Die Corona-Jahre hatten auch Folgen fรผr die Wahrnehmung von Bรผchern. Manches, was da erschien, blieb geradezu unbemerkt, weil reihenweise Lesungen ausfielen, Zeitungen kaum noch rezensieren und ohne Rezension auch Literaturliebhaber meist nicht mitbekommen, was neu erschienen ist. Und manches fand trotzdem zu seinen Leserinnen und Lesern โ€“ so wie der erste Lyrikband der Lyrikerin und Verlegerin Julia Kulewatz aus Erfurt.

Fรผr den haben sich gleich drei Frauen richtig Mรผhe gegeben โ€“ neben der Dichterin, die mit den โ€žSturmgedichtenโ€œ in gewisser Weise auch ihr Credo als Frau in Verse gefasst hat, zugleich Bianca Katharina Mohr, die die Texte gleich ins Englische รผbersetzt hat, und Jantien Sturm, die den Band mit sehr poetischen Bildern illustriert hat.

Bilder, die in kรผnstlerische Sprache รผbersetzen, was auch an Liebesanspruch in diesen Gedichten steckt. Denn im Leben geht es um Lieben und sinnliches Erleben. Weshalb Julia Kulewatz ihr Gedichte am liebsten drauรŸen schreibt, in der freien Natur, unter einem Baum, wo sie dem Lebendigen nahe ist und sich als Teil der belebten Welt erleben kann.

Ein Traum von Arkadien

Das mit dem Sturm ist nicht nur bildhaft gemeint, obgleich die Gedichte natรผrlich vom Bildhaften leben, auch wenn es eben darum keine Naturgedichte im klassischen, romantischen Sinn werden. Eher Gedichte der Emanzipation und des in Worte geflossenen Anspruchs auf das unbedingte Leben. Weshalb die griechische Dichterin Sappho nicht ganz zufรคllig auftaucht, quasi als Muse, die alle anderen Musen ersetzt. Was ja zumindest greifbarer ist als das Anbeten der unnahbaren Musen, die selbst niemals Gedichte geschrieben haben.

Die Landschaft der griechischen Poesie wird aber durch die Gedichte ihrer Dichterinnen und Dichter greifbar. Es sind reale Landschaften, wenn dort von Hyperborea die Rede ist. Das kann man sich aneignen und die ganze verschwundene Welt der Winde, der โ€žMรคhnenmรคnnerโ€œ, die fruchtbaren Tรคler Arkadiens, Sirenengesang und das Versinken an Klippen imaginieren.

Denn was uns treibt, jagt und nimmer ruhend macht, passiert in unserer Fantasie. Da ist alles Sehnsucht, Traum, Angst. Ist die Dichterin da selbst Windkind oder ist es die Geliebte? Wer weiรŸ. Manchmal fรผhlt man sich ja รผberwรคltigt und รผberfordert, weil die Wunderbaren vรถllig mit sich beschรคftigt sind. Die Begegnung: โ€žUmkreist jรคhzornig jauchzend / Sturmschlosses Zinnen, / Wรผtest, Windkind, / An mir โ€ฆโ€œ (โ€žOrkanideโ€œ)

Natรผrlich ist das ein sehr weiblicher Gedichtband. Mal stรผrmisch, mal seufzend, mal witzig โ€“ wie etwa in โ€žMรคnner mit Namen Hansโ€œ. Ein Gedicht, das sich aus bekannten Grรผnden schwer ins Englische รผbersetzen lรคsst, wie Bianca Katharina Mohr erklรคrt. Denn Hans ist nun einmal nicht John oder Jack. Und Hansdampf in allen Gassen so deutsch wie Hans im Glรผck oder Hans-Guck-in-die-Luft. Und da Bianca Katharina Mohr im Nachwort ausfรผhrlich die Schwierigkeiten beim รœbersetzen ins Englische erklรคrt und dabei auch auf die Rolle der รœbersetzerin als Brรผckenbauerin eingeht, merkt man dabei auch ein wenig, dass Sprachen eben auch eine Seele und einen eigensinnigen Charakter haben. In dem natรผrlich Volkes Witz, SpaรŸ und Sentimentalitรคt bewahrt sind.

Scharfe Zungen und Hรคmatome

Natรผrlich ist das so. Weshalb die Anverwandlung Sapphos auch eine Aneignung ist, die zwar einen gewissen Glanz des von Titanen รผbertosten Griechenland in die Thรผringer Berg-und-Tal-Welt holt, รผber die natรผrlich auch der Wind weht. Wenn auch eher selten als Zephir. Und die Welt, in der die Dichterin unterm Baum tatsรคchlich lebt, ist ebenso eine andere. Auch eine, in die eine sperrige Gegenwart hineinragt. So wie in โ€žWirbelloseโ€œ, das man durchaus auch mit dem Beiklang โ€žRรผckgratloseโ€œ lesen kann: โ€žGeschรคrft sind Zungen lรผgenlos. / Nicht der Verstand.โ€œ Oder lese ich das falsch auf all die Leute, die ihren Verstand heutigentags so gern und geรผbt zum Lรผgen benutzen?

