Wie wird man eigentlich erwachsen? Oder: Was ist das eigentlich, dieses Erwachsenwerden? Dass es etwas mit Souveränität im eigenen Leben zu tun hat, hat der 1979 in Leipzig-Connewitz geborene Autor Johannes Herwig schon in seinen früheren Büchern sichtbar gemacht. Auch sie erzählten von jungen Menschen, die ihren Platz in der Welt suchten und mit der Wirklichkeit kollidierten. Und die 1990er Jahre waren keine sehr gute Zeit zum Großwerden.

Das muss auch Sascha erleben, der ganz ähnlich wie Nino in Herwigs 2020 erschienenem Roman „Scherbenhelden“ ohne Vater aufwächst. Seine Mutter kämpft sich als Krankenschwester durch und ihr zweiter Mann, der Vater von Saschas kleiner Schwester Jacky, tut sich schwer mit den Alimente-Zahlungen. Also ist das Geld in der kleinen Familie immer knapp. Und in der Schule gehört Sascha fast zwangsläufig zu den Außenseitern, weil er sich all die Klamotten nicht leisten kann, mit denen seine Klassenkameraden angeben.

Die 1990er Jahre in Leipziger Schulen waren auch die unverhüllte Ankunft einer Egogesellschaft, die auch die Kinder schon in Gewinner und Verlierer teilte. Wer nicht dazugehört und nicht mithalten kann, der erlebt dann in der Regel Mobbing und Ausgrenzung. Es ist dieselbe raue Zeit, die auch Clemens Meyer in seinem Roman „Als wir träumten“ beschrieb, etwas früher als Domenico Müllensiefens „Aus unseren Feuern“. Man hätte es diesem grauen, noch arg depressiven Leipzig nicht angemerkt, dass diese Stadt noch einmal wieder auf die Beine kommen würde.

Was ist wichtig im Leben?

Was sie trotz alledem geschafft hat. Was aber nicht für alle ihre Bewohner gilt. Denn die, die es geschafft haben und vom Aufschwung profitierten, sehen im Grunde nicht, dass Andere ganz und gar nicht diese Erfolgserfahrungen gemacht haben. Gerade jene nicht, die ohne reiche Eltern im Rücken irgendwie ihren Weg finden mussten. Oder sich überhaupt erst einmal behaupten. Für Sascha sind deswegen seine alten Kumpels, mit denen er in einer „Bude“ in einem leer stehenden Haus, an dem ein halber Löwenkopf von vergangener Pracht erzählt, so wichtig: Jarno, Engel und Timo. Wenn es Stress in der Schule gibt, sind sie da.

Doch ihre kleine Clique funktioniert auch nur, weil sie sich gegenseitig immer wieder beweisen müssen, dass sie bereit sind, auch die verrücktesten Mutproben zu begehen. Und das geht schief, als Sascha eines Tages seinen neuen Mitschüler Marcel mitbringt und der jetzt gleich mal eine richtig gefährliche Mutprobe auferlegt bekommt. Das Ergebnis wird nicht nur für Sascha zur Katastrophe. Doch gerade ihn stürzt Marcels Tod in tiefe Gewissenskonflikte. Und auf einmal ist auch der frühe Tod seines Vaters wieder präsent, den er genauso wenig verarbeitet hat.

Der Sommer vor Saschas letztem Schuljahr wird für ihn zur Begegnung mit sich selbst und all den ungeklärten Fragen, die er vorher nur zu gern mit den Kumpels, Alkohol und Draufgängertum verdrängt hat. Wahrscheinlich genau so wie es viele Jungen in dem Alter getan haben. Woher soll man wissen, was man aus seinem Leben machen kann, wenn selbst die Eltern sich nur irgendwie durchschlagen? Wobei es auffällt, dass Sascha eigentlich Glück hat mit seiner Mutter, die den Heranwachsenden nicht wie einen Minderjährigen behandelt, sondern ihm vertraut und zuhört.

Was ist Freundschaft?

