Stipendien fรผr Autoren sind eine Herausforderung. Auch wenn sie erst einmal wie ein herrliches Geschenk wirken, das einen Leipziger Autor wie M. Kruppe mitten in einer Phase auch der finanziellen Niedergeschlagenheit erwischt. Wie wรคre es mit einem vierwรถchigen Schriftstelleraufenthalt in Tampere in Finnland? Jetzt gleich. Mitten im Winter. Und er hatโ€™s getan. Und nicht nur das: Er hat ein dickes Buch darรผber geschrieben.

Was ganz und gar nicht รผblich ist. Die meisten solcher Residenzen gibt es ja, damit Autorinnen und Autoren mal wirklich eine Auszeit bekommen, in der sie an ihren aktuellen Buchprojekten schreiben kรถnnen. Denn die wenigsten sind so erfolgreich, dass sie ganz und gar vom Schreiben leben kรถnnen und sich deshalb ihre Arbeitsbedingungen selbst schaffen kรถnnen. Die meisten mรผssen einem bรผrgerlichen Brotberuf nachgehen oder auf mehreren Bรผhnen tanzen โ€“ so wie M. Kruppe, der mit mehreren Bรผhnenprogrammen unterwegs ist und noch als Moderator und Organisator von Kulturevents in Sachsen, Thรผringen und Sachsen-Anhalt beschรคftigt ist. Und nebenbei auch noch im Internet aktiv.

Vater zweier Tรถchter ist er auch noch. Und seine Freundin lernen wir auch gleich kennen, beim Abschied auf dem Leipziger Hauptbahnhof. รœberhaupt wird es schnell sehr persรถnlich. Hier ist einer nicht als unbeteiligter Beobachter unterwegs. Auch wenn man natรผrlich nicht wissen kann, wie sehr er den Stoff literarisch verarbeitet und verfremdet hat. Denn geschrieben hat er das 400-Seiten-Kompaktbรผchlein ja nach seiner Reise โ€“ im warmen Sommer 2022 mit offenen Fenstern, wรคhrend in der Nรคhe die Leute frรถhlich schwatzend in den Freisitzen saรŸen und ihn allein die Gerรคuschkulisse schon lockte, selbst da rauszugehen und โ€žwas zu erlebenโ€œ.

Schรผchterheit und Teufel Alkohol

Aber dazu war dann Tampere wohl doch zu einschneidend. Was im Untertitel klingt wie lauter frรถhliche Nรคchte in den Kneipen der finnischen Stadt, ist fรผr den in einer durchaus komfortablen Hรผtte wohnenden Autor vor allem eine Begegnung mit sich selbst. Oder den drei Stimmen, die sich in seinem Kopf streiten. Was auch so mancher Mitmensch nur zu gut kennt. Auch dann, wenn man mit Freuds Theorie vom รœber-Ich nicht viel anfangen kann.

Aber gerade die Nรผchternen und Schรผchternen unter uns kennen diese Streitgesprรคche im Kopf, die Stimmen der Bedenkentrรคger, der Unzufriedenen, der ร„ngstlichen, die sich da melden, wenn Entscheidungen zu treffen sind. Oder man sich tapfer entschieden hat und dann trotzdem die Zweifel streiten im Kopf.

In seinem Buch hat M. Kruppe etliche dieser Trialoge aufgezeichnet, die ein wenig ahnen lassen, wie es im Kopf eines aufmerksamen Menschen aussieht, der nicht einfach nur mit Scheuklappen durch die Welt rennt und รผberzeugt davon ist, immer alles richtig zu machen.

Dass das auch Probleme mit sich bringt, thematisiert Kruppe natรผrlich auch. Auch wenn er die Reise nach Finnland augenscheinlich souverรคn meistert โ€“ auch das Zurechtfinden in einem Land, dessen Sprache ihm auch bis zum letzten Tag noch verschlossen bleibt. Zum Glรผck beherrschen manche Finnen Englisch und er kommt sogar mit einigen ins Gesprรคch, die er zufรคllig โ€“ etwa an der Bushaltestelle โ€“ trifft.

Abgesehen von den vielen Begegnungen, die das Deutsche Kulturzentrum Tampere organisiert hat. Denn auch wenn er sich als schรผchtern beschreibt und seine Erfahrungen mit Depression nicht unerwรคhnt lรคsst, ist er kein verschlossener Mensch. Er liebt gerade die Gesprรคche nach seinen Auftritten, das โ€žFeiernโ€œ mit Menschen, die sich bei Alkohol nรคchtelang bestens unterhalten kรถnnen.

