20 Jahre hat sich Ronald Piech mit einem Leipziger Wirtschaftszweig beschäftigt, der fast nie genannt wird, wenn es um die großen erfolgreichen Branchen in der Geschichte der Stadt geht. Dabei war Leipzig seit über 150 Jahren auch eines der großen deutschen Zentren der Produktion von Düften und Aromen. Und dieses Kapitel ist noch längst nicht zu Ende. Denn in Miltitz führt Bell Flavors and Fragrances die Tradition fort.

Und natürlich steht Miltitz im Fokus der Aufmerksamkeit, obwohl auch die Geschichte von Schimmel & Co. nicht erst in Miltitz begann, sondern in Leipzig selbst, 1829, als der Apotheker Gottlob Eduard Büttner und der Drogist Ernst Ludwig Spahn eine „Drogerie- und Farbwarengandlung“ vor dem Hallischen Tor gründeten.

Jenes Unternehmen, das durch eine Anteilsübernahme durch Friedrich Eduard Louis Schimmel zu jenem Namen kam, der dann weltberühmt wurde, und zwar nicht mehr durch den Handel mit „Drogen“ und Farben, sondern durch die zunehmend industrielle Produktion von Aromen und Düften für eine Wirtschaft, die genau das in immer mehr Bereichen auch nachfragte.

Unsere moderne Konsumwelt ist ohne diese Allgegenwart von Duft- und Geschmacksnoten aus der Retorte gar nicht mehr denkbar. Auch wenn nur das Wenigste davon noch direkt aus natürlichen Zutaten gewonnen wird. So wie in den frühen Jahren von Schimmel &. Co., als vor Leipzig noch riesige Lavendelfelder blühten und das Unternehmen auch eine Zweigniederlassung in Südfrankreich gründete.

Welterfolg erst an der Berliner Straße, dann in Miltitz

Ronald Piech hat sich tief hineingegraben in diese Unternehmensgeschichte und damit tatsächlich die Entstehung eines völlig neuen Wirtschaftszweiges sichtbar gemacht, der in Leipzig erstaunlicherweise schon früh seinen Schwerpunkt hatte und mit Schimmel & Co. ein Unternehmen hervorbrachte, das auf diesem Markt den Takt angab. Bis hin zur wissenschaftlichen Forschung „in neuen Dimensionen“ und der bahnbrechenden Entwicklung der organischen Chemie.

Der Massenmarkt an aromatisierten Produkten verlangte geradezu nach naturidentischen Aromen und Düften, die preiswerter hergestellt werden konnten als die Essenzen aus natürlichen Zutaten. Auf einmal waren die Leipziger Aroma-Produzenten mittendrin in den neuesten Entwicklungen der organischen Chemie. Nicht nur Schimmel & Co.

Im zweiten Teil des Buches zeichnet Piech auch die Geschichte anderer namhafter Unternehmen aus Mitteldeutschland nach, die damals an den Start gingen – von Heine & Co., wo ja Karl Heine selbst ab 1859 sein Betätigungsfeld als Produzent ätherischer Öle fand (das Fabrikgebäude findet man heute noch in der Schreberstraße), über Oehme & Baier mit ihrer Fabrikation in Gohlis und die Waldheimer Parfümerie- und Toilettenfabrik A.H.A. Bergmann (wo später die berühmte „Florena“-Creme entstand) bis hin zu AGFA in Wolfen.

Dass die Geschichte von Schimmel & Co. nicht 1948 mit der Enteignung der Unternehmerfamilie Fritzsche endete und auch nicht mit der Abwicklung des VEB Chemisches Werk Milititz im Jahr 1990, erzählt Piech natürlich ebenso, auch wenn man merkt, dass ihn das Wirken der drei Generationen Fritzsche, die aus der anfangs überschaubaren Produktion an der Berliner Straße ab den 1890er Jahren die erste richtige industrielle Großproduktion von Düften und Aromen in Miltitz aufbauten, näher am Herzen lag.

Was nur zu verständlich ist. Denn hier wird das Wirken einer prägenden Leipziger Unternehmerfamilie sichtbar, die Fachkompetenz mit unternehmerischem Verantwortungsgefühl verband und damit Erfolg hatte.

Eine Geschichte, die so erstmals ausführlich und reich bebildert erzählt wird und die vom Gespür Leipziger Unternehmer für einen völlig neu entstehenden Markt erzählt. Einem Markt, den es so im 18. Jahrhundert, als Duftwasser eine Sache reicher Leute war, noch gar nicht gab. Die mit der Entstehung der Kosmetikindustrie, wie wir sie heute kennen, genauso zusammenhängt wie mit der Entstehung der Süßwaren- und Backwarenindustrie. Auch ist ja die in Mitteldeutschland bestens vertreten.