Sollten Jungen von heute das Buch in die Hand bekommen, wird sich so mancher sagen: So eine Mutter hätte ich auch gern. Dadurch hat Sascha den festen Punkt, der ihn nicht abdriften lässt. Und um sein Schwesterchen Jacky kümmert er sich sowieso mit rührender Bruderliebe. Sein abendliches Herumhängen mit den Kumpels passt nicht so recht dazu. Und wird am Ende auf eine harte Probe gestellt, als das Unglück mit Marcel passiert ist. Einfach Klappehalten scheint nicht nur für Sascha ein Problem zu sein. Seine Albträume erinnern ihn daran, dass die Zeit des Für-nichts-verantwortlich-Seins vorbei ist. Dass er sich seinem Gewissen stellen muss und dass ihm das niemand abnehmen kann. Schon gar nicht die Jungs aus der Clique.

„Wenn mich jemand vor einem Jahr gefragt hätte, wie man mit so was umgeht, hätte ich keine Ahnung gehabt. So etwas zu sehen und es nicht verhindern zu können …“, überlegt Sascha ganz am Ende an seinen toten Vater gewandt. „Ich hätte ja nicht einmal eine Vorstellung davon gehabt, wie es ist, immer wieder diese Bilder im Kopf zu haben. Dieses Gefühl, immer und immer wieder in einen Abgrund ohne Boden geworfen zu werden.“

Denn natürlich steht dahinter auch die Frage, die Sascha bis dahin an seine Clique gebunden hat. Die Frage, was eigentlich Freundschaft ist und welche Verantwortung man für die Menschen übernimmt, die einem vertrauen. Denn eigentlich geht es auch nicht nur um Marcels Gefühl, im falschen Körper zu stecken. Es geht auch und gerade um Saschas Gefühl, sich nicht richtig zu fühlen in der Rolle, die er bis dahin gespielt hat. Ein Gefühl, das nicht nur Jugendliche kennen und dann oft auf die falschen Lösungen dafür kommen. Denn dieses Gefühl konfrontiert einen mit der Frage: Wer bin ich selbst? Und: Wer will ich wirklich sein?

Und: Wie viel Mut bringe ich auf, mich den Folgen des eigenen Tuns zu stellen? Denn Mut gehört dazu, wenn Sascha nach dem tragischen Vorfall erst Miriam aufsucht und später auch das Schweigen der Clique bricht, sich die Last von der Seele reden will. Denn anders wird man die Albträume nicht los. Und kommt auch nicht mit den Selbstvorwürfen zurecht, die einem das eigene Gewissen macht.

Eine Gewissensfrage

Gut möglich, dass es auch haufenweise Leute gibt, die gar kein Gewissen haben und denen egal ist, was sie in ihrem Leben für Schaden anrichten. Aber so einer ist dieser Sascha ganz offensichtlich nicht. Und er ahnt, als all das passiert, dass es hier um seine eigene Entscheidung geht, was er eigentlich aus seinem Leben mal machen will. Das sagt einem nämlich keiner, kann einem auch keiner sagen. Denn das bekommt man nur heraus, wenn man wenigstens ein bisschen über sich selbst, die eigenen Stärken und auch Schwächen weiß. „Aber zumindest weiß ich heute ein bisschen besser, was ich für ein Mensch bin“, stellt Sascha am Ende fest.

Womit das so ein klein wenig auch ein Roman über die Nicht-Findungsphase des Ostens in diesen haarigen und dissonanten zehn Jahren nach der „Wende“ geworden ist. Denn in den Versuchen der jungen Menschen, sich irgendwie in dieser neuen/alten Gesellschaft mit ihren über den Haufen geworfenen Wertevortstellungen zu behaupten, stecken auch die Irrungen und Wirrungen der scheinbar Erwachsenen, die aus diesem ganzen Kladderadatsch wieder etwas Tragfähiges machen sollten.

Und sich dabei selbst oft genug rat- und haltlos benahmen. Mit dem Ergebnis, dass eine Menge von ihnen nie wirklich geschafft haben, die Souveränität erwachsener Menschen zu erreichen, die zu ihren Wunden und Niederlagen stehen und das Leben ohne Jammern und Pöbeln annehmen, so wie es ist.

