Der Mensch ist ein manipulierbares Wesen. Das wissen nicht nur Populisten und Kriegspropagandisten. Das wissen auch Werbetreibende und Markendesigner. Und seit Edward Bernays ist der Branche sehr wohl bewusst, wie man mit psychologischem Wissen die Konsumenten manipulieren kann. Zumindest einen Teil davon, der sich von Marken โ€žverfรผhren und lenkenโ€œ lรคsst.

Und das meint die Marketingberaterin Prof. Dr. Meike Terstiege tatsรคchlich ernst. Sie plรคdiert fรผr โ€žein positives Manipulierenโ€œ, wendet sich also eher an Menschen, die in der PR-Branche arbeiten und Marken entwickeln oder neu branden oder vorm Niedergang retten mรผssen. Denn auch Marken gehen unter, wenn sie beschรคdigt sind. Ein Buch der untergegangenen Marken wรคre so etwas wie ein Dinosaurierfriedhof der modernen ร–konomie.

Aber auch etwas, was vom Streben und Sterben in einer radikalisierten Wettbewerbsgemeinschaft erzรคhlt, wo ein nicht geringer Teil des Wachstums damit erzielt wird, den Konsumentinnen und Konsumenten Dinge zu verkaufen, die sie gar nicht brauchen. Die nur deshalb gekauft werden, weil ein neues โ€“ meist kรผnstlich โ€“ erzeugtes Bedรผrfnis geweckt wurde oder weil ein Produkt besondere Glรผcksversprechen ausstrahlte oder das Gefรผhl genรคhrt wurde, dass man mit den alten Dingen im Haus nicht mehr auf Hรถhe der Zeit wรคre. Und so weiter.

Wie man neue Bedรผrfnisse schafft

Dass man den Unternehmenserfolg mit dem Wecken neuer, vorher gar nicht existenter Bedรผrfnisse steigern konnte, das hat schon Edward Bernays vor 100 Jahren gewusst. Auf seinen Schultern stehen die Marketing-Experten von heute. Auch wenn sie ihr Arbeitsfeld immer weiter ausgebaut haben und lรคngst mit Daten arbeiten, die sie direkt bei den potenziellen Kundinnen und Kunden einsammeln.

Denn wo vorher aufwendige Kundenbefragungen oder Tests mit echten Kandidaten durchgefรผhrt werden mussten, haben die groรŸen Unternehmen heute direkten Zugriff auf die persรถnlichsten Daten der Kรคufer, tracken sie direkt in den โ€žsocial mediaโ€œ und kรถnnen so nicht nur ihre Zielgruppe genau bestimmen, sondern auch die Reaktionen der potenziellen Kรคufer auf die aktuelle Produktkampagne direkt messen und auswerten. Was dann zu einer Formel fรผhrt, wie sie Terstiege auch verwendet: โ€žWie Unternehmen uns verstehen und liebenโ€œ.

In ihrem Buch schildert Terstiege sehr detailliert, wie das funktioniert, wie Markenmacher heute denken und wie komplex ihre Verfรผhrung der Konsumenten lรคngst ist. So komplex und tiefgreifend, dass sich nicht nur der Marktforscher Markus Kรผppers fragt, ob es denn bei den so Beglรผckten รผberhaupt noch einen freien Willen gibt.

Und manchmal kann man ja in Terstieges Ausfรผhrungen das Gefรผhl bekommen, dass man als Konsument lรคngst glรคsern geworden ist und den Verfรผhrungen der Warenwelt hilflos ausgeliefert, regelrecht an der Nase durch die Manege gefรผhrt, ohne es รผberhaupt noch zu merken. Was freilich auch Kรผppers aus jahrzehntelanger Erfahrung bezweifelt.

