Wie erinnert der Mensch sein Leben? Eigentlich ja nur in Episoden, die sich im Gedächtnis besonders festgebissen haben. Oft überschattet von den Erzählungen, die in der Gesellschaft dominieren und einem das Geschehen im Nachhinein deuten. Was dann leider viele Biografien so unlesbar macht, weil vom Eigenen kaum etwas übrig blieb. Joachim Krause hat es schon 2008 anders versucht.

Denn dies hier ist eine gründlich überarbeitete und erweiterte Version seiner Erstveröffentlichung von 2008. Der 1946 in Ehrenhain in Thüringen Geborene ist zumindest Kennern der DDR-Rockmusik kein Unbekannter. Für einige der einprägsamsten Bands hat er Songtexte geschrieben: für Panta Rhei, Klaus Lenz, die Puhdys und vor allem Lift. Den Song „Am Abend mancher Tage“ hat er für Lift geschrieben und er war sogar mal der Nr. 1-Hit in der DDR. Einer jener nachdenklichen Songs, die das Lebensgefühl in dem kleinen Land auf den Punkt brachte. Das Gefühl, nicht mehr weiter zu können, und sich doch wieder aufzurappeln.

Dabei war Krause nie hauptberuflicher Texter, sondern ausgebildeter Chemiker. Später hat er noch ein Theologiestudium nachgeholt und war von 1982 bis 2010 Beauftragter für Glaube, Naturwissenschaft und Umwelt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen. In der kirchlichen Umweltbewegung war er schon seit 1978 aktiv. Folgerichtig thematisiert gerade das Kapitel „Das volle Leben in der DDR“ diese Zeit und die Aktivitäten des jungen Chemikers beim Aufklären der Umweltsünden der DDR.

Und möglicherweise war auch genau eine solche Aktion Schuld daran, dass die SED-Führung Ende der 1970er Jahre beschloss, keinerlei Umweltdaten mehr zu veröffentlichen und diese sämtlich zur geheimen Verschlusssache zu machen. In diesem Fall war es eine vertuschte Umweltverseuchung im Elbtal. Aber die Sache mit dem sauren Regen und der massiven radioaktiven Belastung im Umfeld der WISMUT beschäftigte Krause genauso.

Kindheit auf dem Dorf

Einige der Schriften, die er damals vor allem im Rahmen der Kirche veröffentlichte, die diese Umweltsünden der DDR beschreiben, hat er als Textmaterial auf seiner Website bereitgestellt. Da kann man heute lesen, was die DDR-Funktionäre versuchten zu verschleiern. Auch die Ursachen und Folgen des Reaktorunglücks in Tschernobyl 1986 fanden so zur aufklärenden Drucksache.

Aber Joachim Krause beginnt nicht mit den Abenteuern seines Berufslebens und in der Umweltbewegung, sondern mit den wirklichen Anfängen – seinen frühesten Erinnerungen als Kind einer Pfarrersfamilie in der Nachkriegszeit. Das ist natürlich verdammt lang her.

Und wer in seinem Alter ist, weiß es, wie sehr selbst die Zeit von 1946 bis zu Stalins Tod heute schon Geschichte ist. Ganz tief verbuddelt. Und damit ist nicht nur gemeint, was da politisch passierte, sondern wie das konkrete Leben damals aussah für einen kleinen Jungen. Da muss so Mancher erst mal lange nachdenken, bevor er wirklich lebendige Erlebnisse aus seinen ersten sieben Lebensjahren findet in seinen Erinnerungen.

Und das ist auch mit der „Dorfkinderzeit“ in Schönberg in Meerane nicht anders, die Krause 1953 bis 1961 erlebt hat. Als würden markante politische Ereignisse sein Leben in Kapitel sortieren. Was sie aber nicht wirklich tun. Wie diese Ereignisse – man denke an den Aufstand von 1953 oder den „Mauerbau“ von 1961 – sich dann tatsächlich im eigenen Leben niederschlagen, merkt man für gewöhnlich erst später, wenn der Groschen fällt und seltsame Vorgänge in der eigenen Nachbarschaft und Verwandtschaft auf einmal erklärlich werden.