Eine Welt künstlich erzeugter Aromen

Piech schafft es in seiner Reise durch fast zwei Jahrhunderte, einem Unternehmerporträt den Hauch des Gestrigen und Vergangenen zu nehmen. Denn oft denkt man ja nur an bärtige, konservative Herren, die in Leipzig ihre Geschäfte betrieben, und Unternehmen, deren einstiger Glanz erloschen und vergangen ist. Leipzig quasi als Wirtschaftsmuseum.

Aber Piech zeigt das Moderne und dem Neuen Aufgeschlossene, das nicht nur die Arbeit der Fritzsches prägte. Er erzählt von einem weltweiten Handel mit den Produkten aus den Fabriken an der Berliner Straße und später in Miltitz und den erstaunlichen Möglichkeiten, die sich boten, als immer mehr natürliche Aromen und Duftstoffe chemisch erzeugt werden konnten. Eine Produktpalette, die selbst in sozialistischen Zeiten gebraucht wurde.

Man staunt, in wie vielen Produkten die Aromen und Essenzen verarbeitet wurden. Vom Puddingpulver über die Brause bis zur Näscherei. Auch die DDR-Bürger lebten in einer künstlich aufgepeppten Geschmacks- und Duftwelt, die eben nicht mehr direkt von der Plantage stammte, sondern aus der Retorte. Produziert im Chemiedreieck um Leipzig.

Wie würde eigentlich eine Welt riechen und schmecken, in der es das alles nicht mehr gäbe?

Das ist nicht mehr vorstellbar. Es wäre die Welt von vor 200 Jahren. Und es wäre eine wesentlich unhygienischere Welt. Und auch eine viel schwerer kalkulierbare, denn Ernteausfälle machten auch den Leipziger Aroma-Fabriken im 19. Jahrhundert zu schaffen, ließen die Preise für Rohstoffe explodieren und die Öle und Essenzen unerschwinglich werden.

Auch wenn diese Art der Produktion noch etwas Beeindruckendes hatte, wenn man die Lieferungen von wertvollen exotischen Hölzern und Rinden sieht oder die riesigen Mengen von Zitronen und Erdbeeren, die damals noch verarbeitet wurden, um Geschmack und Duft zu extrahieren.

Und anfangs waren die Leipziger Unternehmen allesamt noch darauf angewiesen, dass die natürlichen Zutaten für ihre ätherischen Öle direkt vor der Haustür angebaut und geerntet wurden – vom Kümmel bis zur Pfefferminze.

Raus aus dem Vergessen

Man erlebt also auch mit, wie sich der damals noch junge Wirtschaftszweig Jahrzehnt um Jahrzehnt revolutionierte, um den immer weiter wachsenden Bedarf einer florierenden Wirtschaft an Aromen und Duftnoten zu befriedigen. Dass die Militzer bis heute stolz auf ihre „Aroma-Fabrik“ sind, ist nur zu verständlich. Im Grunde sind aus dem Miltitzer Unternehmen nach der deutschen Vereinigung zwei Unternehmen hervorgegangen – neben dem von Bell übernommene Standort in Miltitz auch noch die Miltitz Aromatics GmbH.

Piech repariert also in vielen Aspekten und Kapiteln, was „in vierzig Jahren des Vergessenmachens privaten Unternehmertums“ tatsächlich kaum noch wahrgenommen wurde. Und was zum Teil bis heute gilt, weil eben viele einst namhafte Unternehmen in Leipzig ja tatsächlich die 40 Jahre DDR nicht überlebt haben, viele 1990 schlicht nicht mehr wettbewerbsfähig und heruntergewirtschaftet waren.

So gesehen hatten die „Miltitzer“ sogar Glück, weil zwar der künstlich geschaffene Markt aus der RGW-Zeit über Nacht verschwand, die Produkte aber auch auf dem deutschen und dem Weltmarkt nachgefragt sind. Bis heute.

Und auch die Erinnerung an die Zeit der Fritzsches ist nicht tot. In einem Kapitel würdigt Piech besonders die seinerzeit entstandene wissenschaftliche Bibliothek, die in der Obhut von Bell Flavour and Fragrances restauriert und wieder der Nutzung zugeführt wurde.

Denn hier findet man ja nicht nur die profunden Veröffentlichungen aus dem Hause Schimmel & Co., sondern auch die wissenschaftlichen Grundlagenarbeiten, mit denen vor über 100 Jahren die moderne Aroma-Industrie aufgebaut wurde.

Und damit eine Duft- und Geschmackswelt, die seitdem nicht mehr nur einer reichen Schicht zur Verfügung steht, sondern für jeden Haushalt erschwinglich ist. Selbst wenn die Käufer gar nicht wissen, was da alles auf der Zutatenliste steht und was davon in Miltitz oder Espenhain aus der Retorte kam.

Ronald Piech „Wiege einer Industrie. Düfte und Aromen aus Mitteldeutschland“, Passage Verlag, Leipzig 2022, 28 Euro.

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