Manche Menschen wissen gar nicht, wie wertvoll ihre Erinnerungen sind. Andere werden noch rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht: Schreibt das auf, Leute! Wenn ihr nicht mehr da seid, ist all dieses Wissen verloren. Und selbst wenn es nur das Wissen eines Petrijüngers ist, der erzählen kann, wie das einst war mit dem Angeln an sächsischen Gewässern. Vorher und nachher, könnte man sagen.
Denn als Junge erlebte der heute 87-jährige Eberhard Diesner in Pegau noch eine Zeit, in der die Gewässer um Leipzig noch reich an Fischen und kaum belastet waren von den Schadstoffen aus der mitteldeutschen Kohle- und Chemieindustrie. Das änderte sich erst nach dem Krieg zusehends, als die Fabriken wieder hochgefahren wurden, um die darniederliegende Volkswirtschaft wieder auf die Beine zu bekommen, die Anlagen für die Reinigung der Abwässer aber zunehmend auf Verschleiß gefahren wurden.
Anfangs mit der Hoffnung, bald komplett auf das billige russische Erdöl umsteigen zu können. Eine Hoffnung, die sich dann in den 1970er Jahren gründlich zerschlug, als die Sowjetunion ihr Öl lieber zu Weltmarktpreisen verkaufte, welche die klamme DDR nicht bezahlen konnte.
Praktisch über Nacht wurden die ganzen Milliardeninvestitionen in die neue Erdölwirtschaft wertlos und der Kohleabbau wurde wieder forciert. Das bedeutete nicht nur die Umverlegung ganzer Flüsse und die Zerstörung wertvoller Auenlandschaften. Das bedeutete auch in den meisten Fließgewässern der Region, dass die Jagd nach leckeren Flussfischen ein Ende hatte. Es sei denn, man liebte den heftigen Phenolgeschmack. Was wohl die allerwenigsten taten.
Ein kleines Anglerparadies
Aber trotzdem war die DDR natürlich kein Land ohne Angler. Im Gegenteil: Sie taten sich – nach sächsischem Vorbild – schon früh zusammen in einem Anglerverband, der seinen Mitgliedern etwas verschaffte, worum sie von westdeutschen Anglern bis heute beneidet werden: das Recht, in sämtlichen Gewässern des Anglerverbandes angeln zu dürfen. Eine Freizügigkeit, die auch Diesner schon früh genoss, sodass er von einigen aufregenden Angelausflügen weit über die Region Leipzig hinaus erzählen kann.
Denn natürlich ließen sich auch Angler aus dem Anglerverein „Leipziger Wollkämmerei“, der 1963 gegründet wurde, von den Erzählungen über erstaunlich reiche Fischreviere anderswo verlocken. Einige dieser verheißungsvollen Reviere entstanden justament dort, wo die DDR-Wirtschaft massiv in den Gewässerhaushalt eingriff und künstliche Fischparadiese schuf, wie in Ziegenrück oder im Speicherbecken Witznitz.
Oft völlig ungeplant, sodass der erfahrene Angler auch einige Seiten darauf verwenden kann und darf, die möglichen Erklärungen für den zeitweiligen Fischreichtum zu suchen. Mit richtigem „Anglerlatein“ verschont Diesner seine Leser. Auch wenn er gern von einigen seiner schönsten Fänge berichtet.
Doch ihn interessiert selbst im hohen Alter noch viel zu sehr, wie Fischpopulationen entstehen, wie natürliche Kreisläufe funktionieren und was eigentlich Anglerverbände dafür tun können, dass Fischbestände sich stabilisieren und damit auch kommenden Anglergenerationen die Freude am Angelauswerfen erhalten.
Verlorene Paradiese
Dass es da in DDR-Zeiten zu einigen Unwuchten kam, lag auch an dem Versuch, die Binnenfischerei zu stärken, nachdem die Fangerfolge der DDR-Fischereiflotte drastisch zurückgegangen waren. So kam nach Sturmschäden an den Anlagen in den neu entstandenen Stauseen so mancher Fischreichtum ins freie Wasser, der eigentlich für den Weihnachtsverkauf gedacht war. Ergebnis: ein Massenangeln zum Beispiel auch am Kulkwitzer See. Aber auch das Ausbringen eines asiatischen Raubfisches im Stausee Witznitz konnte noch Jahre später dafür sorgen, dass die Fischpopulation zusammenbrach und Diesner selbst mit intensiver Recherche bei Anglerfreunden nicht wirklich herausbekommen kann, wer für diesen Unfug eigentlich den Hut aufhatte.
