Pünktlich zum Jahreswechsel lag jetzt auch das zweite „Jahrbuch für Leipziger Stadtgeschichte“ vor, bei dem der Leipziger Geschichtsverein, das Stadtgeschichtliche Museum und das Stadtarchiv seit 2021 zusammenarbeiten. Und auch dieses Jahrbuch verrät natürlich, wofür sich Leipziger Historikerinnen und Historiker gerade interessieren. Und manchmal ist es ja die Politik, die ihnen die Themen auf den Tisch packt: Jetzt forscht da mal!

So ein Thema ist die Hexenverfolgung in Leipzig – heiß diskutiert in der Ratsversammlung auch unter dem Aspekt der Sichtbarmachung. Denn auch in Leipzig gab es solche Hexenprozesse. Und die Frage stand durchaus, ob es hier um eine besondere Form des Frauenhasses in patriarchalischen Gesellschaften ging.

Hexerei und magische Alltagspraxis

Der Sache hat sich in diesem Jahrbuch die Historikerin Madeleine Apitzsch angenommen und die verfügbaren Gerichtsakten aus der Zeit zwischen 1479 und 1730 ausgewertet, der Zeitspanne, in der in Leipzig tatsächlich Hexerei- und Zaubereiprozesse nachweisbar sind. Die Sache stellt sich tatsächlich wesentlich differenzierter dar, als es in der Diskussion meist beschrieben wurde.

Auch wenn wahrscheinlich nicht alle Fälle bekannt sind, wird eine Welt sichtbar, in der nicht nur die offizielle Gesetzgebung Tatbestände von Hexerei immer detaillierter definierte, sondern alltagsmagische Praktiken, wie Madeleine Apitzsch sie nennt, noch weit verbreitet waren. Der Glaube der Menschen daran, dass Zauberei bei Krankheiten helfen kann, war genauso populär wie die Überzeugung, dass mit Hexerei auch unheilbare Erkrankungen und ein tödlicher Ausgang ausgelöst werden konnten.

Weshalb die Anklage dann eben bevorzugt Frauen traf, die sich als Heilerin betätigten – ob nun mit offiziell kurfürstlicher Genehmigung, die es auch gab, oder aber als Laien-Heilerin. Alles eine Geldfrage. Natürlich landet man in einer Zeit, in der es noch keine moderne Medizin gab und damit auch kaum Wissen über die tatsächlichen Krankheiten und ihre Ursachen.

Aber Apitzsch zeigt auch, dass die Denunziation von Personen, die der Hexerei beschuldigt wurden, oft auch in engem Zusammenhang mit Krisen- und Seuchenzeiten standen. Und neben Frauen, die schon allein ihrer Armut wegen am Rand der Gesellschaft lebten oder als Zugezogene über keine sozialen Netzwerke verfügten, traf es auch Männer und Kinder. Bekanntester Fall sind die Totengräber von Großzschocher, wobei nicht wirklich klar ist, ob die Männer nur denunziert wurden, weil Schuldige für die Seuche gesucht wurden, oder ob sie tatsächlich den Tod etlicher Menschen gezielt herbeigeführt haben, um sich zu bereichern.

Das Kriminalrecht überschneidet sich immer wieder mit dem Volks-Aberglauben und den im Mittelalter verfestigten Vorstellungen über Teufel und Hexerei.

Eine fest vergessene Revolution

Geschichte entpuppt sich immer wieder als deutlich komplexer, als es die üblichen Populär-Narrative darstellen. Bis dahin, dass eine Denunziation eben nicht immer reichte, einen Menschen auf den Scheiterhaufen zu bringen und beschuldigte Personen auch unter Folter oft nicht gestanden und damit doch noch frei kamen.

Aber gerade das ist ja der Wert dieser Beiträge, mit denen sich die Forscherinnen und Forscher mit bislang schlecht beleuchteten Kapiteln der Leipziger Stadtgeschichte beschäftigen. Manchmal taucht dabei auch eine Gestalt auf, welche die Forschung so früh noch gar nicht in Leipzig vermutet hat – wie der erste Antiquar, den Mark Lehmstedt mit Christoph Schmidt in der Grimmaischen Gasse dingfest machen kann.

Und Andreas Schneider widmet sich jener Revolution, die auch in der bisherigen Leipziger Revolutionsgeschichte kaum gewürdigt wurde, weil der Fokus fast immer nur auf den Jahren 1848, 1918 und 1989 lag. Doch auch 1830/ 1831 rebellierten die Leipziger, brodelte Sachsen, warf die Französische Revolution von 1830 ihren Schatten auch auf das stockkonservative Königreich und ein reformbewusster Minister wie Bernhard August von Lindenau trieb nicht nur die Veränderung Sachsens zur konstitutionellen Monarchie voran, sondern auch die Modernisierung der kommunalen Selbstverwaltung.

Was dann die Entstehung des ersten Leipziger Stadtverordnetenkollegiums, des Vorläufers der heutigen Ratsversammlung, zur Folge hatte. Und Andreas Schneider arbeitet sehr schön dabei heraus, dass ausgerechnet die so selbstbewusste Handelsstadt auch zum Pilotprojekt für diese Selbstverwaltung in sächsischen Kommunen gemacht wurde. Genauso wie er die noch lange geltenden Beschränkungen dieses Wahlrechts beschreibt, das noch bis 1918 den Leipziger Stadtrat zur Vertretung einer kleinen, reichen und besitzenden Elite machte.

