„Jeder Mensch hat Vorurteile.“ So beginnt Martin Urban sein Buch, das sich mit einem Phänomen beschäftigt, das so ganz neu nicht ist. Es begleitet die ganze Menschheitsgeschichte. Doch in den letzten Jahren ist es regelrecht aufgekocht, brüllen Leute auf der Straße „Lügenpresse“, brilliert ein amerikanischer Ex-Präsident mit Lügen, die dann als „alternative Wahrheiten“ verkauft wurden. Sind die Leute einfach zu blöd, um Wahrheit von Lüge zu unterscheiden?
Die Antwort ist nicht ganz einfach. Denn sie gehört nicht in die Welt der einfachen Schablonen, in denen die Dinge einfach schwarz oder weiß sind, gut oder böse, Freund oder Feind. Das sind Kategorien, mit denen es sich unser Gehirn einfacher macht bei seiner Arbeit. Denn unser Gehirn ist ein echter Energiefresser. Und es hat im Lauf der Evolution zwangsläufig Strategien entwickeln müssen, mit der Informationsflut, die jeden Moment auf uns hereinströmt, möglichst kanalisierend umzugehen.
Informationsflut hier einmal bewusst ohne Anführungszeichen, denn damit hat unser Gehirn schon immer zu tu gehabt. Auch damals, als unsere Vorfahren noch in der Steppe lebten oder im Wald. Da würde es schlicht keinen Sinn machen, jederzeit alle über Augen, Nase, Ohren hereinkommenden Signale wahrzunehmen. Unser Gehirn hat gelernt, sich zu fokussieren und bestimmte Signale herauszufiltern. Denn in der Wildnis ist wichtig, dass man die richtigen verdächtigen Signale wahrnimmt – und sofort reagiert.
Wie der Torhüter beim Elfmeter
Und sofort reagieren heißt: in Sekundenbruchteilen. Wie der Torhüter beim Elfmeter, den Martin Urban natürlich auch anführt. Als Beispiel dafür, wie ein Mensch, der darauf trainiert ist, schon reagiert, bevor der Ball tatsächlich mit 120 km/h aufs Tor zufliegt. Da laufen im Gehirn längst schon Prozesse ab, die das eintreffende Ereignis vorweg simulieren und den Körper reagieren lassen, bevor der Torhüter überhaupt weiß, in welche Ecke der Ball tatsächlich geht. Ein Mechanismus, der nicht nur gestressten Torhütern vertraut ist. Das passiert uns Menschen überall und jederzeit. Manche nennen es Intuition, andere Bauchgefühl. Weil scheinbar unser rational arbeitendes Gehirn nicht beteiligt ist an diesen Reaktionen, über die wir hinterher oft staunen.
Aber beteiligt sind wesentliche Bereiche unseres Gehirns trotzdem. Nur wird uns das meist erst später bewusst. Manchmal auch gar nicht. Denn wir haben uns in der Evolutionsgeschichte eine Reihe solcher vorgreifender Prozesse angeeignet, in denen sich unser Gehirn schon ein Urteil bildet, bevor wir eine Situation, ein Gegenüber, ein Ereignis überhaupt bewusst erfasst haben. Denn das war immer ein entscheidender Überlebensfaktor. Nicht nur bei Tigern im Busch, auch bei Begegnungen mit fremden Menschen, Naturkatastrophen, Konflikten und Überraschungen aller Art. Die „Baupläne für Vorurteile“ stecken in unserem Kopf. Und sie haben in der langen Menschheitsgeschichte geholfen zu überleben.
Nur seit wir alle dicht aufeinander hocken, in Städten und Zivilisationen, werden diese Vor-Urteile zum Problem. Sie machen uns auch missbrauchbar und manipulierbar. Und keiner hat das so deutlich erkannt wie Immanuel Kant, dessen Definition der Aufklärung Urban natürlich aufgreift.
Gern wird ja nur der erste Teil der wesentlichen Definition zitiert: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
Aber es geht ja noch weiter. Und da wird Kant richtig bissig: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu den Vormündern aufzuwerfen.“
Brauchen wir alle Vormünder?
Willkommen in der Gegenwart, könnte man sagen. Denn genau das passiert heute immer noch und wieder. Was der studierte Physiker, Chemiker und Mathematiker Martin Urban mit einer gewissen Kant’schen Verstörung beobachtet. Denn nie waren die Möglichkeiten, sich seines eigenen Kopfes tatsächlich zum Denken zu bedienen, größer und umfassender als heute. Und trotzdem rennen Millionen Menschen Populisten und Verschwörungsfanatikern nach, himmeln Autokraten und Influencer an und glauben dabei tatsächlich, sie wären auf Seiten von Wahrheit und der Weisheit.