Markanter sind nun einmal die Einschnitte durch die Schulzeit, die ersten Jahre in der tatsächlich noch kleinen und überschaubaren Dorfschule und das Kinderleben auf der Straße, beim Kirschenklauen, Indianerspielen und Streichemachen hinterm Dorf. Und anfangs, so stellt Krause fest, hatte er gar nicht damit gerechnet, dass er sich an so viele Episoden aus seinem Leben würde erinnern können.

Was gibt dem Leben einen Sinn?

Rund 200 Episoden hat er gezählt, die er erzählt hat. Natürlich nicht alle aus der Kindheit. Aber da er sie tatsächlich als Episoden erzählt, entsteht etwas, was man so als Erinnerung in der Regel sonst nicht zu lesen bekommt. Denn natürlich schafft sich ja der Mensch in der Regel eine Lebenserzählung, die das Erlebte und Ausgestandene in einen halbwegs logischen Erzählstrang fasst. Auch wenn dahinter eigentlich eher Zufall, Holperstrecke, Irrungen und Wirrungen stecken. Wir lieben ja geradlinige Erzählungen mit positivem Sahnehäubchen. So möchten wir unser Leben gern erzählen.

Aber so läuft es selten. Am Ende deuten wir das Geschehene aus dem Ergebnis. So, wie es auch die meisten Historiker mit dem Tummelplatz Geschichte machen. Sie können nicht anders. Geschichten sollen immer einen Sinn haben. Also wird einer hineingedeutet. Und starr dran festgehalten, auch wenn die Fakten nicht ganz passen.

Natürlich hat auch Krauses Leben so einen Spannungsbogen. Aber indem er mit Kindheit und Jugend beginnt und Episode um Episode erzählt, die ihm noch in Erinnerung ist, wird auch deutlicher, wie es ihn dorthin getrieben hat, wo er am Ende tätig war. Wie auch hilfreiche Menschen ihm Wege eröffneten, die ihm als Pfarrerssohn eigentlich nicht offengestanden hätten.

Eine Ebene, die er ganz bewusst auch diskutiert. Denn für etliche der bis dahin so eifrig angepassten Ostdeutschen war ja der Herbst 1989 ein Aufbruch mit Euphorie und Goldglanz in den Augen. Die Erinnerungen wurden genauso eifrig auf den Müllplatz verfrachtet wie die alten Möbel, die man nun eiligst aus dem Katalog ersetzte. Mit dem Ergebnis, dass eine der nie öffentlich getragenen Parolen 1990 lautete: „Schwamm drüber und vergessen.“ Mit fatalen Folgen.

So kann man zwar mit Hausrat umgehen, aber nicht mit der eigenen Geschichte. Mit der eigenen Zukunft schon gar nicht. Man staunt, dass alle Themen, die uns heute in Klima- und Umweltpolitik noch immer beschäftigen, auch in der späten DDR schon diskutiert wurden. Sogar den ersten Bericht des Club of Rome hat sich Krause damals besorgt und ihn emsig kopiert für alle Interessenten.

Und es stimmt ja: Auch in der DDR wurde über die absehbaren Grenzen des Wachstums und die fatalen Folgen des falschen Lebensstils diskutiert. Ein Lebensstil, der auch in der DDR auf Kosten von Umwelt und Gesundheit „erwirtschaftet“ wurde.

Wissen wollen, wie die Dinge sind

Nur öffentlich reden sollte keiner darüber. Selbst wenn es im Chemiedreieck um Leipzig zum Himmel stank und die Luft in den Kurorten des Erzgebirges die Qualität eines hochbelasteten Industriegebietes hatte. Und sogar seine erste Arbeitsstelle beschäftigte sich mit den massiven Schäden durch die giftige und aggressive Luft, die auch den besten Korrosionsschutz auffraß und Stahlkonstruktionen binnen weniger Jahre abrissreif machte.

Natürlich begegnet man auch dem jungen, von Partys begeisterten Menschen, der bei Radio Luxemburg die erste Musik fand, die ihn begeisterte. Man erlebt Krause mit seinen ersten Fahrgeräten, erlebt ihn beim Reparieren alter Autobahnen aus der Hitlerzeit, bei „Russenjagd“ und Röntgenreihenuntersuchung. Man erlebt quasi die Kollektivierung der Landwirtschaft aus der Sicht des Jugendlichen mit und die damals noch ganz selbstverständliche Selbstversorger-Mentalität auch im eigenen Haushalt.