Dass es Menschen gibt, die leicht manipulierbar sind, ist ihm dabei nur zu bewusst. Bei ihnen ist das kritische โ€žMeโ€œ unterentwickelt. Sie lassen sich von ihren Gefรผhlen leiten, meist von uralten kindlichen Bedรผrfnissen, die auch ihr Erwachsenenleben ausfรผllen, ohne dass sie je ein wirklich kritisches Erwachsenen-Ich ausgebildet haben, das nach dem Sinn und Unsinn hinter all den Verlockungen fragt.

โ€žDoch je eher wir annehmen, dass das Doppelgรคngermotiv in uns allen steckt und dass wir spannungsgeladene, dialektische Naturen sind, desto eher erkennen wir, dass Werbung nichts erreichen kann, was unser Me tief im Inneren nicht willโ€œ, schreibt Kรผppers in einem der dem Buch beigegebenen Beitrรคge. โ€žUnd das mรผssen wir wohl oder รผbel akzeptieren.โ€œ

Da hรถrt man den Marktforscher regelrecht stรถhnen.

Marken brauchen erhรถhtes Interesse

Denn zu Meike Terstieges frรถhlicher Werbung fรผr eine unverkrampfte Manipulation der Konsumenten โ€“ hin zu Glรผck, zu Abenteuer, zu Genuss, Familienfrieden, Wohlbefinden und was der positiv besetzten Bilder mehr sind โ€“ gehรถrt auch die stille Enttรคuschung der Markenmacher und Markeninhaber, dass ein GroรŸteil der Menschen so gar nicht manipulierbar ist.

Oder einmal direkt aus dem Kapitel โ€žDas Herz im Visierโ€œ zitiert: โ€žDie Mehrheit der Marken ist den meisten Menschen jedoch ziemlich gleichgรผltig. Viel mehr Produkte und Dienstleistungen lassen uns eher kalt, (als, d. Red.) dass wir fรผr sie brennen. Nur ungefรคhr fรผnf bis zehn Prozent all unsere Kaufentscheidungen basieren auf High Interest bzw. High Involvement โ€ฆโ€œ

Die meisten Kรคufe absolvieren wir also ziemlich vernรผnftig und kaufen das, was wir gerade brauchen. Egal, was uns da im Supermarkt von oben eingeredet wird, an der Plakatwand hรคngt oder im Werbespot im Abendprogramm anheimelnd vorgegaukelt wird. Das Ergebnis: Marken, die uns รผberhaupt nicht kirre machen, werden trotzdem gekauft. Obwohl oder gerade weil sie uns kalt lassen.

Ein sehr spannendes Kapitel รผbrigens, weil es stillschweigend davon ausgeht, dass Marken uns gar keinen Mehrwert liefern mรผssen, um teurer verkauft zu werden und trotzdem Gefรผhle zu schรผren. Zumindest bei den Leuten, die all die VerheiรŸungen, die rund um verschiedene Marken aufgebaut werden, fรผr bare Mรผnze nehmen โ€“ vom Bier, das Gemรผtlichkeit verspricht, รผber das PS-starke Auto, das Freiheit verheiรŸt, bis zur Praline, die einem zรคrtliche Verfรผhrungen vorgaukelt.

Produkte ohne diese systematisch aufgebaute Aura erfรผllen dieselben Zwecke. Und: Wir kaufen sie ebendeshalb. Eben weil wir Gefรผhle, die Produkte รผberhaupt nicht erzeugen kรถnnen, auch nicht mit den Produkten verbinden.

Unsere aufmerksame Umgebung

Terstiege: โ€žLow Involvement ist die Regel (und nicht die Ausnahme). Tatsรคchlich werden ca. 90 Prozent aller Kaufentscheidungen als Low Involvement getroffen.โ€œ Was dann aus Sicht der Markenmacher auch so abtรถrnende Bewertungen bekommt wie โ€žno risk, no funโ€œ oder โ€žaustauschbar und verzichtbarโ€œ.

Man sieht also: Sie fallen auch auf ihre eigenen Claims herein. Tatsรคchlich heiรŸt Low Involvement in den meisten Fรคllen nur: Man spart sich das ganze Herumrรคtseln vorm Supermarktregal, kauft praktisch, zielgerichtet und ohne das Gefรผhl, irgendjemandem immerzu etwas beweisen zu mรผssen.

