Bücher verraten eine Menge über ihre Autoren. Zum Beispiel auch darüber, was sie während der Corona-Jahre so getrieben haben, als Lesungen und Messen ausfielen und auf einmal viel mehr Zeit für Dinge da war, die man sonst gar nicht geschafft hätte. Wie zum Beispiel für das Wieder-Lesen der großen klassischen Literatur, die gerade die Stille braucht, um sich entfalten zu können.
So hat es wohl auch Volker Sielaff gemacht und seinen Ovid, seinen Catull, seinen Lessing wieder aus dem Regal geholt. Denn wenn man die schmalen Bändchen aufschlägt und liest, gelingt einem das Gespräch über die Jahrtausende. Was im Fall von Griechenland ja noch viel einfacher ist.
Man kann hinfahren auf all diese Inseln mit den klingenden Namen. Alles ist lokalisierbar. Man steht am selben Meer wie Homer, an derselben Küste wie Catullus. Und es ist, als wären sie eben noch dagewesen. Mit ihren Versen sind sie präsent. Und das auch deshalb, weil sie sich bemühten, das Elementare und Lebendige einzufangen. Situationen, die auch der reisende Dichter von heute wieder erleben kann. Zumindest, wenn er sich ausklinkt aus dem Lärm der Gegenwart und dem touristischen Gebimmel.
Auf Welt-Reise
Sielaff schreibt sehr stille Gedichte. Gedichte, in denen das Weltall zu hören ist. Der Wind, das Rauschen der Wellen, der eigene Atem. Nicht grundlos hat er gleich das erste Kapitel seines neuen Gedichtbands „Grand Tour“ genannt. Das war einst – in Goethes und Lessings Zeit – die Bildungsreise der Jünglinge aus gutem Hause. So lernten sie die Welt kennen und auch größer denken. Sielaffs „Grand Tour“ führt direkt ins alte Griechenland, an die originalen Schauplätze. Schau-Plätze in doppeltem Sinn. Denn wer mit den Versen der antiken Dichter an diese alten Gestade tritt, schaut auch mit ihren Augen. Taucht ein in ihre Bild- und Sprachwelt.
Da fehlt nicht viel, und der Dichter bekommt auf Ithaka tatsächlich einen Zettel in die Hand gedrückt mit dem Weg des Odysseus. Den kann man nachfahren. In der Fantasie oder auch in der Realität. „Der Zettel rührt mich, beglaubigt den Staub an meinen Sohlen.“ So wird einer zu Odysseus. Beinah. Denn was sich auftut, wenn Sielaff sich die Welt des Ovid aneignet, ist die Welt der Dichter, die allen offen steht, die bereit sind, sich blätternd die Welt zu erlesen. Fernab von jedem Trubel, all den Sehenswürdigkeiten (die Sielaff nicht mal der Erwähnung wert sind) oder der touristischen Postkartenblicke, die letztlich nur verraten, dass man ja trotzdem nicht da war. Sich nie eingelassen hat auf die fremde Wirklichkeit.
Fremdheit gilt es auszuhalten und zu entdecken. Dann wird sie sehr vertraut, auch wenn es Sielaff in seinen Gedichten aus den Zeiten der Stille ganz literarisch tut. Wie ein Spurensucher. In „Deutsches Literaturarchiv“ ist es die deutsche klassische Literatur, sind es deren Protagonisten, die er aufsucht, wohl wissend, dass Dichtung zwar hilft, die Welt zu bändigen. Aber jeder tut es auf seine Art. Und: „Auch Dichtung ist Gestammel: / Wir sind mit Delphi verwandt.“ – Das sagt mehr, als es auf den ersten Blick scheint.