Wer das heute aus der Sicht einer gut beheizten Etagenwohnung heraus liest, merkt erst einmal, wie massiv der Lebensstandard auch der Ostdeutschen gestiegen ist. Und zwar schon seit den 1950er Jahren, auch wenn es viele Produkte auch noch Jahrzehnte später nur als Mangelware gab. Bückware, wie das damals hieß. Wobei Krause wohl berechtigt anmerkt, dass vieles schlichtweg Ergebnis falscher Verteilung und Organisation war.

Im Grunde war ja die DDR ein einziges Experiment, das bewiesen hat, dass eine allumfassende Planwirtschaft für ein Land einfach nicht funktioniert. Dass es eben die unternehmerische Freiheit der Menschen braucht, um tatsächlich alle Löcher zu stopfen und die Grundversorgung zu sichern.

Man merkt schon, dass dieser Bursche seine Umwelt immer mit den neugierigen Augen des Wissenschaftlers betrachtet hat, der wissen wollte, wie die Dinge wirklich funktionierten. Und gelernt hatte zu improvisieren – wie bei den pfiffig organisierten Urlauben im Zelt an der Ostsee oder der Beschaffung interessanter Lektüre aus dem Westen.

Wenn ein Federstrich genügt …

Und natürlich lässt er all die Situationen nicht weg, in denen er und seine Freunde die Staatsmacht herausforderten und die Grenzen der Widerborstigkeit austesteten – am liebsten den Zoll, wenn ihm mal wieder wichtige Lektüre beschlagnahmt worden war. Die Stasi taucht da natürlich auch auf in all ihrer Borniertheit. Denn sie war gestrickt, wie nun mal der Geheimdienst eines Systems mit Allmachtsanspruch gestrickt ist: Wer sich nicht als glühender und angepasster Parteigänger erweist, wird im Federstrich zum Feind. Wahrscheinlich der Moment, der diesem Land am Ende tatsächlich jedes Vertrauen gekostet hat.

Aber dieses Misstrauen wurde ja schon früh implementiert. Krause erinnert sich an das damals verpflichtende Hausbuch, an den ABV oder die Rückkehr der Nachbarn, nachdem sie in die Mühlen der stalinistischen Justiz geraten waren. Die legendären Kartoffelkäfer bekommen ihr Kapitel genauso wie die heute fast verschwundenen Maikäfer. Und natürlich spielt auch der Prager Frühling eine Rolle, der auch für Joachim Krause so etwas war wie der glühende Traum daran, dass es tatsächlich einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz geben könnte.

Sein Glück, dass er sich dem Wehrdienst in der DDR entziehen konnte. Ein Freund lag dafür mit scharfer Munition in Bereitschaft nahe der Grenze zur ČSSR.

Aber natürlich ist man in diesem Alter schon aufgeschlossen auch für die Politik, begreift, dass einen die Spiele der Mächtigen eben doch angehen und dass man für sich selbst immerfort Entscheidungen treffen muss, mit denen man sich dann im Spiegel noch in die Augen schauen kann. Können sollte, kann man sagen.

Dass dazu auch Übermut und uneinschätzbares Risiko gehören, zeigen Szenen aus dem polnischen Gebirge und von wagemutigen Schwimmausflügen in der Ostsee. Es hätte auch schiefgehen können. Aber auch das gehört zum Leben. Die Wenigsten sind von Anfang an vernünftig und meiden jedes Risiko oder gar den Versuch herauszubekommen, was man sich im Leben alles zumuten kann.

Wenn die Schöpfung geschützt werden muss

Dass Krause dann in den 1970er Jahren im Umfeld der Weinberg-Gemeinde und der Biermann-Ausbürgerung intensiver über gesellschaftliche Konzepte nachdenkt, lag zumindest für einen Teil der damals jungen Menschen nahe. Bei Krause kam dann sowieso noch die Prägung durch das christliche Elternhaus hinzu. Und unterm Schutz der Kirche konnte wenigstens all das diskutiert werden, was von Staats wegen nicht gesagt werden durfte. Und der Schutz der Schöpfung war für den jungen Mann elementar.

