zu einem schambehafteten Bild geworden. Während die Menschen in Fotos der ostdeutschen Fotografen dem Blick des Fotografen nicht ausweichen, auch wenn sie in durchaus intimen Situationen abgelichtet werden, dominiert heute das „Recht am eigenen Bild“, das Fotografie zu einem Eierlauf gemacht hat. Das Einfangen des richtigen Augenblickes, wie es auch Klaus Honnef schildert als Glanzlicht der Dokumentarfotografie, ist kaum noch möglich. Heute dominiert das arrangierte Bild, die Zurschaustellung dessen, was man von sich zeigen möchte.
Ein vergessener Stolz
Und dieses fröhliche Zurschaustellen ist noch viel mehr Fassade als die Propagandashows in der DDR. Als hätte das Leben an Authentizität eingebüßt. Als lebten die Menschen nur noch für den schönen Schein und würden sich all dessen, was sie in ihrer Verletzlichkeit zeigen würde, schämen.
Natürlich fällt das auf. Und es ist ein Grund, warum die Dokumentarfotografie des Alltags im Osten viel länger überlebte als im Westen. Wobei etwa Bilder von einem Boxkampf im Pratergarten auch zeigen, dass dahinter sogar ein gewisser Stolz steckte, ein herausforderndes Selbstbewusstsein, das auch und gerade die Menschen zeigten, die sichtlich mit harter Arbeit ihr Geld verdienten. Sie wussten, dass der Laden ohne sie nicht lief. Egal, wie heruntergekommen es ringsherum aussah oder wie lange sie vorm Kaufhaus warten mussten, um begehrte Waren zu erstehen.
Es waren keine verschämten und verkrümmten Menschen, die da 1989 auf die Srtaße gingen, auch wenn das westdeutsche Sterndeuter bis heute gern so sehen wollen. Sondern trotzige und fordernde, die gewohnt waren, dass sie das eigene Leben selbst in den Griff bekommen mussten und dafür auch Drecksarbeiten erledigen mussten.
Aber so weit war es ja noch nicht, als Uwe Steinberg starb. Eher hatten die Herausgeber so ihre Schwierigkeiten, die oft nicht betitelten Bilder zeitlich einzuordnen. Und das ist schwierig, wenn man Bilder aus der DDR der 1960er, 1970er und 1980er Jahre vor sich liegen hat. Denn an der Abgerissenheit der Stadtstrukturen änderte sich wenig. Eher erkennt man es noch an den Kleidungsstücken, dass die Zeit eben doch weiter lief und die Zustände doch nicht so erstarrt waren, wie es sich einige Betonköpfe vielleicht wünschten. Am Ende sind es ganz menschliche Leidenschaften, die verkrustete Zustände immer wieder aufbrechen.
Wo ist das Lächeln?
Und genau das zeigen letztlich Steinbergs Bilder aus diesen Jahren – dass diese Menschen ganz und gar nicht so gleichgeschaltet waren, wie das heute gern kolportiert wird. Unmündig schon gar nicht. Und auch nicht abgestumpft. Nicht einmal die ölverschmierten Arbeiter, die Steinberg fotografiert hat, sehen so aus. Eher bewundert man die Gelassenheit, mit der sie in Umständen leben und arbeiten, die man so aus der Rückschau für schwer erträglich halten kann. Aber nicht muss. Honnef will da und dort „allenfalls ein Lächeln“ entdeckt haben. Da merkt man den Blick des westdeutschen Kunsthistorikers, der sein westdeutsches Blickschema auf den Osten anlegt und überall Lächeln erwartet, weil das Zahnpastalächeln schon seit Jahrzehnten zur westdeutschen Fotokultur gehört.
Aber wer in jedes Foto lächelt, spielt eine Rolle. Was die von Steinberg Fotografierten genauso wenig nötig hatten wie die Menschen in den Fotos von Roger Melis, Gerd Danigel oder Bernd Heyden. Sie mussten dem Fotografen nicht vorspielen, dass sie superglücklich und supererfolgreich waren. Vielleicht steckt genau hier der allergrößte Irrtum des Westens über den Osten: Dass die Menschen dort unglücklicher waren, weil sie ständig unter einer drückenden Diktatur litten und für menschliche Größe, Eigensinn und Selbstbewusstsein kein Platz war.
Aber diese Eigenschaften stecken genau in diesen oft ernsten, oft einfach in sich ruhenden Gesichtern. Wobei man viel mehr Lächeln finden wird, als Honnef gefunden hat. Oft ein ganz anderes Lächeln – nicht aufgesetzt, sondern stiller und inniger. Persönlicher auf jeden Fall – was dann wieder vom Vertrauensmoment zwischen Fotograf und Fotografierten erzählt. Auch so etwas, was es heute kaum noch gibt, wo das Auftauchen einer Kamera sofort das Misstrauen stört, weil Bilder etwas Missbrauchbares geworden sind.
So gesehen wieder ein zutiefst authentischer Blick in ein stilles Land. Das auch deshalb als still empfunden wird, weil es die Menschen nicht ständig nach Aufmerksamkeit und Selbstdarstellung gieren ließ. So gesehen sogar ein – scheinbar – bescheidenes Land. Das darf man den Ostdeutschen durchaus vorwerfen, wenn man es überhaupt bemerkt – diese Bescheidenheit im ganz Menschlichen, die ihnen beim Rennen um den Großen Preis immer schlechte Karten beschert. Wer wird denn Rücksicht nehmen auf die Menschen neben sich?
Naja: Die Fotos von Uwe Steinberg geben darauf ein paar Antworten.
Uwe Steinberg „Berlin“, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2023, 25 Euro.
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