Der eine war Verlagslektor in Halle und lebt heute in Leipzig. Der andere studierte in Leipzig bei Werner Tรผbke, Hans Mayer-Foreyt und Wolfgang Mattheuer und lebt in Halle. Der eine wurde freier Schriftsteller, der andere einer der meist diskutierten Maler des Ostens. In diesem Buch begegnen sie sich, erzรคhlt der Schriftsteller, was er sieht und was ihm einfรคllt an Geschichten zu den Bildern. Jeder Text eine Miniatur und doch keine Beschreibung. Eine surreale Annรคherung.

Denn darin begegnen sich der Autor Manfred Jendryschik und der Maler Uwe Pfeifer tatsรคchlich โ€“ in diesem erwartungsvollen, fรผr jede รœberraschung offenen Blick fรผr die Welt, in der sie leben. Und deren unwirkliche Schatten und Abgrรผnde sie auch dann noch wahrnehmen, wenn Planer nur das sauber am ReiรŸbrett entworfene Design hinbauen, damit Menschen drin leben und funktionieren.

Denn ums Funktionieren ging es immer. Auch und gerade im vom industriellen Wohnungsbau gezeichneten letzten Kapitel DDR, in dem รผberall im Land die fantastischen Stรคdte aus dem Schlamm der Felder gestampft wurden: Grรผnau, Marzahn, Halle-Neustadt. Jene Trabantenstรคdte, die die absolute Geometrie zum MaรŸ aller Dinge machten. Rechte Winkel, Rechtecke, Planquadrate, Funktionseinheiten. Eine Landschaft, die schon in den frรผhen Bildern von Uwe Pfeifer auftaucht, die er nach seinem Studium an der HGB in Leipzig 1968 bis 1973 malte.

Traumloser Alltag

1973 darf man durchaus als markantes Jahr nehmen, als Jahr des Bruches, in dem die einst fantastischen Trรคume einer neuen Gesellschaft mit neuen Menschen und neuen Stรคdten auf dem harten Betonboden der Realitรคt aufprallten. 1973 starb Brigitte Reimann und ihr Roman โ€žFranziska Linkerhandโ€œ, der in der sozialistischen Musterstadt Hoyerswerda sein Vorbild hatte, blieb Fragment. So erschien er dann auch 1974 โ€“ und wurde zu einem Bestseller. Nicht grundlos hatte sich Brigitte Reimann 20 Jahre lang mit dem Stoff herumgeschlagen. Ein Stoff, der eigentlich der Webstoff dieses Landes war, das sich auf alle Fahnen geschrieben hatte, seinen Bรผrgern eine strahlende, menschenwรผrdige Zukunft zu erschaffen.

Pfeifers frรผhe Bilder wirken wie Illustrationen zu diesem Traum. Und kรถnnten auch unter einem anderen Reimann-Titel gesammelt werden: โ€žAnkunft im Alltagโ€œ.

Wobei Pfeifer mittendrin wohnte, in diesem als Neustadt hingeklotzten Alltag. Und mit dem Blick des in der Leipziger Schule gereiften Malers in diese scheinbar gรคnzlich auf Effizienz und Nutzbarkeit gedachten Stadtlandschaften genau das entdeckte, was das menschliche Leben letztlich doch verwirrend, traumhaft, verstรถrend machte. Und macht. Diese Plattenbau-Siedlungen stehen ja noch, da und dort um ein paar Wohntรผrme gekappt. Aber ansonsten noch immer in ihrer kalten Prรคzision, ihren im FlieรŸbandverfahren gegossenen Platten, die man zwar bunt anmalen kann, die aber ihre sture Geometrie nie verlieren.

Landschaften, die fast ein Jahrhundert lang die Architekten weltweit begeisterten, die sie als pragmatisch und รคsthetisch modern beschreiben. Und die doch genau das vermissen lassen, was Menschen eigentlich dringend brauchen: Geborgenheit. Es waren nicht zufรคllig diese modernen Stรคdte des gescheiterten Sozialismus, die 1991 (Hoyerswerda) und 1992 (Rostock-Lichtenhagen) zum Schauplatz fremdenfeindlicher Ausschreitungen wurden. Menschen in Wohnlandschaften, durch die der Wind pfeift.

Und in denen jeder am Ende einsam in seiner Wohnzelle lebt. Vielleicht โ€“ wie in so manchem Pfeifer-Bild โ€“ versonnen am Fenster steht und hinausschaut, wenn der Abendhimmel รผber die Wohnblรถcke streicht und das Licht einen โ€žPoetischen Momentโ€œ ergibt. Wie ein Blick in eine andere Welt und eine andere Zeit.