Wie Leipzig zu Licht, Wasser und Wärme kam

Ein ebenso lange Zeit für nicht so wichtig erachtetes Thema ist die Entwicklung der Infrastruktur der Großstadt Leipzig. Denn wie finster die Stadt war, als es darin bis 1838 nicht einmal eine Gasbeleuchtung gab, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Und auch gegenüber der ein halbes Jahrhundert später eingeführten elektrischen Beleuchtung war das Gaslicht noch lange nicht sehr hell.

Und auch die Wasserversorgung und die Versorgung mit Fernwärme aus Leipzigs entstehenden Kraftwerken mussten im 19. Jahrhundert erst geschaffen werden. Garantiert gibt es da auch in Zeitungen und Büchern noch authentische Beschreibungen von Zeitzeugen, die derlei Veränderungen im Alltag als Revolution erlebten. Und als Zeichen einer geradezu rasenden Modernisierung, an die wir uns heute längst gewöhnt haben und die wir für selbstverständlich halten.

Dabei werden heute Stück um Stück erst jene gemauerten Abwasserkanäle saniert, die damals geschaffen wurden, um die Stadt von Gestank und Seuchengefahr zu befreien. Vorher muss es in der ganzen Stadt zum Himmel gestunken haben, auch wenn dann der Bau der Klärwerke noch viel später stattfand, weil man bald merkte, wie die Flüsse zu Kloaken wurden, wenn täglich der Unrat der Großstadt hineingespült wurde.

Claudia Hamberger schildert für jeden einzelnen Teil der heute wie selbstverständlichen Infrastruktur, wie dieser damals geschaffen wurde, wie das System schrittweise vergrößert wurde, je mehr die Stadt wuchs. Und wie Leipzig dabei auch eine lernende Stadt war, denn die gleichen Erfahrungen machten damals ja auch alle anderen Großstädte. Und alle mussten ganz ähnliche Lösungen für das zunehmend engere Zusammenleben in wachsenden Industriestädten finden.

Was wurde da 1965 eigentlich gefeiert?

Mit dem Medizinhistoriker Henry Ernest Sigerist und dem Galeristen Heinrich Barchfeld werden im Jahrbuch zwei historische Persönlichkeiten gewürdigt, die bislang kaum besondere Resonanz in der Leipziger Erinnerung fanden. Und auch zwei markante Themen aus der DDR-Zeiten fanden Niederschlag in diesem Jahrbuch. Das eine ist die 800-Jahr-Feier von 1965, die viele Leipziger so richtig durcheinander gebracht hat, als Leipzig dann 2015 das 1.000-Jährige feierte.

Dass daran nicht die Ersterwähnung für das Jahr 1015 schuld war, sondern der Wunsch einer Partei, Stadtjubiläen in der DDR anders zu definieren und zu feiern, erzählt Daniel Fischer in seinem Beitrag, der dann so gar nicht beiläufig erzählt, wie sich hunderte Leipziger regelrecht weigerten, die Propagandaelemente im Festzug zu tragen.

Und Gerald Kolditz widmet sich dem letztlich tragischen Schicksal von Edith Hoppensack, die 1975 nicht nur die Gewerbeerlaubnis für das Unternehmen ihres verstorbenen Vaters Willy Hoppensack verlor. Ihr wurde mit den Steuertricks eines Staates, der letztlich jede Art Privatunternehmertum in der DDR auslöschen wollte, auch das in dem Unternehmen in der Hainstraße angesammelte Vermögen an Edelmetallen „weggesteuert“, sodass die längst alkoholabhängige Frau diesem Staat, der ihr alles genommen hat, am Ende auch noch Millionen Mark schuldete.

Das Titelbild zeigt den am Ende zwar viel teurer gewordenen Festumzug zum 800. Jahrestag von Stadtrecht und Messe. Was er nicht zeigt, sind all die Dinge, die dann doch nicht so liefen wie geplant. Die aber davon erzählen, dass Menschen sich nicht immer planen und einordnen lassen. Es sind Menschen, die in der Geschichte für Überraschungen sorgen, die wertvolle Ratsschränke bauen (die 500 Jahre später aufwendig restauriert werden müssen), einen florierenden Welthandel mit Pelzen aufbauen wie am Leipziger Brühl, die aber auch fleißig die Dokumente ihrer siegreichen Parteiarbeit sammeln, die nun im Sächsischen Staatsarchiv davon erzählen, wie der Sozialismus sich in Leipzig zu Ende siegte.

Mit den 2021 verstorbenen Gerald Wiemers und Thomas Topfstedt werden zwei prägende Leipziger Forscher gewürdigt. Wer die Jahrbücher zu sammeln beginnt, bekommt nicht nur eine Lesefrucht fürs Jahr, sondern eine Sammlung historischer Ausflüge, die Dinge aus der Leipziger Geschichte zeigen, die so bislang noch nicht Thema der großen Stadtgeschichte waren. Mit weiteren Überraschungen ist gewiss zu rechnen.

Markus Cottin, Uwe John (Hrsg.) „Jahrbuch für Leipziger Stadtgeschichte, 2/2022, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2022, 30 Euro.

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