Es ist mutig, was der Leipziger Florian Lennert hier gewagt hat: Mit gerade einmal 20 Jahren die eigene Biografie zu veröffentlichen. Ungeschönt, mitten im Galopp des Lebens. Denn mit 20 ist man ja noch nicht berühmt, hat kein Lebenswerk geschaffen und so wirklich viel von großer Geschichte auch noch nicht miterlebt. Obwohl das Schöne daran ist: Für das große Geschichtstheater interessiert sich der Autor nicht die Bohne.
Aber zur Wahrheit gehört auch, dass man gar keine Person der Geschichte sein muss, um etwas erzählen zu können. Meist ist es sogar vorteilhaft, dass man es nicht ist. Denn „historische Ereignisse“ sind trügerisch. Viele Ereignisse, die von großmäuligen Kommentatoren dazu erklärt werden, sind es gar nicht. Sie möchten zwar gern durch dicke Ausrufezeichen bestimmen, was als wichtig zu gelten hat.
Aber für die meisten Menschen sind all die „großen Ereignisse“ nicht wichtig, spielen gar keine Rolle in ihrem täglichen Leben. Das ist nämlich vollgepackt mit Dingen, die sich ereignen und die einen aufregen, umwerfen, herausfordern. Aber kaum einer erzählt davon, weil es scheinbar nicht wichtig ist.
Das eigentliche Leben
Aber genau das ist unser Leben – die Freundschaften im Kindergarten, der erste Schultag, die ersten Klassenausflüge, die ersten richtigen Freunde und die mobbenden Kinder auf dem Hof, die ersten Liebeserfahrungen, das Kennenlernen der eigenen Geschwister und damit der Lebensgeschichte von Vater und Mutter.
Von all den Dingen erzählt Florian Lennert in seinem Buch tagebuchartig. Natürlich hat er noch nicht wirklich eine richtige Autobiografie geschrieben. Aber auch die Aufzeichnung der erinnernswerten Ereignisse aus Kindheit und Jugend ergibt eine Biografie. Eine eigenwillige, weil sie natürlich auch zeigt, was der Autor für wichtig hielt.
Manchmal erzählt er an mehreren Tagen kompakt hintereinander – etwa bei besonders aufregenden Ausflügen. Manchmal springt er auch durch die Monate und hält nur die Zäsuren in seinem Leben fest – etwa die vielen Schulwechsel, die der Junge aus Paunsdorf miterlebt hat.
Was ja auch immer wieder neue Bekanntschaften bedeutet, aber auch oft den Verlust geliebter Lehrerinnen und vertrauter Freunde und Betreuungspersonen. Denn wenn man auf so viele Menschen in seinem Umfeld angewiesen ist, dann lernt man echtes Vertrauen wertzuschätzen – und erlebt den Verlust von Beziehungen umso schmerzlicher.
Dabei liegen Vertrauen und Verrat oft dicht beieinander. Unverblümt erzählt Florian Lennert auch die Abenteuer, die andere Leute ganz bestimmt verbergen würden in ihren Lebensläufen. Wer gibt schon die Schwäche gern zu, dass er sich übers Ohr hat hauen lassen, sich „verarschen“ ließ – sei es von Kumpels, die einen zum Ladendiebstahl überredet haben, von Internet-Bekanntschaften oder den Mädchen aus der eigenen Klasse, die schon genau wissen, wie man schüchterne Jungs zum Parieren bringt?
Junge auf Abwegen
Doch Florian Lennert lamentiert nicht, fängt auch keine grüblerischen Erklärungen an. Es ist ihm passiert. Und er erzählt es so nüchtern und sachlich, wie er von gelungenen Geburtstagsfeiern, Besuchen bei der Oma oder den durchaus schwierigen Versuchen seiner Eltern erzählt, beruflich (wieder) auf die Beine zu kommen. So ganz beiläufig wird eine Welt sichtbar, die für gewöhnlich in Biografien anderer Leute nicht vorkommt, weil sie das Aufwachsen in den eher prekären Milieus von Paunsdorf, Gohlis oder Möckern nicht kennen. Nie kennengelernt haben.
Man ahnt nur bei einigen Ereignissen, wie Florians Mutter am Rand der Verzweiflung gewesen sein muss, wenn der Junge mal wieder von den Nachbarskindern gemobbt wurde, sich zu Streichen überreden ließ oder einfach abhandenkam, weil ihn irgendetwas schrecklich langweilte.
Oder wenn er sich – von seinen Gefühlen überrannt – in seinem Zimmer einschloss und Tage brauchte, um sich emotional wieder einzupegeln. Was ja viele Kinder und Jugendliche kennen. Nur steckt man ja meistens so tief in diesen fiesen Gefühlen, dass man oft gar nicht sagen kann, was sie ausgelöst hat und was sie mit einem machen.