Denn darum geht es. Das ist die Schicht unter dem ganzen Marketing, die auch Meike Terstiege nicht diskutiert, sondern stillschweigend voraussetzt. Das deutet sie sogar im selben Kapitel noch an, wenn sie auf โ€žSoziale und psychologische Risiken im Konsumdschungelโ€œ eingeht. Denn die Konsumenten denken beim Kaufen teurer Marken nicht nur an sich, sondern auch an ihre Nachbarschaft, ihre Kollegen und ihren sozialen Status. Denn soziale Gruppen kรถnnen gnadenlos sein. Wer mit der falschen Marke aufkreuzt, wird aus der sozialen Gruppe ausgegrenzt.

Terstiege: โ€žGenauso relevant ist das soziale Risiko. (โ€ฆ) Wenn beispielsweise ein Teenager die โ€šfalscheโ€˜ Markenkleidung trรคgt oder man als Erwachsene auf dem Parkplatz des Golfplatzes mit dem โ€šfalschenโ€˜ Auto vorfรคhrt, ist man schnell sozial gebrandmarkt.โ€œ

Es geht also immer auch um Status und Akzeptanz. Und um Uniformisierung, die sich nur zu gern als Individualismus verkleidet. Vieles dreht sich zugleich um die immer neue Zementierung sozialer Ungleichheit โ€“ die dann auch mit der systematischen Abwertung falschen Kรคuferverhaltens einhergeht. Doch dieses ErschlieรŸen aller mรถglichen gesellschaftlichen Bedeutungsebenen hat seinen Preis: Die Botschaften nutzen sich ab.

Marken sind keine Kuscheltiere

โ€žKonsumenten sind gegenรผber Marken und ihren Botschaften mittlerweile abgestumpftโ€œ, schreibt Terstiege. โ€žDie meisten Menschen interessiert es nicht, was Marken รผber sich zu sagen haben, womit sie รผberzeugen oder verfรผhren wollen. Der (aktuell) erfolgversprechendste Weg in das Hirn und das Herz von Konsumentinnen fรผhrt รผber Botschaften von Marken, die fรผr die Zielgruppe relevante Themen als Inhalte aufnimmt und widerspiegelt.โ€œ

Man merkt schon, dass da eine ganze Branche auch ein Stรผck weit in der Krise steckt โ€“ obwohl sie mit den โ€žsocial mediaโ€œ mittlerweile so viel รผber ihre potenziellen Kunden erfรคhrt, wie nie zuvor. Nur die Kunden machen nicht richtig mit. Oder nur manchmal.

Obwohl schon jetzt absehbar ist, dass auch die jรผngst erfolgreichen Kampagnen fรผr โ€žcooleโ€œ und โ€žsmarteโ€œ Produkte irgendwann leerlaufen werden. Die Menschen verheiraten sich nur ungern mit Marken und Unternehmen. Und sie lassen sich auch nicht mit ihnen befreunden, auch wenn die Schleimer mit Dingdong auf der Matte stehen.

Und da kommt man auf ein Gebiet, auf dem die Markenmacher nur zu gern unterwegs wรคren, wenn sie es nur kรถnnten โ€“ als Manipulateure unseres sozialen Umfelds. Denn das steckt in der fรผr die Markengestalter frustrierenden Erkenntnis, dass nicht sie unsere WertmaรŸstรคbe formen (mal abgesehen von den zehn Prozent, die ihre kindlichen Bedรผrfnisse einfach nicht unter Kontrolle bekommen), sondern unser soziales Umfeld. โ€žWir entscheiden uns daher fรผr oder gegen eine Marke immer unter dem Damoklesschwert der Messlatte unserer Mitmenschen (โ€ฆ)โ€œ, bemekt Terstiege.