Natürlich halfen Vor-Urteile auch in den frühen Jahrtausenden der Zivilisation, in denen sich die Lebensverhältnisse der Menschen nur kaum spürbar änderten. Da war es fürs Leben hilfreich, wenn die Kinder von den Eltern die richtigen Vor-Urteile für ihr Leben lernten. Das machte die Orientierung in der in meistens stabilen (Dorf-)Gemeinschaft einfacher, den Umgang der Generationen und das Reagieren auf Krankheiten und Unglücksfälle. Auch das steckt uns noch heute in den Köpfen. Viele dieser uralten Regeln vermitteln Eltern noch heute ihren Kindern – oft unbewusst. Und natürlich mit dem Wunsch, dass ihnen das alles hilft, relativ gut durchs Leben zu kommen.
Doch dass auch das nie reine heile Welt war, weiß Urban auch aus intensiver Beschäftigung mit den großen monotheistischen Religionen nur zu gut. Denn die resultieren aus einer weiteren Fähigkeit unseres Gehirns, mit dem es sich die einkommenden Informationen handlich und gebrauchsfähig macht. Es ist die Fähigkeit, Geschichten zu erfinden und sich die tatsächlich komplexen und oft chaotischen Zustände in der Welt zu erklären. Indem man anfangs natürlich Gottheiten dahinter vermutete – das ist die Projektion menschlichen Handelns auf die Natur. Die Dinge wurden scheinbar erklärlich, indem man hinter all den Donnern, Blitzen, Stürmen, Dürren, Überschwemmungen, Erdbeben usw. Gottheiten vermutete. Da wurde das Wüten der Natur menschlich und verständlich.
Und das hörte auch nicht auf, als Menschen Städte und Königreiche gründeten. Im Gegenteil. Ruckzuck erfanden sie sich Staatsreligionen, die das schwierige und oft brutale Leben in diesen neuen Staatsgebilden in Regeln packten, die man durch eifrige Wiederholung, Beten und Opfergaben bestärken konnte, musste und durfte. Und das steckt noch heute in den großen Religionen, die ganz unübersehbar immer mehr Probleme haben, die Veränderungen unserer Zeit noch zu verstehen.
Und entsprechend verbiestert, vermauert und verdruckst reagieren, während die Gläubigen scharenweise aus den Kirchen austreten, weil sie mit den starren Ritualen der Kirchen entweder nichts mehr anfangen können oder einfach nur noch genervt sind von den Belehrungen alter Männer in Talaren, die ihnen die Welt mit den Weisheiten von vor 2.000 Jahren versuchen zu erklären.
Von Wahrheiten und Parallelwelten
Martin Urban schlägt einen ganz weiten Bogen, auch um sichtbar zu machen, wie unsere einst so nützlichen und geliebten Vor-Urteile heute immer noch funktionieren, aber ganz offensichtlich auch immer mehr Schaden anrichten und die Menschen entzweien. Denn sie sind ja aufs engste gepaart mit der Vorstellung, mit ihnen auch im Besitz der Wahrheit zu sein. Der einzig gültigen Wahrheit. So treten ihre Propheten und Propagandisten ja auch auf.
Befeuert wird das durch die sogenannten sozialen Medien, die Menschen mit den irrsten Vorstellungen von dem, was richtig und wahr ist, zusammenbringt. Aus zuvor einzeln und lose miteinander in Kontakt stehenden Mystikern und Fundamentalisten werden so auf einmal bestens vernetzte Bewegungen, die ihre Vorstellung von der einzig richtigen Wahrheit dann auch gleich noch mit organisierten Demos auf die Straße tragen. Oder zu Politik machen und den politischen Diskurs immer weiter radikalisieren.
Denn sie haben gegenüber den Leuten, die lieber ihren Verstand benutzen und zweifeln und erst mal recherchieren, einen Vorteil: Sie brauchen nicht lange nachzudenken, denn sie wissen ja schon alles. Und in ihrer digitalen Blase bekommen sie ja von allen Seiten Bestärkung. Wo alle dasselbe denken bzw. glauben, ist man stark. Man zweifelt nicht mehr und hat dafür ganz klare Feinde – nämlich alle diejenigen, die nicht an dasselbe glauben. Oder gar Zweifel sehen, vorsichtig sind mit ihren Formulierungen, unsicher, weil es natürlich ein absolutes Wissen über die Welt nicht gibt. Und auch nicht geben kann.
Was vielen Menschen auch nach zehn, zwölf, dreizehn Jahren auf der Schulbank nicht wirklich klar ist. Sie haben zwar allen möglichen Lehrstoff gepaukt, aber nie etwas darüber erfahren, wie unser Wissen über die Welt tatsächlich zusammenkommt, wie am Anfang aller Wissenschaft immer der Zweifel stand, das beharrliche Fragen eines Sokrates, der die alten, durch Religion verfestigten Weisheiten hinterfragte: Ist die Welt wirklich so?
Das fragen Wissenschaftler/-innen bis heute. Und haben jede Menge Instrumente entwickelt, den durchaus komplexen Zusammenhängen unserer Welt immer dichter auf die Pelle zu rücken. Wohl wissend, dass es für den Menschen, der in diesem Kosmos lebt, unmöglich ist, wirklich die letzte und umfassende Wahrheit zu erkennen.