Da könnte man beinah schon gespannt sein auf die Romane, die in 20 Jahren über unsere heutige Zeit und das Jungsein darin geschrieben werden. Und ob es dann auch Autoren wie Herwig gibt, die sich nicht davor fürchten, ans Eingemachte zu gehen und die Tragik zu sehen in den oft harten und rücksichtslosen Rollenspielen, mit denen sich junge Menschen zu behaupten versuchen in einer von Prestigedenken, Ausgrenzung und Ellenbogenmentalität beherrschten Gesellschaft. Denn die stellt eben nicht nur Lebensentwürfe infrage, sondern auch Mitgefühl, Vertrauen und Freundschaft. Denn was ist Freundschaft, wenn man anderen immerzu beweisen muss, dass man sich ihre Freundschaft verdient? Also selbst so etwas Selbstverständliches einen Preis hat?

Genau das steckt nämlich auch in der Marcel-Geschichte. Und in Saschas Beziehung zu seiner Mutter und seiner Schwester. Es ist wie ein Spiegelbild unserer ganz und gar nicht heil gewordenen Gesellschaft, in der ziemlich viele Menschen dieses Grundvertrauen nicht mehr haben. Verloren haben. Enttäuscht wurden oder sich in den falschen Rollen wiederfinden, in denen sie gar nicht erst in die Gefahr geraten, sich anderen Menschen öffnen zu müssen, so, wie es Sascha am Ende tut. Notgedrungen. Es braucht Mut dazu. Das stimmt. Denn gerade an dieser Stelle werden wir verletzlich.

Wessen Leben lebt man wirklich?

Und so betrachtet, ist das ganz und gar nicht nur ein Roman über eine harte Jugend in den 1990er Jahren, sondern auch einer, der den Zustand unseres Jetzt tangiert, wenn nicht auf sehr intensive Weise hinterfragt. Denn die Jungen, die damals in Saschas Alter waren, sind heute selbst Väter, manche wohl auch schon Großvater. Aber was vermitteln sie den Kindern und Enkeln? Sind sie die Ansprechpartner, die Sascha in seinem toten Vater nicht hatte? Oder schlagen sie sich noch immer mit der alten Not herum, wie sie in ihrem eigenen Leben selbst irgendwie souverän werden? Die Wunden verheilen lassen und zu den eigenen Fehlern stehen?

Natürlich steckt Herwig selbst in diesem Alter. Und grundlos wird er diese Geschichte nicht geschrieben haben. Solche Fragen verjähren nicht. Sie sind immer neu. Und sie werden auch immer wieder neu produziert in einer Gesellschaft, die Infantilität und falsche Jugendlichkeit geradezu zum Leitbild gemacht hat. Auch das spürt man beim Lesen: Wie ernsthaft und erwachsen Sascha seine Geschichte eigentlich erzählt, während das Gedudel aus den Nachrichtenkanälen eigentlich von einer Gesellschaft erzählt, in der scheinbnar erwachsene Männer stolz darauf sind, sich wie jugendliche Raufbolde zu benehmen.

Man könnte ins Nachdenken kommen.
Man kommt ins Nachdenken.

Und wer Ähnliches erlebt hat wie Sascha, wird sich in vielen Kapiteln dieser Geschichte berührt fühlen. Vielleicht sogar gemeint. Denn geschont wurden die jungen Menschen in diesen haarigen 1990er Jahren in Leipzig nicht. Ziemlich viele mussten allein den Weg finden zu sich und zu dem Leben, das sie wirklich leben wollten. Und das in der Regel eben nicht das Leben ist, das die ewigen Moralisten ihnen zumuten und zureden. Irgendwie ist man froh, dass diese grauen 1990er Jahre vorbei sind. Aber das Gefühl bleibt: So richtig anders ist es auch heute nicht. Auch wenn den jungen Menschen nun andere Rollen und Selbstverständlichkeiten zugemutet werden, die keine Selbstverständlichkeiten sind.

Wie wird man souverän in seinem eigenen Leben?

Das ist die Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss. Zumindest sollte, wenn er irgendwann das Gefühl haben will, tatsächlich das eigene Leben zu leben.

Johannes Herwig „Halber Löwe“, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2023, 18 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar