Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Lehrbuch: Wie bereite ich eine gute Schullesung vor. Am Ende gibt es dazu auch noch eine richtige Check-Liste. Und eine richtige Tagung zum Thema gab es auch. Die fand 2022 in Leipzig statt. Und da kamen vor allem die Autorinnen und Autoren zu Wort, die bei Schullesungen in ganz Deutschland ihre Erfahrungen gesammelt haben. Gute und schlechte. Und da wird es natürlich emotional.
Eigentlich schon mit den beiden Einführungsvorträgen von Grit Kurth und Klaus Nührig, die beide nicht nur Autoren sind, sondern auch Gymnasiallehrer, die Geschichte also von beiden Seiten kennen. Denn sie hat zwei Seiten. Eigentlich drei. Aber die dritte Seite – die Schülerinnen und Schüler – kommt nicht selbst zu Wort, auch wenn sie nicht nur Objekt der Betrachtung ist. Denn natürlich passiert das alles für sie. Und das ganz gewiss nicht nur zur Füllung von Freistunden oder zur Bespaßung der Kinder und Jugendlichen. Wäre es nur das, es gäbe schon lange keine Schullesungen mehr in Deutschland.
Was beim (Vor-)Lesen passiert
Aber da der Tagungsveranstalter auch Fragebögen an über 50 Autorinnen und Autoren verschickt hat, kommt auch der Effekt ins Bild, den Schullesungen fast immer auslösen, wenn sie gut vorbereitet sind, die Lehrerinnen und Lehrer sich wirklich darum gekümmert haben und die Autorinnen und Autoren wissen, welches Publikum sie erwartet. Denn in den Lesungen passiert das, was im gewöhnlichen Literaturunterricht nicht passiert. Die jungen Menschen können dem Vorgelesenen unvoreingenommen begegnen. Und für viele ist das tatsächlich die erste wirkliche Begegnung mit Literatur in ihrem Leben. Mal, weil es bei ihnen zu Hause keine Bücher gibt und ihnen auch nie vorgelesen wurde, oft auch, weil echte Bücher im Leben einer zunehmend mit dem Handy verwachsenen Generation keine Rolle mehr spielen.
Es sind ja nicht nur Millionen Erwachsene, die sich mit ihren digitalen Endgeräten bestens informiert fühlen und nicht einmal ahnen, dass Literatur völlig andere (Gefühls-)Welten erschließt. Eben gerade deshalb, weil sie ohne Bildschirm funktioniert und nur über Sprache. Gelesene Sprache im Fall der Schullesungen, in denen die Kinder und Jugendlichen meist auch erstmals erleben, dass ihre Lieblingsbücher von echten Menschen geschrieben wurden.
Menschen, die ja ganz offensichtlich ganz ähnliche Themen wichtig finden, die eigenen Sorgen artikulieren, sich mit demselben Gespinst beschäftigen, das auch das eigene Leben ausmacht. Literatur wird ja oft wie eine exotische Disziplin behandelt, als säßen Autoren auf güldenen Thronen und würden tatsächlich von lästigen Musen geküsst und würden dabei fabelhafte Welten erschaffen …
… und eben nicht über unser uns alle verwirrende Leben hienieden schreiben.
Das Menschsein in Worten
Die aufmerksamen Leser/-innen wissen es, dass Literatur nichts Abgehobenes ist, sondern der in Buchform gebrachte Versuch, Leben sagbar zu machen, das Menschsein in Worte zu fassen, das Fassbare auszuloten, mit dem man sich zumindest als Kind und Jugendlicher sehr intensiv beschäftigt. Weshalb die Baukastensystematik der Lehrpläne in Sachen Literatur in der Regel eher abtörnt und jungen Menschen fürs Leben die Lust am Lesen verleidet.
Und genau das brechen Schullesungen auf. Selbst bei Jugendlichen, die in der Schule eher die Erfahrung gemacht haben, dass der Stoff sie nicht die Bohne interessiert, die Lehrer nur vorgestanzte Antworten hören wollen, eigenes Denken oder gar Zweifeln und Fragen keinen Platz haben. Auch diese Erfahrung machten viele der in diesem Buch zu Wort kommenden Autorinnen und Autoren, die in sogenannten „Problemschulen“ vor Schülern lasen, die ganz offensichtlich Abwehr und Zurückhaltung spüren ließen, gar die ganze Vorlesung ohne Mucks schwiegen und nicht reagierten.
Und trotzdem passierte es fast jedes Mal, dass hinterher doch die etwas Mutigeren zur Vorlesenden kamen und ihre Fragen stellten oder einfach ihr Staunen darüber äußerten, dass so ein Literaturerlebnis überhaupt möglich war.
Denn das ist es fast jedes Mal. Und der Grund dafür ist wohl eher nicht, dass Schullesungen den normalen Stundenplan aufbrechen und hinterher keine Ergebnisse abgefragt werden, auch wenn das Gespräch über das Gehörte meist dazu gehört. Aber genau das macht eben auch sichtbar, dass solche Lesungen sehr persönlich empfunden werden und die Verlesenden fast immer mit starken und lebhaften Reaktionen durch ihr junges Publikum belohnt werden.
Denn wenn sich alle Zeit nehmen und bereit sind zuzuhören, dann hat der Text eine Chance, vernommen zu werden. Sich aufzutun und in den Köpfen der Zuhörenden seine Kraft und seine Wärme zu entfalten.
Die Macht der Wörter
Denn das lernen junge Menschen im Literaturunterricht ja fast nie: Dass die Literatur gar nicht auf der Buchseite passiert, sondern im Kopf. Dass Wörter Stimmungen und Assoziationen in sich tragen, die sich entfalten, wenn jemand aus einem Buch vorliest. Hoffentlich lebendig und ausdrucksvoll. Das gehört dazu. Manche Autorinnen haben extra Schauspielstunden genommen, um ausdrucksstarkes (Vor-)Lesen zu erlernen. Den jungen Menschen darf man nicht begegnen, wie es Belletristikautoren oft einem älteren Publikum antun, das bereitwillig stillhält, wenn da vorn eintönig und ohne Aufblicken ganze Kapitel heruntergelesen werden.
So funktionieren Lesen und Zuhören nicht wirklich. Denn beim Vorlesen wird auch eine uralte Erfahrung abgerufen, die alle Menschen in sich tragen: Dass man einander Geschichten erzählt und damit die Welt verständlicher macht. Wer zuhört, baut die entstehenden Bilder ganz automatisch aus den eigenen Erfahrungen. Man kann gar nicht anders. Die gehörte Geschichte wird im Kopf zur eigenen Geschichte. Und je besser geschrieben und vorgetragen wurde, umso intensiver wird die Geschichte.
Und deswegen erzählen alle Beiträge zu diesem Buch im Grunde von den vielen positiven Erfahrungen, die die Vorlesenden bei Schullesungen gemacht haben. Gerade diese Abschnitte in jedem Beitrag sind die berührendsten, weil sie erklären, wie wichtig das Vorlesen überhaupt und die Begegnung in der Schullesung im Besonderen sind. Wie elementar, könnte man sagen. „Niemand verlässt ganz unberührt eine Lesung“, schreibt Klaus Nührig. „Immer gibt es einen Nachklang. Schülerinnen und Schüler können sehr gut zuhören. Sie protzen nicht mit ihrer literarischen Bildung, sie haben Fragen, äußern Ablehnung und Zustimmung.“
Was auch heißt: Die Autorinnen und Autoren bekommen ein so authentisches Feedback, wie sie es im professionellen Literaturbetrieb sonst nie bekommen. Auch deshalb gehen viele gern in Schullesungen. Natürlich immer in der Hoffnung, die einladenden Schulen haben die grundlegenden Rahmenbedingungen geschaffen, die es für eine gelingende Lesung braucht.
Ein aufmerksames Publikum
Das wissen irgendwie doch nicht alle Lehrerinnen und Lehrer. Auch deshalb fand 2022 die Tagung statt – als eine Möglichkeit, die Erfahrungen der Vorlesenden zu sammeln und einmal so zu bündeln, dass man hinterher den interessierten Schulen eine Handreichung geben kann. Und so viel scheint das gar nicht zu sein, was da vonnöten ist. Denn das Wichtigste ist ja da – auch in sogenannten Brennpunktschulen: das aufmerksame und neugierige Publikum.
Denn auch wenn manche Lehrer und viele Kultusminister das anders sehen: Kinder und Jugendliche sind von Grund auf neugierig, interssiert und lernbegierig. Den meisten wird das aber leider aberzogen. Auch deshalb sind Schullesungen wie geöffnete Türen in einem starren Lehrplangebäude: Die Jungen und Mädchen dürfen wieder einfach nur neugierig sein, ohne dass jemand ihnen sagt, „was am Ende dabei herauskommen soll“.
