Keine Frage: Mitteldeutschland ist ein historisches Pflaster. Burgen, Dome und alte Klöster laden nicht nur zum Besuch ein, sondern regen auch die Fantasie an und werden zu Schauplätzen von historischen Romanen, die versuchen, das Leben vor Jahrhunderten zu imaginieren. Der Naumburger Dom mit seinen Stifterfiguren ist dabei besonders beliebt. Das hat auch Michael Prager gereizt. Insbesondere die Uta. Die in seiner Erzählung zur Hildegard wird.
Eine Erzählung, die sich im Grunde um die Frage dreht, welche die Historiker nur zu gern beantwortet hätten: Wer war der Naumburger Meister? Man hat zwar seine Spuren von Frankreich, wo er mit den frühen Entwicklungen der Hochgotik in Kontakt kam, über Mainz, Naumburg und Meißen nachzeichnen können. Denn seine Skulpturen sind unverwechselbar und für ihre Zeit einzigartig.
Aber es war eben auch eine Zeit, in der Künstler sich noch nicht namentlich auf ihren Kunstwerken verewigten. Ihre Werke entstanden als Teil eines Gesamtkunstwerks im Dienste Gottes. Auch wenn die Auftraggeber wohl ihre Namen kannten und ihnen auch Extra-Aufträge erteilten.
Namentlich bekannt sind meist nur die Bauherren – wie etwa Bischof Dietrich II. von Meißen, der für jenen Westchor des Naumburger Domes verantwortlich war, in dem die berühmten Stifterfiguren stehen. Sein Grabmal im Dom hat wahrscheinlich auch der Naumburger Meister gestaltet.
Wer war das reale Vorbild?
Aber wie wird dieser begnadete Bildhauer greifbar? Wie alt war er, als er in Naumburg wirkte? Wahrscheinlich nicht so jung wie der Held in Pragers Erzählung, die zuallererst eine Liebesgeschichte ist. Denn natürlich stellen die Stifterfiguren nicht ihre realen Vorbilder dar, die 200 Jahre vor dem Bau des Westchores lebten und herrschten. Der Bildhauer konnte auch auf keine Bildnisse zurückgreifen, die das Antlitz der Stifter über 200 Jahre bewahrt hätten.
Also war er gezwungen, aus seiner Fantasie zu schöpfen. Oder aus dem realen Leben. Was wohl eines der wichtigsten Arbeitsmerkmale des Naumburger Meisters war. Gerade das macht seine Arbeiten so lebensnah und lässt die Besucher des Doms noch heute ehrfürchtig hinaufschauen zu Ekkehard und Uta, Hermann und Reglindis – und viele dabei ganz bestimmt der Überzeugung, dass Uta so ausgesehen haben muss.
Aber vielleicht war sie nur eine Bürgerstochter aus Naumburg? Vielleicht sogar eine junge Frau, die sich als Prostituierte durchschlagen musste? Denn das Leben im Mittelalter war hart, der Absturz in Armut immer nahe, wenn die Eltern starben und die Verwandten nicht wirklich helfen wollten. Gar eine böse Base das hübsche Kind mit ihrem Zorn verfolgt.
Man merkt: Das Grundschema der Geschichte ist das Märchen vom Aschenputtel. Auch wenn der Prinz in dieser Geschichte der junge Bildhauer Christian ist, der in der schönen Hildegard seine junge, schöne Frau Katharina dargestellt hat.
Denn natürlich finden sie sich in dieser Geschichte – der Bildhauergeselle, der sich seinem Meister erst beweisen muss und an seinen Fähigkeiten zweifelt, und die junge Frau aus der Obhut des Naumburger Scharfrichters.
Auffällig natürlich dieses Zweifeln und Ungenügen des jungen Bildhauers. Der Held, der seinen eigenen Fähigkeiten nicht traut. Aber auch das kennt man aus der Topografie des modernen historischen Romans, mit seinen tapferen Helden aus kleinen Verhältnissen, die nur davon träumen können, die Prinzessin jemals besitzen zu können. Doch Christian bekommt seine Katharina. Und verliert sie auch wieder. Was nutzen Schönheit und Klugheit, wenn die Schönen dann doch bei der Geburt der Kinder sterben?
Ein lebendiges Bild
Dass die Geschichte natürlich vor allem Fantasie ist, betont Prager extra. Weshalb er Naumburg, die Schönburg (auf die er seinen Bischof Nikolaus im heißen Sommer ausweichen lässt), Unstrut und Saale genauso anonymisiert wie die Helden in seiner Geschichte, die in gewisser Weise auch eine Doppelgeschichte ist. Denn bevor er Katharina und Christian zueinander finden lässt, wird in der Person des Bischofs Nikolaus ja die Geschichte des realen Bischofs Engelhard erzählt, der den Bau des neuen Doms zu Naumburg begann, dessen Fertigstellung aber nicht mehr erlebte.
Ob es freilich am Hofe Engelhards tatsächlich so gesellig zuging, wie Prager es sich ausmalt? Wahrscheinlich eher nicht.
Aber man darf wohl berechtigterweise davon ausgehen, dass es für die Stifterfiguren tatsächlich sehr lebendige Vorbilder im damaligen Naumburg gab. Und Frauen wie Uta und Reglindis werden den Gesellen der Dombauhütte bei jedem Besuch auf dem Markt begegnet sein. Und vielleicht hat der damals längst schon erfahrene Naumburger Meister sich tatsächlich bei solchen Begegnungen gesagt: So soll meine Uta aussehen. So soll sie vom Pfeiler herabschauen.
Ob er dabei auch die staunende Nachwelt im Sinn hatte, weiß man nicht. Auch wenn sich die Mitglieder der Bauhütte sehr wohl dessen bewusst waren, dass sie für die Ewigkeit bauten und Bauwerk und Kunstwerke eine beeindruckende Einheit bilden sollten, die auch Platz für das Leben ließ. Wobei man auch nicht vergessen darf, dass die Stifterfiguren auch die Herrschaft aus der Zeit von 1250 würdigten, als der Naumburger Meister tätig war. Und die Veranlassung zum Bau des Westchores gab ja Heinrich III. von Meißen.
Wenn Uta wichtiger ist als der Marienaltar
Und der Meißner Dom war die nächste Station auf dem Weg des Naumburger Meisters. Er bildete hier also auch die sehr aktuelle Würdigung des erlauchten Markgrafen von Meißen ab. Aber wie es wirklich war und wie der Naumburger Meister an den Stiftergestalten arbeitete, werden wir nie erfahren. Das können sich nur Autorinnen und Autoren ausmalen, die versuchen, sich fantasievoll in diese Zeit hineinzuversetzen.
Oder eben wie Michael Prager in dem Wunsch, der Region ein kleines Denkmal zu setzen, in der er aufgewachsen ist und deren Geschichten ihn auch in Leipzig, wo er unter bürgerlichem Namen lebt, nicht loslassen. Und es stimmt ja: Allein schon die vielen Geschichten um die schöne Uta locken Jahr für Jahr Hunderttausende nach Naumburg. Und sie sind einer der Gründe dafür, warum der Streit um die Aufstellung des von Michael Triegel ergänzten Marienretabels von Lukas Cranach im Westchor des Naumburger Doms so hochgekocht ist. Man möchte ja nicht auf die freie Sicht auf Uta und Reglindis verzichten.
Michael Prager „Die den Stein zum Sprechen bringen“, EINBUCH Buch- und Literaturverlag, Leipzig 2023, 15,40 Euro.
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