Trรคume nicht vorgesehen

Kein Wunder, dass dieser Pfeifer durchaus auch als verstรถrend empfunden wurde, ein enfant terrible in der Kunstszene der DDR, eigentlich sogar aus der berรผhmten Leipziger Schule herausgefallen, obwohl er in allem, was er tat, bis heute dazu gehรถrt. Nicht nur, was die Technik der Tafelmalerei betrifft, sondern auch mit diesem Hang zum Surrealen, den man bei Tรผbke und Mattheuer genauso findet wie bei den jรผngeren Nachfolgern wie Neo Rauch.

Es ist dieser intensive Blick auf das verstรถrend Menschliche und die Traumhaftigkeit des Lebens. Auch da, wo die Architekten eigentlich keine Trรคume vorgesehen hatten. In Halle-Neustadt noch viel stรคrker zu sehen als etwa in Leipzig-Grรผnau. Denn es sind nicht nur diese verkapselt in sich ruhenden Neubaublocks, die die Landschaft quadrieren. Es sind auch diese riesigen Parkplรคtze in baumlosen Innenrรคumen, endlose Brรผcken, Tunnel und Gitter.

Und letztere wurden in Pfeifers Bildern zum Motiv bis heute. Menschen, die auf Brรผcken und Gelรคndern turnen, aus der Reihe tanzen und aus der Rolle fallen. Eigensinn entwickeln, wo doch eigentlich nur das uniforme Strรถmen zur Arbeit vorgesehen war, die Vertaktung des Werktags, in dem fรผr Clowns, Artisten und Trรคumer eigentlich kein Platz vorgesehen war.

Oder jenen archaischen Karneval der Kinder, den die Hausmeister und Ordnungshรผter nur allzu bald wieder abgestellt sehen wollten. Wollen. Bis heute. Denn diese Landschaften prรคgen. Bis heute. Wer den Bruch sucht, findet ihn in den in diesem Buch abgedruckten Bildern nicht. Es sei denn, man achtet auf Himmel und Schlote. Denn was noch in der Frรผhzeit von Pfeifers Malerei als Lobpreis auf die sozialistische Produktion gelesen werden konnte โ€“ in Pfeifers Bildern aber mit leicht ironischem Blick immer gebrochen erscheint โ€“ ist ja tatsรคchlich verschwunden.

Die Smogwolken schon am Morgen, die seltsam verfรคrbten Himmel, die geradezu beรคngstigend tief รผber der Szenerie hรคngen, in der Pfeifer seine Figuren in Tunnel und auf Treppen laufen lรคsst. Immerzu getrieben vom Ruf der Arbeit. Oder vom Feierabend in der kleinen Wohnzelle, aus der der Blick heraus auf Rechtecke fรคllt.

An durchgeplanten Orten

Die Sehnsucht nach einem Ausbruch war allgegenwรคrtig. Bei Pfeifer durch den Pan symbolisiert, der neben dem typischen Betonabfalleimer aus sozialistischer Produktion auf seiner Flรถte spielt.

Und Jendryschik kennt ja all diese Lebenswelten selbst, weiรŸ, wie man sich dort fรผhlt. Und wie รผberraschend es ist, wenn die so gesichtslos zu ihrer Arbeit Eilenden auf einmal aus der Rolle fallen. Ungewollt. Und mit der ganzen Sehnsucht nach etwas Anderem, das sie mit Erwartung und Vorahnung erfรผllt.

Vielleicht ist das der Bruch. Genau hier. Denn die Halleschen Tunnel, Treppen und FuรŸgรคngerbrรผcken sind auch in den Bildern nach 2000 noch da. Genau dieselben. Gebaut fรผr eine Ewigkeit, die so nicht kam. Aber immer รถfter malt Pfeifer die Versuche der Balance, des Ausbruchs, des Ausscherens. Was in den Bildern der 1970er Jahre noch wie ein beklemmendes Mitlaufen und im Pulk Unterwegssein aussieht und in den 1980ern zunehmend zu Bildern der Verwandlung wird, der Kostรผmierung und des Ausbrechens aus der Gleichfรถrmigkeit, wird jetzt fast zu einem Reigen des Lebens, das sich seinen Platz sucht in diesen durchgeplanten Orten.

Raus aus dem Vorgerasterten und polizeilich Markierten. So ganz zufรคllig kommt Jendryschik ja beim Bild โ€žHandstandโ€œ, mit dem sich auch die Gedichtauswahl โ€žAntworten auf eine Handstandโ€œ beschรคftigt, auf die auf den ersten Blick seltsame รœberschrift โ€žNach einem Polizeiprotokollโ€œ.

