Einen Traktat nennt Paul Sailer-Wlasits seinen Text zu einem hochaktuellen Thema. Das gleichzeitig ein uraltes ist. Es begleitet die Menschheit nämlich, seit es Kriege gibt. Denn Kriege entstehen nicht aus dem Nichts. Alle Kriege beginnen mit Lügen. Das hat eine philosophische Dimension. Aber auch eine politische und eine psychologische. Denn Machteliten haben längst gelernt, wie man die Leichtgläubigen manipulieren kann.

Der österreichische Philosoph und Politikwissenschaftler Paul Sailer-Wlasits holt weit aus, bis zu den frühen schriftlichen Quellen der Zivilisation, die natürlich auch von Kriegen erzählen. Und von den Geschichten, mit denen die Kriege anfingen. Geschichten voller Lügen über die anderen, die erst einmal in den Köpfen der Menschen zu Feinden gemacht werden mussten, damit überhaupt irgendein Grund gelegt war, warum man über die „Barbaren“, die „Wilden“, die „Ungläubigen“ herfallen sollte. Denn von Natur aus ist der Mensch ein friedliches Wesen.

Er käme gar nicht erst auf die Idee, mit Gewalt über Andere herzufallen, wenn sich die gerade Herrschenden nicht ein paar schöne Gründe dafür ausdenken würden, warum man es doch tun sollte. Es ist kein Zufall, dass auch Homers „Odyssee“ und die „Illias“ hier auftauchen, beides nicht nur die berühmtesten Dichtungen des alten Griechenlands, sondern auch Erzählungen über einen mit Tricks und Lügen herbeigeführten Krieg. Wobei Sailer-Wlasits irgendwie noch ein Hühnchen zu rupfen hat, ausgerechnet mit dem „listigen Odysseus“.

Dabei steht gerade dieser König von Ithaka für das Dilemma desjenigen, der partout nicht in den Krieg ziehen will. Am Ende muss er doch.

Die Erschaffung der Ungleichwertigkeit

Aber auch die Bibel und insbesondere das Alte Testament erzählen vom Krieg, von falschen Begründungen, Lügen und entgrenzter Brutalität gegen die zuvor für gottlos und vernichtenswert erklärten Feinde. Das Schema ist immer wieder dasselbe. Bevor die Feldherren ihre Trompeten blasen lassen, wird ein Feind erfunden. Oder ist schon da. Unterschwellig. Denn Kriege leben von der Erschaffung von Ungleichwertigkeit.

Ein Topos, den Sailer-Wlasits auch schon bei den griechischen und römischen Autoren findet. Beides Sklavenhaltergesellschaften. Und so, wie beide Völker ihre Sklaven abwerteten, zu „belebtem Stück Besitz“, so werteten sie auch die Menschen außerhalb ihres Landes ab. Die Literatur der Antike ist voller solcher Geschichten der Abwertung.

„Die kulturellen Über- und Unterordnungen spiegelten sich auch sprachlich wider, wie etwa in den Synonymisierungen von Herren und Griechen sowie Sklaven und Barbaren, mit allen Konsequenzen verbaler Herabwürdigung, Diskriminierung und Ausschließung. Seit Jahrtausenden wurde den Mechanismen und Strukturen gewaltsamer Über- und Unterordnung bestenfalls symptomatisch entgegengewirkt.“

Zwangsläufig kommt Sailer-Wlasitz dann auch auf die Geschichte des Kolonialismus zu sprechen, die ihre Triebkraft genau in dieser Abwertung der „wilden und kulturlosen Völker“ fand – mit allen dabei stattgefundenen Exzessen der Gewalt. Und berechtigterweise betont er, dass die Geschichte mit den kolonialen Befreiungsbewegungen eben nicht zu Ende ging, sondern in der modernen, versteckten Form des Neokolonialismus noch weitergeht. Der – am Beispiel Afrikas am besten zu sehen – auch mit dem modernen Rassismus Hand in Hand geht.

Wenn man den Menschen nur eintrichtert, dass die anderen allesamt minderwertig, wild, grausam, faul, rückständig wären – und was der Kategorien der Abwertung mehr sind –, dann finden sie sich nur allzu bereit, Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg für selbstverständlich zu halten.

Die Narrative der Macht

Die spannende Frage ist natürlich: Warum lassen Menschen das mit sich machen und latschen dann sogar mit Begeisterung in den Krieg?

Ein Thema, das Sailer-Wlasits kurz streift im Kapitel zur Conquista, also der Unterwerfung der amerikanischen Kulturen durch die spanischen Eroberer. Es hat mit unserem Denken über Führung und Führungspersönlichkeiten zu tun. Wem wir also Macht anvertrauen und vertrauen.

Auch das hat mit Narrativen zu tun, die man schon in den alten griechischen Mythen findet: „Darüber hinaus hielt sich, von den frühesten Epen bis in die griechische Klassik und über diese hinaus, die Auffassung, manche Menschen wären von Natur aus vorausblickender als andere und eigneten sich daher eher dazu, andere, weniger weitblickende und erfahrene, zu führen. Diese fatale Argumentationsweise ebnete letztlich den Weg vom positiven Anleiten, Lehren und Lenken zum gebietenden Anweisen, Herrschen und Beherrschen“, schreibt der Autor.

Und kommt bei der Diskussion um einen der bekanntesten Denker der Renaissance, Niccolò Macchiavelli, wieder darauf zurück. Denn der hat in seinem wirkmächtigen Buch „Il Principe“ sehr genau untersucht, wie Macht und Lüge funktionieren. Und warum Rücksichtslosigkeit und Verstellung für Machtgewinn und Machterhalt die Basis sind. Sailer-Wlasits betont dabei das empirische Vorgehen Macchiavellis. Denn natürlich beobachtete der sehr genau, wie sich die damaligen Fürsten im zerstrittenen Italien durchsetzten, ihre Macht oft und ausgiebig mit Gewalt ausbauten und ihre Untertanen belogen und einschüchterten.

