2020 taten sich drei zusammen, die natürlich zusammengehören, weil sie sich mit demselben Thema beschäftigen: der Geschichte der Stadt Leipzig. Das waren das Stadtgeschichtliche Museum, das Stadtarchiv und der Leipziger Geschichtsverein, der bis 2019 schon ein Jahrbuch „Leipziger Stadtgeschichte“ herausgegeben hatte. Aber warum allein strampeln, wenn drei ihre Kräfte bündeln können? Das haben sie mit dem ersten gemeinsamen Jahrbuch Ende 2021 auch getan.
Und natürlich versammelte es wieder Beiträge, in denen sich Leipziger Forscher/-innen mit den Themen beschäftigen, die sie besonders interessierten und die – jeder für sich – wieder Lücken füllen in der Leipziger Geschichtsschreibung. Denn dessen sind sich ja gerade all die Autorinnen und Autoren besonders bewusst, die an der großen, vierbändigen Stadtgeschichte beteiligt waren, deren vierter Band 2019 erschien. Erst wenn man 1.000 Jahre Stadtgeschichte wirklich systematisch angeht, merkt man, auf wie vielen Forschungsfeldern noch enormer Nachholbedarf ist.
Aber auch, wie sehr die klassische Geschichtsschreibung gerade die spannendsten Themen ausgeblendet hat. Etwas, was Thomas Fuchs thematisiert, wenn er in diesem Band das Buch „Karl Lamprecht. Das Leben eines deutschen Historikers“ von Roger Chickering bespricht. Denn der Leipziger Universitätsprofesser Lamprecht war ja in den Methodenstreit der deutschen Historiker um 1900 verwickelt und vertrat deutlich eine Position, die von der damals bevorzugten Staats-Geschichtsschreibung abwich. Und damit war er moderner und wegweisender als die damals dominierende Historikerzunft.
Alten Legenden den Stecker ziehen
Und eben das machen auch die Beiträge in diesem Jahrbuch deutlich, die – so betrachtet – ganz in der Tradition Lamprechts stehen, wenn sie sich z.B. mit den Grundsteinlegungen von Leipziger Kirchen beschäftigen, dem Schicksal sich wieder verheiratender Witwen, dem Gottschedschen Adress-Kalender oder dem Verbot der LVZ im Jahr 1920, das in der eigenen Jubiläumsbetrachtung der Leipziger Volkszeitung überhaupt nicht vorkam. Christian Schrödel beendet seinen Exkurs in dieses von Anfang an politisch motivierte Vorgehen mit dem Satz: „Während der Feind von links bekämpft wurde, formierten sich bereits die rechtsgerichteten Putschisten, um im März 1920 loszuschlagen.“
Ein nicht unwichtiges Kapitel in der Geschichte der Weimarer Republik.
Einen sehr großen Exkurs zur Geburt der Verlagsstadt Leipzig unternimmt in diesem Band Mark Lehmstedt, der genüsslich auch einige der immer wieder kolportierten Märchen auseinandernimmt, die über den Spätstart der Buchstadt Leipzig im 15. Jahrhundert lamentieren. Dabei zeigt er sehr ausführlich, was Leipzig schon früh zum Standort für Buchdrucker, Illuminatoren und Verleger machte. Und die Stadt tatsächlich schon früh in die Liga der europäischen Verlagsstädte katapultierte. Wobei die seit 1409 in Leipzig heimische Universität eine ganz zentrale Rolle spielte.
Die Autoren und Autorinnen des Bandes nutzen natürlich auch die Gelegenheit, offene Fragen zur Leipziger Geschichte zu diskutieren, die einfach nicht abschließend beantwortet sind. So wie Friedemann Meißner, der alle derzeit verfügbaren Quellen zum Verbleib der Gebeine aus der Universitätskirche St. Pauli zusammengetragen hat, die 1968 gesprengt wurde. Michael Ruprecht würdigt das in Cambridge aufgefundene Exemplar eines Amtsbuches des Leipziger Thomasklosters aus den Jahren 1480 bis 1504. Ulrike Dura widmet ihren Beitrag dem meist nur als Stiefvater von Richard Wagner erwähnten Ludwig Geyer, der zu seiner Zeit auch ein gefragter Porträtmaler war.
