Jena. Universitätsstadt mit ca. 18.000 eingeschriebenen Studentinnen und Studenten, Regionalligist im Herrenfußball, Zweite Liga bei den kickenden Frauen … und vieles mehr, vor allem beschauliche und pulsierende thüringische Kleingroßstadt im 21. Jahrhundert. Interessant, im besten Sinne.
Dass sie die historisch gewichtigen Mitkonkurrenten Weimar, Erfurt und Gotha in meiner Wahrnehmung aus dem Felde schlägt, hängt mit der geradezu epochenbestimmenden Rolle zum Jahrhundertwechsel um 1800 im damals vorhandenen, sogenannten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zusammen. Einem bunt zusammengewürfelten Staatenhaufen, von dem der französische Philosoph Voltaire meinte, dass es weder „heilig“, noch „römisch“ und erst recht kein „Reich“ war. Jena kommt in dem Zusammenhang und in der „Sattelzeit der Moderne“, die ungefähr Goethes Lebenszeitraum (1749-1832) umfasst, eine außergewöhnliche Stellung zu.
Dort versammelte sich in einem relativ kurzen Zeitraum das „Who’s Who“ der deutschen künstlerisch-philosophischen Denkerszene. Jena war ein freier, universitärer Kleinstadtmagnet (4.500 Einwohner), relativ unbehelligt von Zensur und fürstlicher Willkür, aus dem fernen Königsberg beobachtet vom greisen Nestor der Aufklärungsphilosophie – Immanuel Kant.
„Fabelhafte Rebellen“ nennt Andrea Wulf, deutsch-britische Bestsellerautorin („Die Erfindung der Natur – Alexander von Humboldt“) die Anhänger/-innen des großen Jenaer Denkerkreises Ende des 18. Jahrhunderts und – ihr neuestes, gut 500 Seiten starkes Buch. In 20 Kapiteln werden die „Revolutionäre des Ichs“ als ein großes Beziehungsgeflecht dargestellt – Goethe, Schiller, Novalis, die Gebrüder Schlegel und die Humboldts, Schelling, Fichte und der junge Hegel – allesamt beeindruckt von einer Frau, die mit gleich zweien von ihnen verheiratet war.
Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling. „Ich bin gewiss umso glücklicher, je freyer ich mich weiß.“ Dieser Satz von ihr kann als programmatisches Motto einer zu Ende gehenden Epoche des Feudalabsolutismus ebenso gelesen werden wie auch als ein Leitmotiv beginnender Frauenemanzipation im durchbrechenden, bürgerlichen Zeitalter.
Diese „Ich-Rebellen“ – allesamt abgestoßen von Fremdbestimmung durch Fürstenherrschaft und Standesschranken – waren sich aber auch der Gefahren der politischen Vernunftinstrumentalisierung durch neue Herrschaftsformen bewusst. Goethe wurde als „Vater der Jenaer Frühromantik“ von den jüngeren „Rebellen“ verehrt, obwohl er als „Neptunist“ bereits früh äußerst skeptisch den eruptiv-vulkanischen Ausbrüchen in der Französischen Revolution gegenüberstand. Schiller folgte alsbald, beide trafen sich im Juli 1794, dem Monat des Jakobinersturzes in Frankreich, und begründeten ihre enge, gut 10 Jahre währende Arbeitsfreundschaft.
Das „Glückliche Ereignis“ (Goethe später in „Dichtung und Wahrheit“) bildet das erste Kapitel des Wulf-Werkes, sowie gewissermaßen den Auftakt der Jenaer Geistesrevolte. Beide gelangten, aus unterschiedlichen Methoden-Richtungen kommend spät, aber rechtzeitig genug auf den gemeinsamen Weg eines klassisch-humanistischen Universalprogramms.
Während die Kämpfe in und um Frankreich nach den Revolutionsereignissen sich zu einem großen Krieg der Koalitionen entwickelten, Freiheits- und Gleichheitsrechte politischen Staatsinteressen geopfert wurden, begann sich im letzten Jahrfünft des 18. Jahrhunderts die romantisch-emanzipative Jenaer Denkergemeinde stärker zu polarisieren. Die einen feierten wie Caroline Böhmer-Schlegel den Vormarsch der französischen Truppen als „Sieg der revolutionären Ideen“, bemerkten nicht oder sehr spät die Diskreditierung der Ziele durch militärische Gewalt, die ältere Generation der Goethes und Schillers wurde, wenn sie es nicht schon immer war, konsequent antirevolutionär im Denken.
Schillers „Wallenstein“ (1798) und später die noch größere „Faust-Tragödie“ (1808) von Goethe warnten nachdrücklich vor den Gefahren eines egomanen, ja exzentrisch gelebten Ich-Bewusstseins. Vom Beherrscher der Natur zu dessen Zerstörer – verstünde man es doch auch heute als visionäres Zeichen! – war und ist es eben nur ein kleiner Schritt.
Neben den spannenden und erkenntnisreichen Kapiteln in Wulfs „Rebellen“ sind wohl Prolog und vor allem der Epilog ein wiederholtes Lesen wert. Letzterer beginnt mit der „Nach Jena“-Zeit; von Napoleon besiegt, verlor die Stadt nach 1806 zunehmend an Bedeutung und Ausstrahlungskraft. Schiller war gestorben, Goethe ging es ohne den kongenialen Partner lange Zeit nicht besser. Der Hauptgrund für den Zerfall des „Rebellenkreises“ war neben der persönlichen Umorientierung ihrer Mitglieder aber zweifellos die französische Fremdherrschaft, welche nun eher nationale Töne in den deutschen Ländern forcierte, Politik und Literatur stärker politisierte.
Die Selbstbestimmung des Ichs hatte zuallererst der Staatsräson zu dienen, Gedankenaustausch und Geistesentwicklung der gegenseitig bereichernden Freundschaften waren im Pulverdampf untergegangen, vielmehr erfragte man gegenseitig und voneinander, ob man überhaupt noch lebte.
Dennoch waren die gut 10 Jahre für die „Fabelhaften Rebellen“ und für unsere Ideen- und Geistesgeschichte ebenfalls ein „glückliches Ereignis“. Wie von Caroline Schlegel-Schelling abschließend betrauert … „O wie sind die einst zu Jena in einem kleinen Kreis Versammelten nun über alle Welt verstreut … mein Kummer ist nur, dass sie alle miteinander nichts mehr dichten – wenigstens hören wir von den Gesängen nichts.“ (An Luise Gotter, 4. Januar 1807)
Andrea Wulf „Fabelhafte Rebellen – die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“, C. Bertelsmann, München 2022, 30 Euro.
„Überm Schreibtisch links – Das Ich – ganz romantisch“ erschien erstmals am 24. Februar 2023 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 110 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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