Das Ergebnis wurde auch von nachfolgenden Machtbesessenen nur zu gern als Rezept verwendet – von Friedrich II. von Preußen bis zu Napoleon. Und man findet die angewendeten Regeln genauso bei Leuten wie Hitler, Stalin und Putin.

Der Opportunismus der Macht

Sailer-Wlasits: „Auf gleichsam empirischer Grundlage riet Macchiavelli daher den Fürsten zu einer Haltung der Offenheit und zu grundsätzlicher Bereitschaft, amoralische Politik zu verwirklichen, um damit die Chancen für Machtgewinn und -erhalt zu maximieren. Machthaber sollten opportunistisch sein und sich daher nur so lange wie nötig an Verträge und Versprechen halten. Wenn es dem skizzierten Typus des Fürsten nicht mehr möglich oder opportun erschiene, sich an Vereinbarungen zu halten, müsse er wissen, wie er machtpolitisch in der Welt des Bösen agiere. Dazu zählten unter anderem Lügen, Meineid, Verstellung und Betrug.“

Das gilt – wenn man den Fokus nicht weitet – bis heute für den Typus des Machtpolitikers. Und man findet genau diese Verhaltensweisen ohne Abstriche bei heutigen Diktatoren, aber auch bei erzkonservativen und populistischen Politikern.

Wäre da nicht die kleine, von konservativen Autoren gern negierte Tatsache, dass der Kern der europäischen Aufklärung die Schaffung des modernen Gesellschaftsvertrages war, auf die Ailer-Wlasits natürlich auch eingeht. Nämlich jener Konzepte von Gewaltenteilung, Grundrechten und der Souveränität des Wahlvolkes, die die Machtgelüste einzelner Individuen eingehegt haben. Nicht verunmöglicht. Das ist ja immer wieder die Tragik der Geschichte, dass die Strategien der Lüge und der Manipulation auch im demokratischen Rahmen den Weg zur Macht eröffnen können, wenn man denn nur genug Wähler mit Lügen, Halbwahrheiten und Narrativen der Überlegenheit füttert und verführt.

Was Sailer-Wlasits am Ende auch auf die unheilvolle Rolle der heutigen digitalen Medien und den Missbrauch von Algorithmen für die Meinungsmache zu sprechen kommen lässt. Er zitiert auch Hannah Arendt, die schon 1953 sehr genau benennen konnte, warum Totalitarismus so viele Leute anfixt, denn es sind Menschen, für die der Unterschied zwischen Fakt und Einbildung, zwischen richtig und falsch nicht mehr länger existiert. Genau das bezwecken Demagogen. „Die Komplexität der Welt wurde zu Phrasen reduziert und dadurch massentauglich gemacht“, schreibt Sailer-Wlasits.

Machtstreben und Patriarchat

Wenn aber die Öffentlichkeit nur noch über Phrasen diskutiert, die dann als Meinung gleichwertig mit Fakten behandelt werden, entsteht genau die Melange, die Menschen manipulierbar macht und sie den Populisten und Propagandisten alles glauben lässt. Das führt zwar schon in ein anderes Diskussionsfeld, nämlich die Gefährdung demokratischer Gesellschaften durch Lüge und Fakenews.

Aber dahinter steckt nun einmal der Drang von Personen, die glauben, Macht stünde ihnen zu. Und zwar nicht nur verbal. Denn Lüge und das Schüren von Hass auf andere, abgewertete Gruppen, drängen zur Eskalation. Wenn Menschen erst einmal in der Überzeugung leben, ihnen würde Macht vorenthalten, sind sie nur zu bereit, auch noch den nächsten Schritt zu tun, ihre Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen.

Von autoritären Regimen, die sich dann so an der Macht halten, muss man da gar nicht erst reden.

Was bei diesem Ausflug in die 3.000 Jahre alte Geschichte des Krieges deutlicher wird, ist die Tatsache, dass das alte, patriarchale Herrschaftsdenken eben noch lange nicht aus der Welt verschwunden ist und heutige Politiker nach wie vor mit dem von Macchiavelli beschriebenen Methoden nach der Macht greifen, sie zu behaupten versuchen und nur zu bereit sind, damit auch den nächsten Krieg anzuzetteln. Vorbereitet mit Narrativen der Abwertung und des Hasses. Und mit geballten Lügen.

Und so ganz nebenbei zeichnet Paul Sailer-Wlasits eben auch eine 3.000-jährige Geschichte des Krieges, der auch ebenso lange die übliche Geschichtsschreibung dominierte, geprägt vom 2.500 Jahre alten Diktum des griechischen Philosophen Heraklit von Epheso, Krieg sei der Vater aller Dinge.

Oder, genauer zitiert: „Krieg ist Vater von allen, König von allen. Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien.“ Worin schon alles steckt, das ganze auch in den Religionen verankerte Denken in Ungleichheit und Ausgrenzung.

Da ahnt man schon, wie schwer es auch in Zukunft sein wird, diese Brutalität des Machtdenkens einzuhegen und ohne Lüge und Hass ein menschenwürdiges Miteinander zu begründen.

Paul Sailer-Wlasits „Lüge, Hass, Krieg. Traktat zur Diskursgeschichte eines Paktes“, Königshausen & Neumann, Würzburg 2022, 18,00 Euro.

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