Dass das Verhรคltnis zum โ€žLehrerโ€œ nicht ungetrรผbt ist, erzรคhlen ja die folgenden Zeilen: โ€žDas Hรคmatom ist bleibender Eindruck / Ungewollter Berรผhrungen.โ€œ

Ist es das, was man ahnt, allein schon beim Wort Hรคmatom, bei dem man an Generationen von Frauen denkt, die sich โ€žan der Badezimmertรผr gestoรŸen habenโ€œ? Mรถglicherweise. Denn wir stecken ja mittendrin in einer Diskussion รผber das unheilige Fortwesen des Patriarchats, das bis heute Geschichte โ€žmachtโ€œ und Geschichte schreibt โ€“ mit spitzem Stift. โ€žMein Bleistift schreibt โ€šungespitztโ€˜ / In die Blรคtter und / โ€šHeute schreibe ich Geschichteโ€˜ ab.โ€œ

Im doppelten Sinn, wie es eben auch Bianca Katharina Mohr versucht, im Englischen nachzuempfinden, obwohl das Englische fรผr so manche selbstverstรคndliche deutsche Redewendung keine Entsprechung hat. Aber mit unseren Mรคrchen, Sentimentalitรคten und falschen Selbstverstรคndlichkeiten mรผssen wir eben selbst umgehen. Und hinschauen lernen. Und auch sagen kรถnnen, wenn wir merken, wie sehr das Gehabe der Selbstgerechten die Welt kalt und leer macht. So wie in โ€žUmarmendโ€œ: โ€žUnd das Leuchten der Anderen / Ist glatt, kalt und haltlos / um mich gewunden.โ€œ

Kalte Umarmungen

Was man dann wohl das Gegenteil von Umarmung nennen dรผrfte. Obwohl es viele dieser Glatten und Oberflรคchlichen wohl wirklich fรผr Nรคhe und Nettigkeit halten. Zerdrรผckt und ungewรคrmt fรผhlen sich nur die so โ€žUmarmtenโ€œ. Die Armen. Es sind nicht nur Frauen. Es sind auch all die anderen, die zusehen mรผssen, wie die Allesumarmenden dafรผr sorgen, wie unsere arkadische Welt in die Binsen geht. So wie in โ€žGrasnarbenโ€œ: โ€žIm genarbten Grasgewerbe, / das einst โ€šhimmelsferne Heimstattโ€˜ verhieรŸ.โ€œ

Denn wie kann man sich noch eins fรผhlen mit Gras, Baum und Erde, wenn alles verdorrt? Sieht man das nur, wenn man Mitgefรผhl im Herzen hat? Wenn man noch versteht, was das heiรŸt, wenn Mรคchtige mit Menschen wie Puppen spielen, herzlos und gnadenlos? Und dabei entstand auch das Gedicht โ€žCanossaโ€œ natรผrlich vor Drucklegung des Buches 2021.

Aber das Gedicht ist so aktuell wie die Gewalt, mit der ein herzloser Tyrann auf die blutige Ukraine eindrischt. Nur stellt Julia Kulewatz natรผrlich nicht die finsteren Krieger ins Bild, sondern die Leidenden und Ausgelieferten, die meist nur noch die Wahl haben: โ€žWir sind die Gefallenen, / Ihr seid die Gefangenen.โ€œ Ein Chor wie in einer griechischen Tragรถdie. Aber das Denken und Handeln in diesen Tragรถdien โ€“ es ist gegenwรคrtig, wenn die eisigen Tyrannen wieder genauso in ihr Schicksal verstrickt handeln und das Leid รผber die Menschen bringen: โ€žDie Kรถpfe geschoren, / Mut um die Brust, / So fielen wir. (โ€ฆ) Wir sind die Gefallenen, / Ihr seid die Gefangenen.โ€œ

VerschlieรŸt man sich da, verweigert man sich der Trauer, wird man abgestumpft wie so viele Wohlstandsmenschen, die sich sagen: Geht mich nichts an? Die sich wegdrehen und sich nicht gemeint fรผhlen. Die auch nicht, wie in โ€žJemandโ€œ, sagen wรผrden: โ€žNiemand heilt Erinnertes. / Ich halte sorglos Wunden frisch, / damit wir nicht vernarben.โ€œ

Was auch auf den Zustand unserer โ€žWohlstandโ€œ-Gesellschaft zielen kann. Unsere Wegwerfgesellschaft, welche die Dichterin in โ€žSocial Plasticโ€œ mit einem gewissen Sarkasmus beschreibt. Denn so, wie wir die Welt mit Plastik vermรผllen, vermรผllen wir auch unsere sozialen Beziehungen. Das schรถne Wort โ€žEinweg-Trashโ€œ taucht hier auf. Da basteln sich diese seltsamen Weichbodenbewohner zwar โ€žstromlinienfรถrmige Extremitรคten und Panzerโ€œ, werden aber am Ende nichts anderes als โ€žkleine, verbildete Sonderlingeโ€œ, โ€žorientierungslos magnetisch in Mikrodiversitรคtโ€œ.

Die Flucht in die arkadische Natur funktioniert also nicht. Der Platz unterm Baum ist keine Idylle, auch wenn sich dort die Gedichte am ehesten noch einfangen lassen. Aber auch die Erkenntnis kommt mit und lรคsst einen frieren, den die Glatten und Effizienten machen ja einfach weiter, weil niemand sie bremst. Auch nicht der satirische Zauberspruch: โ€žUnd der Algorithmus spricht: / Mensch รคrgere dich nicht!โ€œ

Und wer das Spiel nicht vergessen hat, weiรŸ, dass man genau in dem Moment aus dem Spiel geworfen wurde. Denn Algorithmen trรคumen keine Trรคume von stรผrmisch durchtosten Lieben. Algorithmen kennen nur sรคuberliche Effizienz. Fรผr Menschliches ist da kein Platz. Fรผr โ€žsozialisierte KopffรผรŸertรคtigkeitenโ€œ sehr wohl. Aber auch nur, bis der Algorithmus spricht: โ€žMensch รคrgere dich nicht.โ€œ

Julia Kulewatz โ€žOrkaniden. Sturmgedichteโ€œ, kul-ja! Publishing, Erfurt 2021, 22 Euro.

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