Wie hartnäckig ihm die Stasi die ganze Zeit im Nacken saß, erfuhr er dann nach 1990 aus den Akten. Trotzdem betrachtet er sich nicht als Helden, fragt auch danach, wie weit sein Mut eigentlich reichte und ob er manchmal nicht einfach nur Glück hatte, sodass er nicht für ein paar Jahre im Knast landete. Wo man ja mit fadenscheinigen Begründungen sehr schnell landen konnte, wenn es den Mächtigen so einfiel.

Die bedrückte Stimmung in den Texten der besten Bands kam ja nicht von irgendwoher. Es war genau die Stimmung, die in „Am Abend mancher Tage“ spürbar wird. Und die man auf Partys und in Freundeskreisen erleben konnte. Fast gar nicht mehr im Bewusstsein ist der konziliare Prozess in der Kirche der DDR, der 1989 schon alle die Themen benannte, die heute noch immer ungelöst sind – von den Problemen der Kernenergie bis hin zum nötigen Ausbau der regenerativen Energien.

Aber das war ja dann nach der deutschen Wiedervereinigung alles nicht mehr so wichtig … Und so lässt Krause noch einige sehr deutliche Texte aus seinen „Jahresbriefen“ folgen, mit denen er Freunde und Verwandte jedes Jahr darüber informierte, was Wichtiges in seinem Leben passiert ist – und welche Gedanken er sich über die Welt und die Weltereignisse gemacht hat. Am Ende auch über Corona. „Manchmal komme ich mir wie in einer Zeitschleife gefangen vor“, schreibt er da z.B. „Hatten wir das nicht alles schon mal, die sich auf- und abschaukelnden Krisensymptome, die Meinungsäußerungen der Warner und der Beschwichtiger …“

Da kann man schon ins Zweifeln kommen, ob sich da das ganze Engagement eigentlich lohnt für eine bessere Welt, wenn dann doch wieder „National-Größen-Wahn“ regiert und Vergessen und Verdrängen bei so vielen zur Gewohnheit geworden sind.

Gib nicht auf

Auch da lässt er den Lift-Song anklingen. Samt der Sorge, dass die „ganze westliche Zivilisation nur eine verletzliche dünne Haut“ ist, unter der das „Urtümlich-Brutale“ brodelt. Er endet trotzdem mit „fröhlichen Grüßen“ und Ermunterung zum Unruhestiften. Auch in eine Zeit, die sich ganz unübersehbar deutlich von jenen geradezu kärglichen Jahren unterscheidet, in denen der Autor seine Kindheit verbracht hat.

Manchmal muss man sich gerade deshalb an die Episoden seines Lebens erinnern, um sich überhaupt noch gewahr zu werden, wie viel sich in diesen Jahrzehnten tatsächlich verändert hat. Nichts bleibt so, wie es war. „Gib nicht auf, denn das kriegst du wieder hin.“

Ob seine Erinnerungen ganz und gar stimmen, stellt Krause im Vorwort trotzdem infrage, ob sich da seine Erinnerungen mit den Erzählungen anderer vermengt haben. Aber das Meiste hat er wohl so oder so ähnlich tatsächlich erlebt. Und gerade weil er es in Episoden erzählt, ist sein Buch auch eine Anregung für alle Leser, vielleicht selbst einmal anzufangen, die erinnerten Episoden des eigenen Lebens aufzuschreiben. Und sei es nur für Kinder und Enkel. Denn was man aufgeschrieben hat, kann man nicht vergessen.

Und von den heute lebenden Generationen wird man auch keine Briefe und Tagebücher mehr auf dem Dachboden finden, wie es Joachim Krause mit den Hinterlassenschaften seiner Eltern ging, die er in seinem Buch „Fremde Eltern“ aufgearbeitet hat. Und auch der Stoff von „Im Glauben an Gott und Hitler“ stammt aus solchen schriftlichen Hinterlassenschaften. Im Grunde ist Krauses Spurensuche eine stille Aufforderung an alle, die noch nicht so richtig glauben, dass ihre Erinnerungen einen Wert haben könnten.

Haben sie aber.

Joachim Krause „Am Abend mancher Tage“, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2023, 15,90 Euro.

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