Lüge und Manipulation
Da staunte selbst Urban, dass das die Mehrheit der Deutschen in der Corona-Zeit tatsächlich auch so sah und den Stellenwert der Wissenschaft deutlich höher einschätzte als davor. Was aber eine kleine, handfeste Gruppe freilich nicht davon abhielt, alles in Abrede zu stellen und den Erwägungen der Wissenschaftler ihre absoluten Wahrheiten entgegenzuhalten und Märchen über Impfzwang und internationale Verschwörungen zu verbreiten. Befeuert natürlich auch von narzisstischen Vorrednern wie Donald Trump, die auf offener Bühne zelebrierten, dass man aus voller Überzeugung lügen konnte und an die eigenen Lügen auch noch felsenfest glauben.
Was dann einige sehr schöne, bissige Kapitel zur Lüge in Urbans Buch ergibt. Und natürlich auch zur Rolle der bewussten Lüge in unserer Gesellschaft, die so gern von sich meint, sie sei vernünftig und aufgeklärt. Ist sie aber in vielen Teilen nicht. Denn natürlich haben auch mächtige Menschen, Kirchen, Parteien und Unternehmen für sich entdeckt, wie gut man mit emotional aufgeladenen Lügen einen großen Teil der Gesellschaft manipulieren kann. Eben weil dieser Teil genau das tut, was Kant schon für so unerklärlich hielt: „dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben“.
„Das Opfern des Verstandes (sacrificium intellectus) hat bereits eine altchristliche Tradition“, schreibt Urban. „Man konnte (und kann bis heute, wo man es besser wissen könnte als in der Antike) so an Wunder glauben, ohne weiter nachdenken zu müssen. Die menschliche Neigung, den Verstand auszuschalten, nutzt, im Gegensatz zu historisch-kritisch denkenden Theologen, nicht nur seit 2.000 Jahren manchen Pfarrern und evangelikalen Fundamentalisten, sondern bis heue Politikern wie Donald Trump, Industrielobbyisten und Rechtspopulisten.“
Und immer wieder stecken auch riesige Konzerne dahinter, die eine Menge Geld in Desinformaitonskampagnen stecken – angefangen von der Tabakindustrie bis zu den fossilen Energiekonzernen, die Institute und Kampagnen finanzieren, welche den Klimawandel leugnen.
In der besten aller Welten …
Und natürlich auch Parteien, die alles tun, die Profite der Konzernfossilien zu sichern und jede vernünftige Veränderung der Gesellschaft zu verhindern. Und das können sie natürlich, weil nicht nur Mystiker und Verschwörungsgläubige in ihren Parallelwelten leben, wo sie für vernünftige Argumente gar nicht mehr erreichbar sind.
Auch die sogenannte Mittelklasse hat ihre Aberglauben und Vor-Urteile und ist sich ihrer Parallelwelt oft gar nicht bewusst. Schon deshalb nicht, weil ihre Vorstellung von Richtig und Wahrheit ebenso emotional aufgeladen ist und die Reflexe genauso automatisch ablaufen wie beim Torhüter während des Elfmeters. Denn natürlich wollen auch ihre Gehirne Energie sparen. Und das kann man am besten, indem man die Störgeräusche der Vernunft, der Evolution und der allgegenwärtigen Veränderungen ausblendet und so tut, als wäre der jetzige Zustand der Welt der beste alle möglichen. Nur ja nicht dran rütteln.
Sonst …
Sonst fangen nämlich die Kopfschmerzen an, beginnt ein Gehirn auf Volllast zu drehen, das eigentlich nur in aller Ruhe im alten, energiesparenden Trott bleiben möchte.
Und genau da werden wir alle missbrauchbar. Denn die, die wissen, wie Werbung, Manipulation und Propaganda funktionieren, holen sich so ihre Mehrheiten.
„Die Baupläne unseres Gehirns sind die Voraussetzungen sowohl für dessen großartige Leistungen der Welt-Erkenntnis“, schreibt Urban im Fazit des letzten Kapitels. „Sie können aber auch für Betrug genutzt werden. Auf Vorurteile zu setzen, ist zu einem gigantischen Geschäftszweig geworden.“
Immer wieder wird Urbans Buch zu einem Appell, wieder die Lust am Selbstdenken, an der bewussten Nutzung des eigenen Verstandes zu entdecken, sich weiterzubilden, wissenschaftliche Skepsis zuzulassen und die alten Sprüche – „Das haben wir schon immer so gemacht!“ – zu hinterfragen. Das kann nämlich auch Spaß machen und ist ein Lustgewinn. Was deutsche Schulen zwar nur ungern vermitteln. Aber es ist so.
Und sein Buch ist natürlich auch eine wichtige Mahnung in Zeiten der Leichtgläubigkeit.: „Wir müssen uns also damit abfinden, dass wir im Kopf so ausgestattet sind, wie wir es sind. Und es ist enorm wichtig, das zu verstehen. Entscheidend ist dann aber, was wir daraus machen. Wir müssen nicht unmündig bleiben, das wusste schon Immanuel Kant.“
Martin Urban „Wenn das Nachdenken ausfällt. Baupläne für Vorurteile“, Büchner Verlag, Marburg 2022, 25 Euro.
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