Sie dürfen ganz auf ihre Weise auf das Vorgelesene reagieren. Und wenn man die Beiträge all der antwortenden Autoren und Autorinnen so liest, spürt man die Faszination all dieser Begegnungen, bei denen die eingeladenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller ja erst einmal wie Exoten in die gewohnten Schulgebäude kommen – manchmal in die Klassenräume selbst, manchmal in die Bibliothek oder die Aula. Manchmal sind die Schüler/-innen vorbereitet. Manchmal ist es für beide Seiten eine Begegnung der dritten Art. Aber fast jedes Mal funktioniert sie, wenn die Lehrerinnen und Lehrer dann auch dafür sorgen, dass die Lesung nicht gestört wird und sich tatsächlich entwickeln kann.
Denn auch der Faktor Zeit spielt ja eine Rolle. Noch so ein Unikum aus unseren Schulen, in denen alles in 45-Minuten-Happen gepackt ist, aber fast nie Raum gelassen wird, dass etwas sich wirklich entfalten kann. Wie zum Beispiel ein vorgelesener Text, eine Geschichte, ein Gedicht. Und Entfalten heißt nun einmal: In jedem einzelnen Kopf passiert etwas anderes. Und was da passiert, wird oft erst hinterher deutlicher, wenn die Schülerinnen und Schüler sich zu fragen trauen. Was man sich ja nur traut, wenn eine Atmosphäre des Vertrauens entstanden ist.
Literatur muss man erleben
Auch das ein Grund für etliche der beitragenden Autorinnen und Autoren, gerade deshalb in die Schulen zu gehen. Denn hier erleben sie, wie ihre Geschichte zur Geschichte der Kinder wird. Dass immer mehr darin steckt, als der Autor selbst gewusst hat, als er schrieb.
Im Grunde lernt man mit dieser kleinen praktischen Sammlung wieder etwas mehr darüber, wie Literatur eigentlich funktioniert. Und wie wichtig das mündliche Vorlesen ist. Und dass das eben mehr ist als eine sonstige literarische Beschäftigung mit einem Text, der nach Lehrplan zerfleischt und destilliert wird. Die Schullesungen öffnen den Weg zum ganz persönliche Erleben von Literatur. Und zur Wahrnehmung, dass diese ganz und gar nicht nur irgendeine Nische in unserer Gesellschaft ist, sondern genau das Feld, auf dem sich schreibende Menschen mit lesenden und zuhörenden Menschen über das Menschsein austauschen. Ihm nachspüren und ahnen lassen, dass das Lebendigsein eigentlich ein Abenteuer ist. Auch wenn es beim Zuhören nur im Kopf stattfindet. Aber das meiste, was wir erleben, findet (nur) in unserem Kopf statt.
Das Ergebnis: Das Buch ist zu einem einzigen feurigen Plädoyer für gelingende Schullesungen geworden. Und es ist eben mehr als eine Handreichung. Für viele Lehrerinnen und Lehrer dürfte es auch eine richtige Ermutigung sein, Schullesungen tatsächlich einzubauen in den Schulalltag. Und einfach mal die Gelegenheit zu schaffen, dass die jungen Menschen unvoreingenommen auf Literatur reagieren dürfen. Ohne dass es dafür Noten gibt.
Und natürlich eine Einladung an die Kultusminister im Land, solche Schullesungen viel systematischer und dauerhafter zu ermöglichen. Denn hier wird auch etwas vermittelt, was schlicht nicht benotbar ist: die Fähigkeit, zum Wort zu kommen, sprachfähig zu werden. Auch und gerade für Schüler, die in unseren Schulen immerfort mit Sprach- und Sprechbarrieren zu tun bekommen.
Ein Politikum.
Natürlich.
Denn wer Schule so gestaltet, dass darin alle Kinder zu Worten kommt, agiert politisch. Und hat ganz gewiss ein anderes Bild von Menschenwürde als die überbezahlten Erfinder des Nürnberger Trichters.
Ralph Grüneberger (Hrsg.) „Auf Buchfühlung“, edition kunst & dichtung, Leipzig 2023, 18,90 Euro.
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