Der Mut zum eigenen Weg

Er fasst sich selbst auch nicht mit Samthandschuhen an. Er ist nicht einfach nur weggegangen aus dem Nest in Thรผringen, in dem er aufgewachsen ist, das er in โ€žGeschichten vom Kaff der Guten Hoffnungโ€œ beschrieben hat. Denn man geht nicht einfach so weg. Und man gerรคt auch nicht zufรคllig in die Clique Jugendlicher, die sich bewusst auf dem Marktplatz versammeln, um ihren Protest gegen eine konservative Mitwelt zu zeigen.

Die Szene mit einem aufmerksamen Professor wird dabei sehr markant, der diesen belesenen Herrn Kruppe nur zu gern mit einem Stipendium an seine Hochschule geholt hรคtte. Aber Kruppe wollte nicht, wollte sich nicht Zwรคngen fรผgen, die er innerlich nicht akzeptieren kann.

Da wird man dann entweder in einer Kette von Jobs landen, in denen man irgendwie notgedrungen Geld verdient, aber nicht wirklich glรผcklich wird. Oder man entscheidet sich irgendwann zu einer Selbststรคndigkeit als Kรผnstler, wie es Kruppe getan hat. Mit allen Risiken, die gerade die freischaffenden Kรผnstler in der Corona-Zeit allesamt erlebt haben. Da standen sie reihenweise ohne Auftritte und Vertrรคge da. Und damit ohne Einnahmen.

Doch das Eigentliche war nicht weg. Und Kruppe bringt es immer wieder in seinen Geschichten aus Tampere unter. Manchmal genรผgen ganz einfache Erlebnisse und seine Gedanken schweifen ab, bringen Erinnerungen aus Kindheit und Jugend ins Spiel. Und eben die oben erwรคhnten Dialoge der streitenden Parteien im Kopf, die jeder kennt, der mit Zweifeln und einem angekratzten Selbstbewusstsein durchs Leben geht. Mancher versucht das mit Alkohol zu glรคtten, was augenscheinlich auch dem Protagonisten so ging.

Denn das Finale seines Buches ist eine groรŸe, fast wรผtende Klage รผber die verheerenden Folgen einer Alkoholabhรคngigkeit, die ja fรผr viele Menschen aufs engste mit Geselligkeit, Euphorie und Selbstbewusstsein zusammenhรคngt.

Erfolg ist nicht gleich Liebe

Dass Alkohol aber gar nicht hilft, das eigene, angekratzte Selbstbild zu sichern, merkt dieser Tampere-Reisende auf einmal bei einem unerwarteten Gesprรคch im Pub, bei dem ihm ein zotteliger Sachse, der der Liebe wegen nach Finnland gezogen ist, erklรคrt, worum es eigentlich geht. Es ist nicht die erste Szene in diesem Buch, in der sich Kruppe mit sich selbst und seinem Selbstbild konfrontiert sieht. Aber wohl so etwas wie die Schlรผsselszene dafรผr, dass er im Nachhinein seine Residenz in Tampere unter einem Titel wie โ€žWendepunkteโ€œ subsumiert.

Er ist zwar auf seine Art erfolgreich als Autor, Moderator und Event-Macher. Aber dass man sich auch deshalb in ein derart aufreibendes Leben stรผrzen kann, weil man glaubt, sich nur so Anerkennung und Liebe zu verdienen, entpuppt sich auf einmal als ganz und gar schlechtes Argument. Liebe kann man sich nicht verdienen, auch wenn einem diese von Anerkennung und Prestige besessene Gesellschaft das permanent einredet.

Kruppes Gesprรคchspartner reibt es ihm geradezu genรผsslich unter die Nase: โ€žDu denkst, du musst sie dir erarbeiten, die Liebe. Du glaubst, dass Liebe etwas ist, das man sich verdienen muss. Deswegen ackerst du wie ein Bekloppter und fรผhlst dich auch noch gut dabei, habโ€™ ich recht? Eigentlich bist du ganz leicht zu durchschauen.โ€œ

Und selbst wenn diese Szene so gar nicht passiert sein sollte: Es steckt eine Menge Wahrheit drin. Und natรผrlich auch das Aha-Erlebnis, das Kruppe im Nachhinein seinen Aufenthalt in Tampere mit anderen Augen sehen lรคsst. Er schreibt zwar am Ende noch eine Ode an Tampere, das er unbedingt wiedersehen will โ€“ mรถglichst im Sommer. Aber tatsรคchlich war die vierwรถchige Residenz mit den langen Nรคchten โ€“ meist allein in der Hรผtte, mit jeder Menge Bier โ€“ eine Begegnung mit den eigenen Unsicherheiten. Und eben mit der Frage, warum der Mensch eigentlich tut, was er tut. Und warum scheinbar selbstverstรคndliche Dinge manchmal so kompliziert und widersprรผchlich erscheinen.