Ein โ€žProtokollโ€œ, das freilich mit den Worten schlieรŸt: โ€ždas Leichte, das schwer zu ertragen istโ€œ. Jendryschiks Texte beziehen sich zwar auf die Bilder. Aber es sind keine Interpretationen. Eher Seitenstรผcke, poetische und ironische Erweiterungen. Hintergedanken, auf die einer kommt, der diese Bilder-Welt aus eigener Erfahrung kennt. Und auch, was Menschen darin denken, fรผhlen, hoffen, wรผnschen. Und das ist immer mehr als das, was dann als plakative Losung in der groรŸen, grauen Politik aufscheint. In der es eben meist gar nicht um diese so leicht zerbrechlichen Trรคume der Menschen geht. Um Adam und Eva, die so gern das Gegenteil dessen tun, was Big Boss eigentlich verkรผndet hat.

Transit-Rรคume

Jendryschik macht mit Worten lesbar, was Pfeifer in seinen Bildern eben auch beschรคftigt. Beilรคufig. Weil er ja sonst Gedichte schreiben wรผrde, statt groรŸe Tafelbilder zu malen, die das Verstรถrtsein der Menschen in den doch eigentlich fรผr sie gebauten Landschaften sichtbar machen. Ihre Balance-Versuche auf den allgegenwรคrtigen Brรผckengelรคndern, ihre seltsamen Begegnungen mit dem Archaischen, das im Plan genauso steckt wie im Tod, den die junge Frau aus seiner Schmollecke zieht, oder dem Dreizehnender an der Haltestelle.

Spรคtestens bei diesen Bildern der Wartenden an und in den Haltestellen wird sichtbar, dass das eigentlich alles Orte des Transits sind, die Pfeifer als Kulisse wรคhlt. Oft gedrรคngt voller Wartender, hรคufiger aber fast menschenleer. Seltsame Aufenthalte im Dazwischen, selbst bei dem Mann im Anzug, der sich auf Ahrenshoop mit Maschendraht 40 Quadratmeter โ€žFreiheitโ€œ abgesperrt hat. Als mรผsste man sich in einem Land, das eh schon von einer Mauer abgeschlossen ist, noch abgeschlossenere Refugien schaffen, in denen man dann seine โ€žganz groรŸe Freiheitโ€œ zelebriert.

Gerade weil der Zeitenbruch in Pfeifers Bildern nicht wirklich sichtbar wird, wird umso beklemmender deutlich, dass ja diese Menschen mit ihren Vorstellungen einer polizeilich geordneten Freiheit nicht verschwunden sind. Sie sind alle noch da. Nur die Losungen sind abgetaucht. Und die Schulabgรคnger รผben auf den Brรผcken รผber Halle das Fliegen gen Westen. Weil das so sein muss. Weil man das von ihrem Jahrgang so erwartet.

Man wundert sich gar nicht, dass dann neue, andere Mauerbilder auftauchen, die von scheinbar neuen Durchlรคssen und Durchblicken erzรคhlen, auch wenn sie der Betrachter nicht so entziffern kann. Eher an Fraktionszwang denkt (โ€žParadiespforteโ€œ), das etablierte Misstrauen in Visionen und Fiktionen, โ€žunwichtige Standorteโ€œ (โ€žSchattenspiel, farbigโ€œ) oder โ€ždas Identische des Vaterlandsโ€œ (โ€žDie Mauerโ€œ).

Das MaรŸ des Menschlichen

Da haben sich zwei gefunden, die sich im skeptischen Blick auf die Zeiten und ihre deklarierten Umbrรผche nur zu รคhnlich sind. Sie halten aufmerksamst Ausschau nach dem menschlichen MaรŸ und den Traummรถglichkeiten der Welt. Und sehen doch nur Albtrรคume. โ€žAlptraumโ€œ, schreibt Jendryschik รผber seinen Text zu โ€žTagtraumโ€œ, wo es in Bild und Text um die Kรคuflichkeit menschlichen Tuns geht. Den Preis der Ware Mensch โ€“ wenn der sich schon mal anbietet. Denn wenn er nichts besitzt, hat er nur noch sich selbst zu verkaufen. รœber โ€žRechtsfragen und Eigentumsverhรคltnisse und den Eintrag ins Grundbuchโ€œ befinden sowieso hirschkรถpfige Beamte, die denen, die den Besitz fรผr sich verbuchen, bis auf den letzten Anzugknopf schon รคhneln.

Denn was bleibt von all den Landschaften, die einmal als volkseigen angepriesen wurden, wenn sie denen, die drin leben mรผssen, nicht (mehr) gehรถren? Wenn andere, gesichtslose Planer wieder bestimmen, was Zukunft sein soll und jetzt?