Die Faszination des Epigramms
Denn wer so wie Sielaff seine Liebe zum Epigramm entdeckt hat, der weiß auch, wie sehr diese kürzeste Form zur Pointe neigt. Oder zwingt. Oder treibt. Nicht ohne Grund haben Leute wie Catull diese Form geliebt. Sie eignet sich ja auch so schön zu Schabernack und beißendem Spott. Was ja dann in den Epigrammen Lessings und den Xenien von Schiller und Goethe wieder fröhliche Auferstehung feierte. Auch das längst schon wieder reine Literatur-Archäologie. Zeit also fürs Ausgraben und wieder in Nutzung bringen. Den Pferden Zucker geben, wie es Sielaff nach Charles Olson sagt.
Denn wer nun Ausgrabungen erwartet im „Literaturarchiv“, trifft den Autor selbst – auch auf gebirgigen Pfaden mit Eichen und anderem poetischen Gewächs: als Getriebenen. Denn wer wirklich schreiben muss, wem das Schreiben wirklich Lebensinhalt und Bedürfnis ist, der ist ein Getriebener: „Unerbittlich sind sie, die Götter“, schreibt Sielaff in einer Hommage an Hölderlin, „gegen uns Menschen. / Ja, sie geben nie Ruhe: Man muss in einem fort liefern.“
Und damit sind nicht die drängelnden Verleger gemeint. Denn in Sachen Lyrik drängelt keiner, auch kein hochambitionierter Verleger wie Andreas Heidtmann. Er weiß, dass die wirklich Begabten gar nicht anders können: Sie müssen schreiben. Und sie werden in Pandemie-Zeiten eben nicht wie Trauerklöße in der Schmollecke hocken und warten, bis ein gnädiger Minister über seine Schnürsenkel stolpert. Die Eitelkeit der Schmollenden ist ihnen fremd. Sie holen die schmalen Bändchen aus dem Regal und setzen die Zündschnur der Gedanken in Brand. Ab da sind sie Brennende und können nicht mehr anders.
Und sind erst froh, wenn sich das kaum Angedachte auf dem Papier langsam formt zu einem Gedicht. Um dann so nebenbei auch mal verblüffende Entdeckungen zu machen: Auch Sielaff findet sich wieder in der Sächsischen Dichterschule. „Spät geh ich auf / in deiner Sonne, fang an, hämmere, schmiede Verse / derb wie der Cord, den der Dichter Czechowski trug …“
Die Freiheit der strengen Form
Man merkt schon: So ein Epigrammatiker neigt zum Lästern und Übertreiben. Und das ist schön. Es erzählt auch von Abneigung und Hingezogensein. Natürlich ist die sächsische Dichterschule nur ein Konstrukt, auch wenn es ein Sammelband aus dem Poetenladen geradezu wieder zum Maßstab gemacht hat. Einem einzigartigen. So etwas ist in der deutschen Literatur einzigartig.
Es hat mit gestrengen Lehrern zu tun wie dem Leipziger Literatur-Dozenten Georg Maurer – und mit angefixten Schülerinnen und Schülern, die begriffen haben, warum die strenge Form so viel Freiheit bietet und ein hartes Arbeiten an der eigenen Sprache Entdeckungen ermöglicht und Bleibendes. Wer durch diese Schule ging oder ihre Schönheiten für sich entdeckte, der weiß seine Klassiker im Regal zu schätzen. Und zwar nicht nur diesen einen Hölderlin.