Zwei Gemälde, die das Stadtgeschichtliche Museum endlich erwerben konnte, erzählen davon. Beatrix Heintze kann anhand eines aufgefundenen Briefwechsels aus Reutlingen die Biografie des Leipziger Unternehmers Walter Cramer ergänzen, der zum Widerstandskreis um Carl Friedrich Goerdeler gehörte und von den Nazis hingerichtet wurde. Und Tony Pohl kann auf ein erstaunlich großes Konvolut alter Planungen und Architekturskizzen im Hochbauamt der Stadt verweisen, das die Baugeschichte des Leipziger Zoos vor dem Zweiten Weltkrieg nachvollziehbar macht.
Geschichte wird von Menschen gemacht
Es sind genau solche kleinen und großen Fundstücke, die den Lesern des Jahrbuchs zeigen, wie sich Leipziger Geschichte aus vielen Fragmenten und Puzzle-Steinen zusammensetzt und wie neu gesichtete oder überhaupt erst wieder auftauchende Funde dabei helfen, offene Fragen zu klären und Lücken zu schließen.
Indem sich Geschichtsverein, Stadtmuseum und Stadtarchiv zusammengetan haben, kann diese Weitererkundung Leipziger Geschichtsaspekte nun auf festerem Fundament fortgesetzt werden. Die Forschung hat ein niveauvolles Periodikum bekommen. Und auch für die Würdigung Leipziger Persönlichkeiten ist Raum, wie etwa für die Leipziger Historikerin Brigitte Richter, die 2021 verstorben ist. Aber eigentlich auch für die einstige Leiterin der Kalinin-Mensa der Uni Leipzig, Lucie Hahn, deren Wirken in den Arbeiten etlicher Leipziger Autoren ihren Niederschlag gefunden hat.
Denn natürlich machen Menschen Geschichte. Und zwar nicht nur auf der viel zu lange allein gepflegten Staatsebene, wo sich die dekorierten Herren in Frack und Uniform tummelten, während viel zu lange einfach ignoriert wurde, wie sich Geschichte im regionalen und kommunalen Kontext verwirklichte. Und wie auch die dort tätigen Menschen die Welt formten. Oft nachhaltiger und wirksamer als so viele politische Würdenträger, die nur deshalb in den Annalen landeten, weil sie irgendein honoriges Amt besetzten.
Und gerade die beiden biografischen Würdigungen und auch der Blick auf die „Heiratenden Witwen“ zeigt, dass es ja auch lange regelrecht ignorierte Bevölkerungsgruppen gab, denen die Forschung sich erst in den letzten Jahren wirklich zugewendet hat – die Frauen zum Beispiel.
So ein Jahrbuch veraltet nicht. Im Gegenteil. Wer anfängt, das nun auch würdig im Festeinband erscheinende Jahrbuch zu lesen und zu sammeln, bereichert sein Wissen um Leipziger Geschichte und wird jedes Jahr in neuer Lieferung erstaunt feststellen, wie viele Aspekte eigentlich erst das Leben in einer Stadt ausmachen, die von ihren Bürgern immer neu „erfunden“ wird und sich permanent verändert. So verändert, dass viele alte Legenden sich bei genauerem Hinsehen als genau das entpuppen. Und selbst die fragmentarische Überlieferung zeigt, dass vieles ganz anders war – und am Ende trotzdem viel aufregender.
Markus Cotton, Uwe John, Beate Kusche (Hrsg.) „Jahrbuch für Leipziger Stadtgeschichte, 1. Band 2021“, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2021, 30 Euro.
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