Da taucht dann ein durchaus gelungenes, skeptisches Portrรคt von Halles Vorzeige-Politiker Hans-Dietrich Genscher wie zufรคllig auf โ€“ der Mann in gelber Weste und mit zwei verschiedenen Augen, eins das des Vorsitzenden und Befehlsgebers, das andere verschattet und menschlich.

So wird auch noch das Politische auf seinen effizienten Punkt gebracht. Es ist der alte, neue, immer gleiche Pragmatismus, der alle nach Wert und Nรผtzlichkeit beurteilt. Und das Licht ausmacht, wenn es keine Rendite mehr abzuschรถpfen gibt. Weshalb das letzte Bild im Buch โ€žWerkstattruineโ€œ heiรŸt und der zugehรถrige Text โ€žAbseitsโ€œ, der mit den Worten endet: โ€žโ€ฆ. es ist einfach nischt mehr losโ€œ. Das Proletariat setzt keine Roten Fahnen mehr auf hohe Schornsteine. Die Klassenkรคmpfe sind vorbei. Und mit ihnen auch das denkbar Andere: โ€žDoch es ist das 21. Jahrhundert und alles vorbei und nur trist und soziale Marktwirtschaftโ€œ, schreibt Jendryschik zur Ruine der Werkstatt im jungen Gestrรผpp. Fรผgt aber gleich hinzu: โ€žWie die Bonzen behauptenโ€œ.

Hinter den Kulissen

Auch so kann man die Entfremdung auf den Punkt bringen, die in allen Bildern Pfeifers spรผrbar ist. Als hรคtte er erst den Genossen und nun den heute Besitzenden zeigen wollen, was da eigentlich fehlt in all ihren biederen Versprechungen, VerheiรŸungen und falschen Losungen von โ€žblรผhenden Landschaftenโ€œ. Es sind die wirklichen Trรคume der Bewohner, die sich diese nur in den Schattenstunden noch eingestehen. Trรคume von einem Lebendigsein, das beim eiligen รœberschreiten der Brรผcken nur kurz auftaucht โ€“ eine Sekunde Traum von der ganzen groรŸen Freiheit.

Wohl wissend, dass das gegen โ€žstรคdtische Prinzipien verstoรŸende Windradโ€œ hier nicht hergehรถrt. Die akrobatischen Gestalten โ€“ eine Beleidigung fรผr den โ€žBuchhalter mit kommender Prokura, Ordnungshรผter vom ewigen Dienstโ€œ, der das nicht zu fangende Windrad als Schmach empfindet und es โ€žin sein kรผnftiges bรผrokratisches Verhalten deutlich einzugliedernโ€œ weiรŸ.

Und wenn das alles auch nur die launigen Abschweifungen eines Autors sind, der die Zeitenlรคufe mit skeptischen Augen betrachtet, die Assoziationen passen zu den Bildern, รถffnen zusรคtzliche Tรผren und Fenster. Manchmal auch einfach in die Kulisse, sodass man hinter die Staffelei des Malers schauen kann, so wie der hinter die schรถnen Fassaden schaut, das bunt beklebte AuรŸenbild, hinter dem unser Leben irgendwie stattfindet. Oder auch nicht, weil wir weiter und wieder in vorgegebenen Schleifen laufen. Und den Groll auf den eigenen, fehlenden Mut zum Ausscheren gegen die wenden, die da stรถren im geordneten und verordneten Bild.

Eine Augenweide. Ein Traumbuch. Das auch zeigt, dass ein groรŸer Surrealist vor allem ein ernsthafter Realist ist, der sein Mitgefรผhl mit den von ihm Gemalten nicht verbergen kann. So wenig wie der Dichter, dem das alles ebenso vertraut und altbekannt vorkommt. Natรผrlich steht von alledem nichts in der Presse. Wer will sich schon wie Pan fรผhlen โ€“ eingesperrt und ausgestellt? Als wรคre damit der Traum von einem wilden Leben erledigt und fรผr Zoo und Museum reif.

Alles Legende und Arkadien. Und doch โ€“ irgendwie die Stรถrung in effizient berechneten Ablรคufen. Ein stรถrendes Buch, wenn man es so betrachtet. Aber wer nimmt sich schon die Zeit zum Hinschauen und Mittrรคumen, wenn man die Trรคume heute fรผr ein Digital-Abo kaufen kann?

Manfred Jendryschik, Uwe Pfeifer โ€žMorgendunst und Rechteck-Landโ€œ, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 28 Euro.

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