Und der merkt irgendwann, wie Sprache zu klingen beginnt, wenn man sie in der kurzen Form beherrscht. Was auch die Japaner und Chinesen begriffen haben. Auch schon vor Jahrhunderten: Die kleine Form zwingt zum genau erfassten Moment. Eine Welt, die Sielaff im Kapitel „Nachtwörterbuch“ anklingen lässt, als er – wohl mal wieder schlaflos in so einer stillen Nacht – ein altes Poesiealbum der chinesische Dichteriun Shu Ting aus dem Regal zieht: „Vorm Fenster die schmale Sichel des Mondes, ein goldener Faden. / Sein Licht drang ins Zimmer herein. Ich las mit anderen Augen.“
Das hätte auch als Motto über all seinen „Würfelspiel“-Gedichten stehen können. Denn wer mit anderen Augen liest und schaut, merkt, wie selbst das scheinbar leichthin Gesagte einen doppelten Boden hat. Das Nicht-Sagbare unsagbar bleibt und am Ende trotzdem in einem Gedicht steckt mit dem vielsagenden Titel „Nichts wissen“: „Wenn abends im Blau die Amsel singt / wird die Welt mir bedeutungsleicht. / Ich will nichts von ihr wissen. / Nicht von der Welt / und nicht von der Amsel.“
Man merkt, wie es ihn in diesen zwei stillen Jahren gepackt hat und er die Freude daran entdeckte, das Nicht-Sagbare in solche Verse zu packen. Das, was unser Welt-Erleben tatsächlich poetisch macht, obwohl die meisten dann eher Mörike- und Uhland-Gefühle bekommen. Und das dann auch gleich noch laut hinausposaunen müssen, weil sie sich letztlich scheuen vor dem stillen Einssein mit der Welt und dem immer neuen Erstauntsein darüber, wie schräg und eigenartig die Realität eigentlich ist. Das eigene Leben sowieso.
Die Erinnerungskiste
Im Kapitel „Opel Kapitän“ räumt er geradezu auf in der Truhe seiner Kindheit, in der auch ein Opel Kapitän steckt, obwohl es den nie gab. Lustvoll zeigt er hier, wie unser Erinnern aus lauter Dingen besteht, die so ganz und gar nicht in die offiziellen Geschichtsbücher passen. Das wissen wir eigentlich. Spüren es auch, wenn uns die großen Bedeutungspropheten wieder und wieder in die schäbigen großen Schubladen zu stecken versuchen, uns einzureden versuchen, was wir bitteschön für ein Leben geführt haben sollen, ihrer dogmatischen Ansicht nach.
Aber Sielaff zeigt, indem er Kleinod um Kleinod aus seiner Erinnerungskiste holt, dass das so nicht stimmen kann, dass wir alle etwas anderes erlebt haben müssen, bewahrt in starken, lebenslang wirksamen Bildern im Kopf. Als kleine Reminiszenz an Christa Wolf gibt es auch ein Gedicht „Kindheitsmuster“, in dem es heißt: „Fahnen blieben mir fremd. / Ich trug kurze Hosen. Ging durch Ährengras, Mäusegerste. / Wie ich die Grashalme liebte! Grillenaugen sahen mich an.“
Auf so engem Raum kann man das alles zusammenpacken – verdichten. Das Fremdgebliebensein in einem Land voller oberflächlicher Symbole. Und die Intensität des tatsächlichen Da-Seins, einer Kindheit, wie sie dann tatsächlich die Grundierung für den wurde, der sich nun erinnert. Und so beiläufig auch ein falsches Bild korrigiert, das die Besserwisser nur zu gern und zu oft immer wieder verbraten, besessen davon, uns das „richtige Leben im falschen“ zu erklären. Als wären sie damals dabei gewesen.
