Jugendliche Gewalt nicht nur in Berlin – Ausschreitungen gegen Polizei- und Rettungskräfte – diese Meldungen verdichteten sich in letzter Zeit, besonders zum Jahreswechsel. Zuletzt verschärften sich die Diskussionen über Ursachen, Herkunft der meist männlichen Straftäter und lösten eine politische und gesellschaftliche Debatte aus. Schnell war in konservativen bis hin zu rechten Kreisen vom Scheitern der Integrationspolitik die Rede, verbunden mit der Forderung nach offener Berichterstattung über „Migrantengewalt“.
Nur allzu gern reklamieren wir die besondere Qualität der westlich-aufgeklärten Wertegemeinschaft für unsere deutsche Zivilgesellschaft – frei, offen, tolerant und mitmenschlich – und sehen uns in der Praxis immer stärker potenziellen und tatsächlichen Gewaltformen gegenüberstehen. Jemand, der mit eigenen Jugenderfahrungen in Deutschland der 90er Jahre zu dieser Debatte wohl einiges beizutragen hätte, ist der deutsch-persische Autor Arye Sharuz Shalicar, der seit 2001 in Israel lebt.
Eine bewegte Biografie
Shalicar, 1977 als Sohn persisch-jüdischer Eltern in Göttingen geboren, wächst in Berlin auf. Als er 13 Jahre alt ist, ziehen seine Eltern mit ihm von Spandau nach Wedding, wo er monatelang von muslimischen Jugendlichen antisemitisch angegriffen wird, bis er es schafft, sich in ihre Parallelgesellschaft zu integrieren. Er wird Teil der muslimischen Jugendbandenszene Berlins, u.a. als Mitglied der Black Panthers, und gründet die deutschlandweit berüchtigte Graffitigang Berlin Crime.
Nach Abitur und Wehrdienst entscheidet er sich, Deutschland zu verlassen, um woanders als Jude sicher leben zu können. 2001 wandert er nach Israel aus, wo er zunächst seinen Pflichtdienst in der israelischen Armee leistet. Anschließend nimmt er an der Hebrew University in Jerusalem, der Eliteschmiede des Landes, ein Studium der Internationalen Beziehungen, Nahost-Studien sowie Europastudien auf, das er mit Auszeichnung abschließt. Nach einem Abstecher bei der Jewish Agency for Israel und beim ARD-Studio Tel Aviv zieht es Arye Sharuz Shalicar zurück zum IDF (Israel Defense Forces), wo er 2009 bis 2016 als offizieller Armeesprecher bis in den Rang eines Majors aufsteigt.
Geheimnis um die jüdische Identität
Seit 2017 ist er Abteilungsleiter für Internationales im Büro des israelischen Ministerpräsidenten und ehemaliger Berater des israelischen Außenministers. In seiner 2010 erschienenen Autobiografie „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“ schildert der heutige Autor und Publizist seine Erlebnisse. Die Einschüchterungsversuche, Beleidigungen und körperlichen Angriffe, als er sich zu seiner jüdischen Herkunft bekennt. Da er aus dem Iran stammt, wird Arye Sharuz Shalicar zunächst von den arabischen Jugendlichen als einer „der ihren“ gesehen, selbstverständlich als Muslim, er erhält Sympathie- und Freundschaftsbeweise. Bis er zaghaft beginnt, das Geheimnis um seine Identität zu lüften …
„Am nächsten Tag verbarg ich den Stern erst einmal unter meinem Pullover. Wir saßen vor der ersten Schulstunde auf unseren Plätzen und ich fragte Mahavir, ob er denn immer noch der Meinung sei, dass ich kein Jude sein könne. Er zögerte mit der Antwort. Er hatte offenbar darüber nachgedacht und war sich nun doch nicht mehr so sicher. Er wartete auf den Beweis. Dann würde er wohl seinem ehemaligen guten Freund den Rücken kehren und sich vollkommen von ihm abwenden. Ich zog meinen Davidstern unter dem Pullover hervor. Mahavir sah ihn verdutzt an.“
Ich sah förmlich die Enttäuschung in seinen Augen. „Du bist also wirklich ein Jude! Ein echter Jude!“ (S. 48). Seine Eltern hatten ihn gewarnt, vorsichtig zu sein, sich unter den nichtjüdischen Jugendlichen zu seiner Herkunft zu bekennen. Sie brachten selbst schon antisemitische „Erfahrungen“ nach Deutschland mit – die sie in der iranischen Vergangenheit gemacht hatten. Da galt im „Mahle“ (Ghetto) ein „nasser Hund“ sauberer als ein „trockener Jude“, daher das Zitat im Buchtitel Shalicars.
Von der Straße auf die Karriereleiter
Der gar nicht „jüdisch aussehende“ Arye Sharuz lernt sich in den Berliner Problemvierteln durchzubeißen, sich körperlich zu wehren, Freunde zu gewinnen, denen Religionszugehörigkeit nicht wichtiger als praktizierte Menschlichkeit ist. Shalicar gründet seine eigenen Gangs, wird nach eigenen Worten selbst „soft kriminell“, er sprüht, stiehlt und dealt, landet nach Sozialstunden zeitweise auch im „Jugendknast“. Gehalten wird er von Freundinnen und Freunden, von seinen Eltern allerdings mehrfach aus der Wohnung geworfen.
Ist mit 17 am „Tiefpunkt in seinem Leben“ angelangt. Shalicar begreift, dass er die „Flucht nach vorn“ antreten, sich offen zu seiner jüdischen Identität bekennen muss. In einem später veröffentlichen Buch „100 Weisheiten um das Leben zu meistern – auch wenn du aus dem Ghetto stammst“ merkt man dem inzwischen weltgewandten und erwachsen gewordenen Shalicar an, dass er kritisch mit seiner eigenen Geschichte umzugehen weiß.
2001 für immer angekommen in Israel, gelangt er nach seinem Studium in neue Funktionen (Armeesprecher, Berater des Außenministers) und befindet sich wiederum in neuen, wohl noch schwierigeren Konfliktkonstellationen des Nahen Ostens. Aber dort ist er nicht mehr der „trockene Jude“, der weniger wert ist als ein „nasser Hund“. Ich freue mich darauf, Sharuz Shalicar demnächst persönlich kennenlernen zu können.
Arye Sharuz Shalicar, Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude, dtv Verlagsgesellschaft, München 2021, 10,90 Euro.
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