Geht es gar nicht anders als mit all den Widersprรผchlichkeiten im Kopf, die einen wahnsinnig machen kรถnnen, wenn man wirklich kreativ sein will? Tut man es wirklich des Publikums wegen, des Applauses oder gar einer erhofften Liebe wegen?

Die Stille und der Lรคrm

Lebt es sich vielleicht leichter, wenn man gar nicht erst anfรคngt, die Verhรคltnisse infrage zu stellen und sich einfach der Fรผhrung anderer รผberlรคsst? Aber wirklich glรผcklich sehen ja die Menschen nicht aus, die immerzu versuchen, den Erwartungen anderer zu genรผgen und sich immerzu fรผhren zu lassen. Von Normen, Regeln, Vorgesetzten. Auch darรผber denkt er nach. Die langen Nรคchte in Tampere regen ihn geradezu dazu an.

Selbst die Stille, die ihn einhรผllt, und die er so aus Leipzig nicht kennt. Eine Stille, die augenscheinlich fรผr eine seiner Vorgรคngerinnen geradezu angsteinflรถรŸend war. Denn betรคuben wir uns nicht mit lauter Lรคrm, weil wir der Natur schon lรคngst entfremdet sind und nur noch Angst haben, unserem eigenen โ€“ durchaus zerstrittenen โ€“ Ich zu begegnen?

Es wird immer wieder so nachdenklich in Kruppes Erzรคhlung. So manches Vorurteil รผber โ€ždie Finnenโ€œ kann er frohen Herzens korrigieren. Andere bestรคtigen sich โ€“ aber meist auf รผberraschende Weise. Und oft genug, nachdem der Autor erst einmal mit groรŸer Erzรคhlfreude in seine eigene Vergangenheit abgetaucht ist, um zu erklรคren, warum er auf manche Dinge so verstรถrt reagiert.

Denn natรผrlich sind wir, was wir geworden sind. Und was da in frรผher Kindheit und Jugend schiefgelaufen ist, unausgesprochen blieb und unerzรคhlt, das meldet sich natรผrlich immer genau dann zu Wort, wenn es wirklich um Leben und Liebe geht. Da hilft dann Alkohol ganz bestimmt nicht, betรคubt eher und erzeugt ein falsches Hochgefรผhl.

Fรผr wen schreibt man eigentlich?

So gesehen ist dieses Buch รผber einen dicht gepackten Residenzaufenthalt mitten im finnischen Winter vor allem das Buch einer Selbstbegegnung, in dem der Autor auch mit sich selbst nicht gerade schonend umgeht. Und man trifft auf Bekannte aus jener Leipziger Szene, in der das (nรคchtliche) Leben brodelt. David Gray etwa, Krimiautor und LZ-Kolumnist, mit dem Kruppe seit einer durchaus unerhรถrten Begegnung eine Freundschaft verbindet. Genauso wie mit Outbird-Verleger Tristan Rosenkranz, der ihn in einer dieser finnischen Nรคchte anruft, weil Mitherausgeber Peter Peukert gestorben ist.

Und dass ausgerechnet wรคhrend dieses Tampere-Aufenthalts Wladimir Putin seine Truppen in die Ukraine einmarschieren lieรŸ, konnte Kruppe auch nicht ahnen, als er beinah zu spรคt zum Flieger nach Helsinki eilt. All das widerhallt in seiner Geschichte, in der man eben auch merkt, dass er trotzdem ein geborener Erzรคhler ist, auch wenn er mit dem Titel โ€žSchriftstellerโ€œ hadert und lieber โ€žnurโ€œ Autor sein will.

Aber eigentlich ist es ein Geschenk, wenn einer so gut erzรคhlen kann, dass das Publikum gern und begeistert zuhรถrt. Genauso wie Applaus danach ein Geschenk ist, auch wenn es nicht die Liebe ist, die ihm seine Kneipenbekanntschaft Bolle versucht klarzumachen. Aber irgendwie macht das einer wie Kruppe eben doch nicht nur fรผr sich, dieses EntblรถรŸen und sich selbst Auseinandernehmen. Er tut es auch fรผr andere. Vielleicht sogar mit Liebe. Jedenfalls mit viel Vertrauen. Denn dass ihm die Begegnung mit sich selbst oft gewaltigen Kummer macht, verhehlt er nicht.

M. Kruppe โ€žWendepunkte. Lange Nรคchte in Tampereโ€œ, Edition Outbird, Gera 2022, 15,90 Euro.

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