Sind sie aber nicht. Haben auch die Faszination nicht erlebt, die eine Fernsehserie über Francis Drake für den jungen Schüler in der DDR-Schule ausüben konnte. Was dann im Gedicht „Autobiografie“ zum Paradoxon wird: „Die Weltumsegelung interessierte mich mehr als die DDR. / Ich hatte eine schöne Kindheit. Später wurde ich Dichter.“
Geschenke
Oder eben einer, der lernte, Geschenke anzunehmen, die kleinen Dinge, die einen überraschen, die man aufhebt und einsammelt. Mancher sammelt sie für seine Grabbelkiste zu Hause. Mancher für seine Sammlung von Epigrammen. Und es sind Kleinode darunter – das weiß Sielaff, der extra auch ein Kapitel „Geschenke“ benannt hat. In „Blinde Flecken“ zeigt er, wie schnell wir etwas übersehen, wenn wir die Lust am Staunen verlieren – Staunen über die einfachsten Dinge: „Ich habe über so vieles / noch nicht geschrieben. / Weder über die Pinzette noch / über den Heizlüfter.“
Wird das jetzt also ein Heizlüfter-Gedicht? Ganz und gar nicht: „Und bis jetzt nicht ein Gedicht / über die Augen der Augenärztin! / Dabei sind sie so schön. / Sie haben eins verdient.“
Das Kapitel nutzt Sielaff natürlich auch, um seinen Leserinnen und Lesern auch andere Dichter ans Herz zu legen, nicht nur die antiken, Mandelstam zum Beispiel oder Puschkin, deren tragisches Schicksal ihn natürlich aufwühlt. Genauso wie dieser für die Ewigkeit geschriebene Roman von Michail Bulgakow, der mit dem abgetrennten Kopf unter einer Moskauer Trambahn beginnt. Wahlverwandtschaften.
Oder Entdeckungen einer Verwandtschaft, die die wirklichen Dichter weltweit miteinander verbindet. Sie erkennen sich an ihrem Ton und ihrer Genauigkeit, Sprache zu nutzen. Blödes Wort. Genauso falsch wie gebrauchen, verwenden oder bearbeiten. Oder die dämlichste Frage aus allen Schullehrbüchern: „Was wollte uns der Dichter damit sagen?!“
Wenn Schulbuchverfasser und Lehrplanbastler glauben begriffen zu haben, was Dichter in ihren Gedichten sagen wollten, kann man sicher sein, dass sie es nicht begriffen haben. Nicht mal, dass man Gedichte lieber für sich allein liest und in der Stille. Und gerade den kurzen, epigrammatischen Gedichten staunend zuschaut, wie sie sich beim Lesen entfalten.
Beglückende Holzwege
Und wie diese kurzen Gedichte dabei vielleicht sogar anregen, diese ur-kindliche Sicht auf das Bestaunenswerte unseres Hier-Seins wiederzugewinnen. Und sei es auch nur in den kostbaren Minuten, bis die nächste Störung in unser Leben schreit, weil die Ahnungslosen und Unaufmerksamen gar nicht anders können als die Welt mit dem Gefühl aufzupumpen, dass Besinnung, Stille und Staunen nichts zu suchen haben in einer auf Nutzenmaximierung getrimmten Welt. Dabei geht es im Leben nicht um Nutzen.
Wie leicht so eine Einsicht klingen kann, wenn sie Sielaff aufschreibt: „Du sollst die Welt / nicht beglücken. / Nimm lieber / den Holzweg …“ („Naturgedicht“).
Er braucht nicht viele Worte, weil er diese wertvollen zwei Jahre genutzt hat, zu konzentrieren und aufs Eigentliche zu verdichten, was ihm da in den Sinn kam und nach Form suchte. Die eigentliche Emotion bleibt unausgesprochen und steckt trotzdem mitten im Versbruch, in einer unsichtbaren Wendung. Nimm lieber den Holzweg. Da ist der Weg zum Fluss. Da kannst du wieder atmen. Es gibt kein Sollen, dem du folgen musst, nur damit eine gnädige Instanz dir bescheinigt, dass du leben darfst.
Und es gibt viele gnädige Instanzen da draußen. Viel zu viele. Und viel zu wenige Holzwege, auf denen man in die Stille kommt, in der man sich selbst wieder hört. Und die quirligen Gedanken im eigenen Kopf. Und wer ein Dichter ist, der weint über diese selten gewordene Stille. Zumindest so lange, wie der Rasenmähermann seine Zigarette raucht und das Gras so lange unberührt bleibt.
Obwohl man schon in diesem Moment weiß, dass der Lärm gleich wieder von vorn beginnt.
Volker Sielaff „Ovids Würfelspiel“, Poetenladen, Leipzig 2023, 19,80 Euro.
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