Florian Lennert protokolliert diese Ereignisse einfach. Ganz so, als schaute er manchmal sich selbst zu bei all den Ereignissen. Was ja auch anderen oft so geht, gerade dann, wenn die Geschehnisse wirklich die heftigsten Gefühle aufregen – wie der Tod der Tante, die einsam in ihrer Wohnung gestorben ist, der unverhoffte Krankenhausaufenthalt der Mutter oder die familiären Konflikte.
Vorsicht, turbulente Ereignisse!
Gerade weil sich die Tagebucheinträge wie Protokollnotizen lesen, wird einem oft erst hinterher klar, was da eigentlich passiert ist. Und gerade weil Florian Lennert auf allen emotionalen Schmus verzichtet, treten die Ereignisse in ihrer elementaren Wucht zutage. So ist das Leben. Das ganz gewöhnliche Leben, das uns passiert, ohne dass irgendwo eine Warninschrift angeht: Vorsicht, turbulente Ereignisse! Manchmal müssen wir einfach nur geduldig aushalten, bis alles überstanden ist. Oder lernen zu sagen, was uns gefällt oder ängstigt.
Auch wenn das ein manchmal schwieriger Lernprozess ist. Denn gerade, wenn es – wie mit Cathleen – ernsthafter wird mit den Gefühlen, kommt auf einmal das ganze Dickicht der Erwartungen, das mit Worten wie Liebe und Beziehung lauter Komplikationen und Missverständnisse bereithält. Auch das ein Grund dafür, warum Florian Lennerts „Biografie“ einfach so endet. Mittendrin, ohne dass „Weltbewegendes“ passiert wäre.
Nur eine Kindheit und Jugend voller Ereignisse, die gerade in ihrer nüchternen Schilderung ihren Glanz bewahren. Im Erwachsenenleben vergisst man ja oft, wie eindrucksvoll das alles mal war und wie wichtig uns die Menschen einmal waren, die in den Phasen unseres Aufwachsens unseren kleinen Kosmos bildeten.
Menschen, die wir dann oft genug verloren haben, entweder, weil wir mal wieder die Schule wechselten oder sie wegzogen. Oder weil sie einfach starben und ganz und gar verschwanden aus unserem Leben. Da fehlen dann auch dem Tagebuchschreiber die Worte. Was kann man da überhaupt schreiben zu dem Tag, als die Mutter beerdigt wird? „Heute war die Beerdigung und wir alle waren wirklich traurig.“
Da steckt eigentlich schon alles drin.
Menschliche Komplikationen
Genauso wie in der scheinbar willkürlichen Platzierung dieses Eintrags nach Ereignissen, die erst zwei, drei Monate später passierten. Manchmal kann man das eigentlich Beklemmende erst später hinschreiben. Kurz und knapp. Lieber nur als kurze Notiz in ganz anderen Erlebnissen, mit denen man sich ablenkt. Das Leben geht weiter.
Man begeht neue Fehler, tappt in neue Fettnäpfchen. Manchmal fallen einem Dinge, die andere schon immer beherrscht haben, ungemein schwer. Gerade wenn man wie Florian Lennert alles mit mehr Aufmerksamkeit und Distanz betrachtet.
Es wäre so schön, wenn der Umgang mit anderen Menschen einfach wie selbstverständlich wäre. Aber da ist Florian Lennert bestimmt nicht der Einzige, der weiß, dass daran eigentlich nichts Selbstverständliches ist. Auch nicht von der anderen Seite, denn oft sind es auch Andere, die sich falsch verhalten oder alles missverstehen. Oder missverstehen wollen.
Die Dramen finden in der Regel stets in der Nachbarschaft und der Familie statt. Unverhofft, weil eine ganze Menge Leute mit ihren Gefühlen im Clinch liegen. Manche wissen es nicht einmal und würden es auch nie zugeben. Und auch weil die vielen freundlichen Betreuer und Helfer nicht genügen, die Dinge immer gut werden zu lassen.
Aber darum geht es Florian Lennert auch nicht. Ihm ist eher wichtig zu zeigen, dass er sich trotzdem nicht hat unterkriegen lassen. Warum auch? Nur weil andere Leute ihre unhinterfragten Erwartungen haben und sich auch so benehmen? Man lernt auch andere Menschen kennen auf seiner Lebensreise, erlebt verzwickte Ereignisse und muss trotzdem lernen, eins nach dem anderen irgendwie zu meistern. Und sich von keinem unterbuttern zu lassen.
Was eigentlich auch eine Botschaft für jede Menge anderer Menschen wäre, die aber meist keine Bücher lesen und meist nicht die Geduld haben, ihr eigenes Leben als Abenteuer zu verstehen, das man bis hierhin jedenfalls ganz gut gemeistert hat. Was da noch kommt, weiß ja keiner.
Florian Lennert „Biographie“, Verlagshaus Schlosser, Pliening 2022, 22,90 Euro.
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