โ€žDas fรผhrt so weit, dass wir im Extremfall eine Marke nur dann kaufen, wenn wir davon ausgehen kรถnnen, dass eben diese Marke auch von unseren Freunden und Bekannten, von Kolleginnen und der Familie geschรคtzt und zumindest akzeptiert wird. Wir kaufen dementsprechend nur das, was sozial akzeptiert ist und uns bei den anderen nicht in Misskredit bringt, quasi ein Korsett der sozialen Kontrolle, das den einen mehr, den anderen weniger einengt.โ€œ

Kuschelwiese โ€žsocial mediaโ€œ?

Was eben nicht heiรŸt, dass alle dasselbe kaufen, sondern der Gruppendruck bestimmt, welche Produkte als statusgerecht verstanden werden und welche nicht. Und manche dieser sozialen Gruppen sind hรถchst attraktiv fรผr die Markenmacher, weil man dort Status und Prestige mit entsprechend teureren Produkten verkaufen kann. Andere eher nicht.

Und dann ist die Frage tatsรคchlich: Kรถnnen sich die allseits so Umworbenen dann โ€žMarken komplett entziehenโ€œ? Oder geht das gar nicht mehr in einer derart vom Statusdenken besessenen Welt? Denn nicht grundlos schildert ja Meike Terstiege, wie Bedรผrfnisse in der Zielgruppe รผberhaupt erst erzeugt werden mรผssen, um teils vรถllig unnรถtige Produkte zur gefragten Marke zu machen. Genau dazu braucht es ja die Manipulation, die aber zunehmend ihre Kratzer bekommt.

Spรคtestens im Kapitel zu den โ€žsocial mediaโ€œ, wo Terstiege tatsรคchlich ausfรผhrt: โ€žErfolg und Zauber des Social-Media-Marketings lebt vom Zuhรถren und Verstehen von Zielgruppen und dem entsprechenden Angebot an Handlungsmรถglichkeiten.โ€œ

Und das in einer Medienumgebung, die von Kampagnen lebt, aber ganz bestimmt nicht vom Zuhรถren und Verstehen. Aber dass sich Unternehmen genau so etwas wรผnschen und die โ€žsocial mediaโ€œ genau deshalb lieben und fรผttern, ist nur zu verstรคndlich: Sie wรคren nur zu gern die Ersatztrรถster, die ihren Kunden suggerieren, dass all ihre Produkte das ersetzen, was an sozialer Wรคrme und tatsรคchlicher Kommunikation tatsรคchlich verloren gegangen ist.

Kuscheln mit der Marke quasi. Was ja auch etliche Leute tun, vom Zirkus der Influencer ganz zu schweigen. Man ahnt, dass es durchaus Grenzen gibt fรผr die Verfรผhrung und Lenkung durch Marken. Und dass es unser kritisches und misstrauisches Erwachsenen-Ich (das โ€žMeโ€œ) ist, und eben nicht das kindliche Gefรผhls-Ich (das โ€žIโ€œ), das sich der permanenten Schaffung neuer Begehrlichkeiten verweigert.

Ein lehrreiches Buch, das eben nicht nur die komplexe Arbeitsweise von Markenmachern durchleuchtet, sondern auch die Grenzen der Manipulation berรผhrt. Und damit die Frage, ob es wirklich so gut ist, Manipulation als โ€žsexyโ€œ zu begreifen, oder nicht eher als Folge eines unbarmherzigen Kampfes um Marktanteile und Absatzzahlen. Gefรผhrt รผber Gefรผhle und Geschichten, die die Menschen scheinbar an erfolgreiche Marken binden. Was sich aber auch wieder รคndern kann, wenn die Marke einen Knacks bekommt und die Kรคufer kritisch nachfragen, ob die Geschichte รผberhaupt stimmt.

Meike Terstiege โ€žMensch Marke Manipulationโ€œ, Haufe Group, Freiburg, Mรผnchen und Stuttgart 2022, 39,95 Euro.

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