Und während er zu Beginn seiner Erinnerungen schildern kann, wie er mehr oder weniger freundlich dazu gebracht wurde, vom Schwarzangler zum regulären Mitglied im Anglerverein zu werden, und die neuen Verbandsstrukturen nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, ist das Finale seiner Erinnerungen auch der Abschied von dem Verein, dem er jahrelang als Vorsitzender vorstand. Und gleichzeitig die Erzählung von echten Kämpfen zwischen zwei konkurrierenden Verbandsstrukturen nach 1990, die bis 2009 anhielten – kaum wahrgenommen von der Öffentlichkeit.
Ein Thema, das die neugierigen Zuschauer am Ufer, die die Männer und Frauen da still bei ihren Angeln hocken sehen, natürlich auch weit weniger interessiert, als was die Angelfreunde da tatsächlich an den Haken bekommen, ob es sich überhaupt lohnt und wo der Fisch am Ende landet? Alles so neugierige Laienfragen, die so manchen Angler auf die Palme bringen können.
Verschwundener Reichtum
Aber wer weiß besser als die Petrijünger, ob Fisch, Teich und See im Gleichgewicht sind, Raub- und Friedfische sich darin wohlfühlen und der Fang auch essbar ist? Denn ganz in Ordnung sind ja die Gewässer rund um Leipzig noch lange nicht. Die Flüsse sind noch immer belastet, wenn auch längst nicht mehr die stinkende Phenolbrühe, die zum Ende der DDR das Angeln praktisch unsinnig gemacht hat. Wie dann auch noch ungeklärte Haushaltsabwässer einige Flüsschen regelrecht abtöteten, auch davon berichtet Diesner. Denn das bedeutete auch für ihn und seine Anglerfreunde, dass wieder ein reiches Fisch-Eldorado verschwand.
Und dass er selbst als Grenzsoldat losziehen durfte, um die Mannschaftsküche mit selbst gefangenem Fisch zu versorgen, dürfte so wohl auch nur in den 1950er Jahren möglich gewesen sein. Aber auch so werden seine Erinnerungen zu einem Stück DDR-Wirklichkeit – das kleine, auf dem Zahnfleisch krauchende Land aus der Perspektive des leidenschaftlichen Anglers betrachtet, der möglichst vermeidet, seine Leser inflationär mit Fachtermini zu verprellen und stattdessen lieber vom eigenen Erleben erzählt. Auch von Begegnungen mit dem allgegenwärtigen Geheimdienst und einem betrunkenen Kontrolleur, der den Anglern am „Bagger“ das Nachtangeln vermiesen wollte.
So nebenbei erfährt man auch, wie sich die Angler in der Mangelwirtschaft der DDR gegenseitig halfen und wie sie mit List an die nötige Ausrüstung kamen. Und wie die geangelten Prachtexemplare auch wieder zur gängigen Währung unter Freunden und Kollegen wurden. Was eben nicht bedeutet, dass nach 1990 alles besser wurde. Da waren dann andere Kämpfe auszutragen und auf andere Weise zu erleben, dass – nach Bibel und Puhdys – „ein Jegliches seine Zeit hat“.
Spätestens nach dem 50-jährigen Vereinsjubiläum und der Auflösung des Vereins war es Zeit für die kleine Mahnung von Birgit Holzmann, der „Seele“ der AVL-Geschäftsstelle, Diesner möge nicht immer nur plaudern über seine Zeit als Angler, sondern alles mal aufschreiben, sonst gehe das für die Leser der Zukunft verloren. Also alles raus aus der Schublade, mit 60 Fotos bebildert und gedruckt. Sodass jetzt eine sehr persönliche Erinnerung an die zurückliegenden „75 Jahre im Banne der Fischwaid“ vorliegen.
Und wer sie ergänzen mag, kann die Dauerausstellung des Anglerverbandes Leipzig „Leipziger Fischwelt“ in Engelsdorf besuchen, wo auch so Manches aus dem Fundus von Eberhard Diesner ausgestellt ist – zum Schmunzeln möglicherweise für jüngere Angelfreunde, die ihre Profi-Ausrüstung heute problemlos im Fachgeschäft kaufen können und nie bei „Waffen-Moritz“ in Leipzig monatelang auf heiße Bückware warten mussten, weil auch der Anglerbedarf in der DDR zur Mangelware gehörte.
Eberhard Diesner 75 Jahre im Banne der Fischwaid“, Pro Leipzig, Leipzig 2022, 17 Euro.
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